Netzwerk Vielfalt Lautertal Hechlergasse 1 64686 Lautertal

Offener Brief

An die

Gemeindevertretung Lautertal
Herrn Dr. Günter Haas, Vorsitzender
Nibelungenstr. 280
64686 Lautertal

Lautertal, 10.03.2020

Hessisches Plädoyer für ein solidarisches Zusammenleben

Sehr geehrter Herr Gemeindevertretervorsitzender Dr. Haas, sehr geehrte Mitglieder der Gemeindevertretung Lautertal,

mit Irritation hat der Vorstand des Netzwerk Vielfalt Lautertal e.V. die ablehnende Haltung der Lautertaler Gemeindevertretung zum sog. „Hessischen Plädoyer“ wahrgenommen.
Irritierend empfinden wir insbesondere drei im Bergsträßer Anzeiger vom 13.02.2020 zitierte Aussagen von Herrn Dr. Haas, zu denen wir als zivilgesellschaftlicher Verein selbst Stellung beziehen wollen.

Aussage 1: Rassismus sei ein politischer Kampfbegriff

Diese Aussage impliziert, Rassismus sei kein reales Phänomen. Die hessische Kriminalstatistik oder Veröffentlichungen der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt beweisen das Gegenteil. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten oder der Terroranschlag in Hanau sind in der Öffentlichkeit sicher noch sehr präsent. Am 18.02.2020 vermeldete das Hessische Innenministerium einen Anstieg rechtsextremer Straftaten in Hessen in 2019 um 52%. Bei antisemitischen Straftaten liegt die Steigerungsquote 2019 bei erschreckenden 56%. Welche Wirkung wird die Aussage, Rassismus sei ein politischer Kampfbegriff, bei den Opfern rassistischer Gewalt haben?

Aussage 2: Im Lautertal gäbe es keinen Rassismus

Glücklicherweise mussten wir in den letzten Jahren im Lautertal keine rassistisch motivierten Gewalttaten erleben. Rassismus gibt es jedoch leider im Lautertal ebenso wie in allen anderen Regionen und Gemeinden in Hessen (und darüber hinaus). Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer erleben selbst regelmäßig rassistische Vorurteile bei der Unterstützung geflüchteter Menschen. Bei der Jobsuche oder Wohnungssuche sind sie spürbar. Auch im normalen Alltagsleben beim Einkauf oder in der Schule. Uns sind eine Vielzahl von Beispielen bekannt, in denen Menschen im Lautertal von Rassismus betroffen sind.

Aussage 3: Es gäbe keine Verantwortung der heutigen Generation für die Untaten ihrer Vorväter

Dieser Satz wird im „juristischen“ Sinn zitiert. Sich einem Plädoyer über das solidarische Zusammenleben in unserer Gesellschaft anzuschließen, ist jedoch keine juristische Frage, sondern eine politische Haltung. Eine politische Verantwortung besteht selbstverständlich für unsere Generation und für alle folgenden. Verantwortungsübernahme bedeutet, im Wissen um die historisch singulären Verbrechen die Zukunft zu gestalten. Ganz im Sinne der Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten "Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird." (aus der Rede Weizäckers zum 08. Mai 1985). In der Bundesrepublik bestand immer ein demokratisches Einvernehmen darüber, dass menschenverachtende Ideologien keinen gesellschaftlichen Raum erhalten dürfen. Der Raison „Wehret den Anfängen!“ ordnete sich das gesamte demokratische Spektrum in der BRD zu. NPD, Wehrsportgruppe Hoffmann, NSU, Beteiligung von staatlichen Stellen, „erinnerungspolitische Wende um 180°“, „Mahnmal der Schande“, ein ermordeter Politiker, rassistische Terroranschläge - leider müssen wir heute konstatieren: Wir sind weit über die Anfänge hinaus.

Unter dem Dach des Netzwerk Vielfalt e.V. setzen sich Bürgerinnen und Bürger aus dem Lautertal seit 2015 in der Gemeinde ehrenamtlich für Integration, Vielfalt und Toleranz im gemeindlichen Zusammenleben ein. Das Netzwerk Vielfalt e.V. unterstützt ausdrücklich dass „Hessische Plädoyer für ein solidarisches Zusammenleben“.

Wir begrüßen, dass sich die Gemeindevertretung in einem eigenen Text von Hass und Gewalt in der Gesellschaft distanziert. Gleichermaßen haben wir kein Verständnis für die Ablehnung des „Hessischen Plädoyers“, das deutlich breiter verfasst ist. Lautertal hat sich durch die ablehnende Haltung aus der Gemeinschaft der hessischen Städte und Gemeinden und eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses aus Menschrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Universitäten und vielen anderen verabschiedet. Dieses Ausscheren aus der Gemeinschaft zeugt nicht von solidarischem, gemeinschaftlichem Handeln.

Der Vorstand des Netzwerks Vielfalt e.V. appelliert daher an die Gemeindevertretung Lautertal und insbesondere an die Koalitionsfraktionen aus LBL und CDU, die nächste Sitzung der Gemeindevertretung dazu zu nutzen, sich dem hessischen Plädoyer doch noch anzuschließen.

Mit freundlichen Grüßen

Netzwerk Vielfalt e.V. Lautertaler Hilfe für Geflüchtete
Der geschäftsführende Vorstand
Christine Boß-Engelbrecht, Tobias Lauer gez. Larissa Steinmann
Stv. Vorsitzende Kassenwart Vorsitzende