Meist sind sie golden, die Äpfel in unseren Märchen. Sie zu gewinnen, verspricht viel: ewiges Leben oder wenigstens Glück, eine wunderschöne Jungfrau oder auch immer genug zu essen. Doch sie zu finden ist schwer. Gläserne Berge, tiefe Abgründe, hinterlistige Stiefmütter und der Schwierigkeiten mehr legen die Märchen dem Suchenden in den Weg.

Iduna, eine Göttin der nordischen Sage, überreichte dem Göttergeschlecht der Asen goldene Äpfel, die jenen ewige Jugend verliehen. Die Hesperiden aus der griechischen Mythologie ließen sich ihre goldenen Äpfel von Herakles stehlen, doch Athene war so freundlich, die ewiges Leben verheißenden Früchte zurückzuholen.

Lang ist der Weg und schwer, goldene Äpfel zu gewinnen und zu behalten. Doch im Märchen gelingt es dem Jüngling, der reinen Herzens ist, schließlich, die Äpfel und damit alles, was er sich ersehnt zu bekommen.

Im wirklichen Leben ist der Weg zwischen Wunsch und Erfüllung weiter: „Wer den Baum gepflanzt hat, genießt selten seine Frucht“ sagt ein altes Sprichwort.

Aber der Weg könnte sich lohnen: so sagte schon Martin Luther, der selten ein Blatt vor den Mund nahm „Wenn ich wüsste, dass morgen der Jüngste Tag wäre, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Das sieht ihm ähnlich: während alle Welt sich die Haare rauft ob des nahen Weltendes, denkt Luther an Äpfel... Zugute zu halten ist ihm, daß er damit nicht aufs Apfelessen abzielte, sondern darauf, daß es immer Hoffnung gibt. Ob aber die Kirche zu jener Zeit froh darüber war, daß jemand über den Jüngsten Tag hinausdenken wollte?

Der Apfel ist Sinnbild für Leben, aber auch für Tod, und wiederum für Leben aus dem Tode. Das gilt für Märchen, Mythen und Sagen gleichermaßen. Schneewittchen, das arme Kind, mußte dies erfahren. Die böse Stiefmutter und der vergiftete Apfel, das Stolpern der trauernden Zwerge, durch das Schneewittchen wieder zum Leben erweckt wurde, der Märchenprinz, der sie sofort aus dem Glassarg weg heiratet - und alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende...

Kaum zu glauben, wie eine Stiefmutter etwas so Niederträchtiges im Schilde führen konnte: nicht nur die Ermordung der tausendmal Schöneren hinter den Sieben Bergen, nein auch noch einen Apfel zu vergiften und die ruchlose Tat mit seiner Hilfe zu begehen - das können Apfelfreunde nicht begreifen. Während mich die Schneewittchengeschichte als Kind stark beschäftigte, gerade auch wegen des Apfels, gefällt mir heute vor allem der tatsächliche Hintergrund der Geschichte: denn das Mädchen, das auf hochdeutsch Schneeweißchen hieß, war eine Kurhessen-Waldecksche Grafentochter. Hinter sieben Bergen bei den sieben Zwergen lebte sie, und das ist in Brabant in Belgien. Die Zwerge, das waren Bergleute. Denn die lebenslange Arbeit in der Dunkelheit bei schlechtem Essen machte die Bergleute im Laufe von Generationen immer kleiner, so daß sie schließlich wie Zwerge ausgesehen haben müssen. Und tatsächlich berichtet die Chronik aus dem Kellerwald, daß es in dem Örtchen Bergfreiheit zur Zeit des 30jährigen Krieges nur noch zwei Schichten Bergmänner gab - nämlich 14 Mann, und ein Weibsbild! Und tatsächlich auch lebten die Bergleute oft von ihren Familien getrennt gemeinsam in kleinen Häuschen, mit sieben Bettchen, sieben Becherchen, sieben Tellerchen...

Schneewittchen aber, das war keine andere als Margarethe, die Tochter des Grafen Philipp IV. von Wildungen. Sie wurde nur 21 Jahre alt, und wurde aus politischen Gründen ins Belgische verbannt. Nur über den vergifteten Apfel wissen die Chroniken nichts...

Und ein weiterer berühmter Apfel weiß uns einiges zu berichten: über den Gesslerhut nämlich, den der Schweizer Freiheitskämpfer Wilhelm Tell nicht grüßen wollte. Ein Hut auf einem Pfahl, so etwas grüßt ein aufrechter Schweizer nicht. Da müßte schon Gessler persönlich dort stehen. Hermann Gessler, der Reichsvogt in Schwyz und Uri aus der Zeit um 1300, forderte doch tatsächlich von seinen Untertanen, daß sein Hut bei jedem Vorbeigehen zu grüßen sei.

Es kam wie es kommen mußte: Tell weigerte sich, Gessler zog ihn zur Verantwortung. Und jetzt kommt der berühmte Apfel ins Spiel. In seinem Hang zu Grausamkeiten forderte der Vogt, daß Wilhelm vom Haupte seines Sohnes einen Apfel zu schießen habe, und zwar mit der Armbrust. Aber Sohn und Vater - und sicher auch der Apfel - waren voller Zuversicht, und so ging die Sache gut aus für beide, nicht aber für den Apfel. Auch nicht für den Vogt: ein zweiter Pfeil, den Wilhelm bereit hielt, sei für ihn bestimmt gewesen, hätte er seinen eigenen Sohn mit dem ersten durchbohrt. Das wagte der Armbrustschütze dem Gessler ins Gesicht zu sagen. Es folgte die Abführung, doch auf dem Schiff konnte Wilhelm Tell die Armbrust spannen und den wohlverdienten zweiten Pfeil in des Landvogts Brust schießen. Tja, auch wahre Begebenheiten gehen manchmal gut aus, doch was der Apfel darüber denkt, das werden wir nicht erfahren.

Marieta Hiller, 2011