Einen Apfel reichte Eva ihrem Adam im Paradiese. Gepflückt hatte sie ihn vom Baum der Erkenntnis, obgleich sie ernstlich davor gewarnt worden war. Doch eine Schlange umschlängelte die Äste des Erkenntnisbaumes und pries seine Früchte als köstlich und unwiderstehlich an. Und so kam es, daß Eva nicht widerstehen konnte. Doch biß sie nicht selbst hinein, vielmehr gab sie ihn dem Gemahl, auf daß er koste.

Soweit die Geschichte, wie sie jeder kennt. Was folgte ist bekannt: eine zornige Stimme donnerte vom Himmel auf Adam und Eva hernieder, ein Engel mit Feuerschwert vertrieb sie aus dem Paradies, und fortan mußten sie im Schweiße ihres Angesichtes für ihr tägliches Brot sorgen. Von einem Apfel ist nicht mehr die Rede.

Wie aber erging es wohl der Frucht vom Baum der Erkenntnis?

 

Liebe Märchenfreunde, dieser Frage wollen wir nun auf den Grund gehen.

Rot soll sie gewesen sein und saftig, verführerisch duftend auch. So berichtet uns das Buch der Bücher, ohne jedoch auch nur einmal den Namen der Frucht zu benennen.

Ein knorriger alter Apfelbaum jedoch, den ich mein Leben lang kannte, wie meine Mutter und Großmutter vor mir schon, der erzählte mir eine Geschichte: ich lag an einem heißen Sommerabend in seinem Schatten und betrachtete die grünen Äpfelchen in seinen Zweigen, die schon rote Bäckchen bekamen, da fing er an zu sprechen.

„Meine Zeit ist vergangen. Dies wird wohl mein letzter Herbst sein, und ein langer dunkler Winter wird folgen. Hüte meine Früchte und höre mir zu:

vor langer langer Zeit, als die Erde noch nicht in gut und böse geteilt war, da wuchs an einem Orte, den heute niemand mehr kennt, mein Urahn. Viel hatte er gesehen, denn in jenen Zeiten ordnete sich gerade die Welt. Seine Geschichte wird seither in allen Generationen von Apfelbäumen weiterberichtet, ein jeder Apfelbaum erzählt ihn weiter, wenn es ans Sterben geht. Wer hören kann und hören will, dem ist diese Geschichte gewidmet.

Der uralte Apfelbaum an jenem unbekannten Ort trug keine Äpfel so wie ich, sußsauer, saftig und duftend. Kleine holzige Früchtchen brachten seine Zweige hervor, von herbem Geschmack und einem Duft wie frisch gebrochenes Holz. Aber groß war er. Gewaltig groß und überspannte ein ordentliches Stück Paradies - denn so ward der Ort geheißen, an dem er wuchs. Dennoch war er nicht allein im Garten Eden, wie das Paradies mit zweitem Namen hieß.

In jenem Garten wuchsen fröhlich bunte Blumen, betörend duftende Sträucher und allerlei wohlschmeckendes Gemüse. Eine Pflanze war darunter, die kroch am Boden entlang wie jene Schlange. Schmutzig wurde sie dabei, und ihre Blätter und Früchte faulten. Das sah ich wohl und sprach zu ihr: ‘richte dich auf und halte dich an mir, so will ich dir gerne helfen.’ Die Pflanze freute sich darüber so, daß ihre Früchte ganz rot wurden, und reckte ihre Ranken empor. Den schrundigen Baumstamm entlang rankte sie fortan nach oben, ergründete mit ihren Trieben meine Äste und Zweige, bis sie durch das dichte Blätterkleid ans Licht stieß. Dort ließ sie ihre roten Früchte leuchten und locken, so daß die meine eigenen unscheinbar grüngelben Früchte daneben blaß erschienen. Die Sonne beschien sie beide, und mir machte es nichts aus.“

So kam es, daß am Baum der Erkenntnis an jenem verhängnisvollen Tage die roten Früchte des Paradiesapfels lockten, als Eva ihrem Zauber erlag.

Wir, liebe Märchenfreunde, wir wissen nun, was der wahre Paradiesapfel gewesen ist: kein Apfel, nein. Der wurde ja erst viel später erfunden. Eine rote Frucht mit fester Haut, darunter weiches saftiges Fruchtfleisch, mit einem Duft, dem niemand widerstehen kann - was mag das wohl sein?

Nun, ihr werdet es niemals erraten! In eurer Welt nämlich tauchte diese Frucht erst vor vier Jahrhunderten auf. Sie kam gemeinsam mit der Kartoffel, wurde bei den Azteken tomatl genannt und war lange Zeit als giftige Frucht, die einen Liebeswahn erzeugt, verschrien. Ahnt ihr es? Der Liebesapfel, der Paradiesapfel oder Paradeiser ist kein anderer als die Tomate!

Doch habt ihr auch vernommen, daß die verführerische Tomate dem uralten Apfelbaum nicht böse wollte, nicht mit böser Absicht die Rolle der berühmtesten Frucht der Welt abjagte. Vielmehr musste es wohl ein Irrtum von Eva gewesen sein.

Apfel und Tomate vertrugen sich auch fortan und lebten friedlich miteinander. Trifft man sie auch selten gemeinsam auf einem Teller an, so sind doch beide - ein jedes auf seine Weise - uns Menschen über all die Jahre wohlgesonnen geblieben und erfreuen uns mit Geschmack, Duft und Gesundheit.

Das, liebe Märchenfreunde, ist die Geschichte, die der alte Apfelbaum mir an einem Sommerabend erzählte. Ob sie wohl wahr ist? Als der Herbst vorüber war und der Winter mit viel Schnee kam, da brach er eines Morgens zusammen, und bis das Frühjahr kam, war unter dem schmelzenden Schneemantel nichts mehr zu sehen als totes Holz.

Marieta Hiller, 2011