Es war einmal ein alter Jägersmann, der lebte tief im Wald in einer Hütte, auf einer winzigen Lichtung inmitten hoher schweigsamer Buchen, beschützt von einem Holunderbusch, der nahe des Brunnens wuchs. Schon seit Urzeiten lebte hier immer ein Jägersmann, der den Brunnen im Wald hütete, und das war eine wichtige Sache. Denn einst lange vor dem Beginn unserer Zeit gab es ein Vermächtnis, eine Abmachung zwischen dem alten Geschlecht der Wulfen und den Menschen, die zu jenem verlassenen Ort fanden. Der Ort, seit Urgedenken Wulfenborn oder Wolfsborn genannt, war seit grauer Vorzeit Tränkbrunnen derer von Wulfen. Doch auch die Bauern führten ihr Vieh hierher zur Tränke, und sie fürchteten sich vor den Wölfen. Und so kam es zu jenem Abkommen, in dem die Menschen und die Wölfe ihr Miteinander festlegten. Man muß nämlich wissen, daß es nicht der Mensch war, der den Wolf bändigte. Die vielen schönen Märchen, in denen ein böser Wolf auftaucht, die brauchen ihn eigentlich nur, damit etwa unartige Kinder ihre Lektion aus der Rotkäppchen-Affäre lernen können. Denn der Wolf ist in Wahrheit kein bißchen böse, und um ein Vielfaches sozialer als die Menschen. Und daß der heutige Haus- und Hofhund einst vom Menschen aus dem Wolf herangezogen worden ist, das ist ein besonders dreistes Märchen: in Wahrheit hat der Wolf nämlich den Menschen so lange nach seinen Vorstellungen beeinflußt, bis er selbst zum treuherzigen Haushund geworden war – eine dumme Geschichte, für die Wölfe jedenfalls. Aber der Mensch duldet eben nur jemanden, der zu ihm aufblickt aus treuen braunen Augen. Ein Wolf aber ist dem Menschen ebenbürtig. Dies meinten jedenfalls einige Wölfe, die sich von Anbeginn an aus dieser Angelegenheit herausgehalten und sich fern vom Menschen in die Wildnis zurückgezogen hatten. Mit Kopfschütteln, aber auch mit ein wenig Neid in den schmalen gelben Augen, blicken sie von ferne auf das Hund-Mensch-Gespann. Genau eine solche Wildsippe waren die Wulfen, die am Wolfsborn im Wald hoch über dem Werratal zu trinken pflegten. Kaum ein Mensch kennt jedoch das Geheimnis, das hinter dem Vermächtnis steckt. Einer der Urvorfahren der Wulfen, Eisengrimm Wolfhart zu Welpenstein, traf dereinst diese Abmachung mit dem Schultheißen des nahegelegenen Suebada, einem kleinen Dorf an der Werra. Natürlich wußte das Dorf in jenen Tagen im Nebel der Urzeit noch nicht, daß es einstmals Suebada heißen würde, aber es war schon da, und es war ein Dorf, und es hatte einen Schultheißen. Dieser Schultheiß, sein Name wurde nicht überliefert, fürchtete sich vor nichts. Und als seine Dorfmannen ihn baten, etwas gegen die umherstreifenden Wölfe am Brunnen zu unternehmen, da setzte er sich eines Abends mutterseelenalleine dorthin und erwartete die Wulfensippe. Kaum dämmerte es, da hörte er ihr Heulen von ferne, und es kam immer näher! Doch da er ja einer war, der sich vor nichts fürchtete, so tat er das auch jetzt nicht. Ganz nah war das Heulen bereits, und sogleich erschienen sie schattengleich und lautlos aus dem hohen dunklen Wald: zwölfe an der Zahl, grau und mit gelben Augen. Ohne den Schultheißen eines Blickes zu würdigen, traten sie an den Born um zu trinken. Der aber faßte sich ein Herz und sprach den Anführer der Wulfen an:

„Edler Wulfe, gestattet Ihr mir, Euch untertänigst ein Angebot zu unterbreiten?“

- Eisengrimm richtete stumm seine gelben Augen auf den furchtlosen Menschen, dann senkte er den Kopf wieder hinab zur Tränke. Der Schultheiß dachte schon, sein Unterfangen sei vergeblich, wagte es jedoch nicht, sich zu erheben und zurück ins Dorf zu gehen. Da hob Eisengrimm den Kopf und sprach zu ihm:

„Ein Angebot? Nun, so laß hören!“

Und so kam es, daß Eisengrimm am folgenden Abend seine Klaue auf ein Dokument drückte, das der Schultheiß bereits unterzeichnet hatte, und das festschrieb, daß die Wulfen und die Menschen des Dorfes, das später einmal Suebada heißen würde, einander in Frieden und gemeinschaftlich an diesem Brunnen begegnen sollten. Denn Wasser ist das kostbarste Gut, das Menschen und Wölfe haben, wenn es auch immer nur geliehen ist. So wurde es beschlossen: die Wölfe beschützten das Vieh der Bauern vor fremdem Raubgetier und nährten sich ausschließlich vom Wild der weiten Wälder. Die Bauern verpflichteten sich, daß kein Mensch jemals einen aus der Sippe der Wulfen zu Welpenstein jagen werde. Und ein getreuer Jägersmann mußte für alle Zeiten in der Jagdhütte am Wolfsbrunnen leben. Wenn er starb, übernahm sein ältester Sohn seine Aufgabe. Jahr um Jahr, Generation um Generation, wurde dieser Vertrag eingehalten. Denn das Vermächtnis enthielt eine Weissagung der weißen Wölfin. Ihren Rat hatte Eisengrimm Wolfhart zu Welpenstein in jenen grauen Vorzeiten eingeholt, bevor er seine Klaue unter den Vertrag setzte. Die weiße Wölfin lebte im Reinhardswald, einem Buchenurwald in den waldreichen Hügeln Buchonias, den die Menschen bis heute nicht ganz durchdrungen haben. Zurückgezogen und still lebte sie hier in der tiefsten Abgeschiedenheit, und Eisengrimm mußte die ganze Nacht hindurch laufen, um bis zu ihr zu kommen. Erschöpft kam er schließlich im Morgengrauen bei der Weißen Wölfin an und legte ihr den Vorschlag des Schultheißen dar.

„Wölfe schließen keine Verträge mit Menschen!“

sprach die Weiße Wölfin.

„Wer sich mit Menschen einläßt, der wird zum Hund - sabbernd und schwanzwedelnd und kindisch.“

Doch Eisengrimm legte ihr auch die Vorteile dar, die das Wulfengeschlecht aus dieser Abmachung ziehen könnte. Die Weiße Wölfin bedachte alles wohl, und nach langem Schweigen erhob sie ihre Stimme.

„So höre, was ich zu sagen habe. Es führt für die Wölfe niemals zu einem guten Ende, lassen sie sich mit Menschen ein. Ein mächtiger Zauber muß deshalb gewoben werden, um die Wölfe zu schützen. Unterzeichne den Vertrag, doch rate deinem Menschen, sich für alle Zeiten daran zu halten! Denn wird auch nur ein Wolf aus deiner Sippe in ferner Zukunft von einem Menschen aus seiner Sippe gejagt und getötet, wird ein gewaltiges Heulen die Wälder erfüllen und das Wasser des Wolfsbrunnen kein Glück mehr bringen.“

Eisengrimm schloß die Weissagung tief in sein Herz und machte sich auf den langen Weg zurück zum Wulfenborn. Der Vertrag wurde rechtskräftig, und für viele Generationen von Wölfen und Menschen blieb er es. Inzwischen wußte das Dorf des Schultheißen schon, daß es Suebada hieß, doch an den Schultheißen konnte sich niemand mehr erinnern - es war einfach zu lange her. Die Menschen im Dorf erzählten sich die uralte Sage vom Wulfenborn, und daß es einst in grauer Vorzeit einen Vertrag mit den Wölfen gegeben habe. Niemand sah sich aber gezwungen, etwas gegen die Wölfe zu unternehmen, denn friedlich kamen sie abends zum Brunnen und tranken, und die Bauern konnten seit altersher ihr Vieh auf die Weide und in den Wald treiben, ohne daß auch nur eines von den Wölfen gerissen worden wäre. Am Ort des Wolfsbrunnen wurde wieder eine Jagdhütte erbaut, denn der Wald war noch immer voller Wild. Wer in der Hütte lebte, hütete sich stets davor, einen Wolf zu töten. Von Generation zu Generation gab ein kluger Jägersmann dies an den nächsten weiter. Dann aber - es war gerade Herbst, und die jungen Heißsporne aus gutem Hause ritten mit lautem Halali durch die Wälder zur Jagd – da erlegte einer von ihnen einen greisen Wolf, einen uralten grauen Wolf mit gelben Augen. Er hatte sich zum Brunnen gebeugt, um zu trinken, doch mit dem ersten Tropfen Wasser, der seine Kehle benetzte, krachte der Schuß. Tot sank der alte Wolf nieder, und ein gewaltiges Heulen erfüllte die Wälder. Am nächsten Abend erschien kein einziger Wolf am Brunnen, und auch am nächsten nicht und am übernächsten. Die Wölfe der Wulfensippe waren verschwunden, doch neben dem Wolfsbrunnen war von Geisterhand ein Grab aus Steinen aufgetürmt. Dafür kamen marodierende Soldaten einhergeritten, brandschatzten die Dörfer, verschleppten Frauen und Kinder und töteten die Männer. Dreißig Jahre lang kehrte kein Frieden mehr ein, und auch die Jagdhütte am Wolfsbrunnen brannte bis auf die Grundmauern nieder. Viele Generationen Menschen waren nötig, um die waldigen Hügel über der Werra wieder zu besiedeln, die Äcker wieder herzurichten, die Ställe für das Vieh zu bauen. Doch abends, sobald die Dämmerung hereinbrach, wurde es unheimlich. Aus dem dunkelnden Hochwald blickten gelbe Augen, im Abendnebel strichen graue Schatten umher. Abend für Abend wurde ein gespenstisches Heulen hörbar, das an- und abschwoll und über die Hügel wehte. Niemand wußte mehr etwas von der alten Sage um das Vermächtnis zwischen den Wölfen und den Menschen. Ruhelos zogen die Seelen der Wölfe von einst um den Brunnen, doch keiner kam, um daraus zu trinken. Da gab es im Dorf ein Mädchen, Klara geheißen. Sie war eine Waise, zudem an einem Sonntag geboren und von reinem Herzen. Klara wuchs bei ihrer Tante auf, die ein hartes Regiment über ihre Familie führte. Gerecht ging es zu, aber mit wenig Liebe im Herzen. Und so flüchtete Klara, wann immer ihre Zeit es erlaubte, zum Grab der Mutter draußen im Wald. Sie umsorgte den Rosmarinstrauch, der darauf wuchs, und führte lange stille Gespräche mit ihrer toten Mutter. Auf ihrem Weg vom Dorf zum Grab kam sie an einem alten Brunnen vorbei, von dem die Menschen sagten, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehe. Wölfe trieben hier ihr Unwesen. Klara aber fürchtete sich nicht und pflegte auch das Grab nahe beim Brunnen. Sie wußte zwar nicht, wer dort begraben lag, doch sie dachte bei sich, ein paar frische Blumen hier und da können doch nichts schaden. Aus dem Mädchen Klara wurde eine junge Frau, die bald einen guten Mann fand und im Laufe der Jahre sieben Kindern das Leben schenkte. Die Familie lebte in einer Hütte nahe beim Wolfsbrunnen. Denn Wolfsbrunnen hieß der Born noch immer, wenn auch niemand mehr etwas von der alten Sage wußte. Allein das unirdische Geheul in den Abendstunden gab den Menschen des Dorfes ein, den Ort so zu nennen. Kaum aber war die Familie von Klara hier eingezogen, da verstummte das Heulen. Und solange sie lebten, und auch noch ihre Nachkommen, solange ließ sich das Heulen nicht mehr hören. Dann kam die Zeit, da alle Rechtschaffenheit, Treue und Wahrhaftigkeit, die Klaras Familie zu eigen war, im Zuge der Jahrhunderte verschwand. Wieder zogen Kriege über das Land, Verwundete und Flüchtlinge kamen des Wegs, und die Wölfe heulten. Die Zeiten wurden nicht ruhiger, alle Beschaulichkeit war dahin, und heute: wer würde heute glauben, daß ein Vertrag zwischen Wölfen und Menschen Bestand haben könnte! Doch beide sind noch immer da: Menschen wie einst der furchtlose Schultheiß oder die brave Klara gibt es immer wieder einmal, und auch die Wölfe warten geduldig auf den Tag, an dem der zweite Teil der Weissagung eintreffen wird. Sobald ein Mensch das Vermächtnis erneuert und den Wölfen freies Geleit durch die waldigen Hügel von Buchonia zusichert, wird der Vertrag wieder gültig. Von jenem Tag an, von dem die Wölfe träumen, werden Menschen und Wölfe gemeinsam aus dem Wolfsbrunnen trinken, aus dem so viel mehr zu schöpfen ist als nur Wasser. Bis es soweit ist, solange aber müssen sie in Mondnächten heulen...

Marieta Hiller

Dieses Märchen habe ich meinem alten Lateinlehrer Wolfram Becher gewidmet, der sich immer zur Tafel umdrehen mußte, wenn er uns getadelt hat. Sonst hätten wir gesehen, wie er heimlich drüber lachen mußte...

Das Märchen von der Weißen Wölfin erzählte Kobold Kieselbart erstmalig und exklusiv für alle großen und kleinen Teilnehmer, die bei den Vollmondmärchen am 29. Oktober 2012 dabeiwaren...