Liebe Leserinnen und Leser,

der Fortschritt hat uns fest im Griff. „Europa ist nur so breit wie eine kurze Sommernacht“ - so schrieb Heinrich Böll im irischen Tagebuch (1957). Ein fragiles Gebilde, wie auch Alexander Gerst bestätigt: „unser Mann im All“ kommt trotz allen Trainings und technischen Kenntnissen ins Schwärmen beim Blick auf die Erde aus einer Entfernung, die wir uns vor dem ersten Raumflug nur in unseren kühnsten Fieberträumen vorstellten.

Ging es Ihnen auch so: Erschrecken bei der Todesnachricht von Alan Bean, vierter Mann auf dem Mond. Die erste Mondlandung war doch erst neulich! Als die ersten Männer auf dem Mond landeten, waren wir so fortschrittsbegeistert, daß wir überhaupt nicht daran dachten, daß diese Männer einmal alt werden und einfach sterben könnten. Lesetipp: Das Gedicht vom abgeschraubten Mond ...

Dagegen glaubte kaum jemand, daß Stephen Hawking einmal so alt werden würde: der Professor der theoretischen Physik und Astrophysik litt an einer Nervenkrankheit, die ihm nur wenige Jahre an Lebenszeit zugestand. Doch der Mann hatte so unglaublich viel zu forschen, daß er einfach weiterlebte. Der Ausnahmewissenschaftler wurde 76 Jahre alt, und die Welt wäre ohne ihn um ein Vielfaches ärmer an Erkenntnissen geblieben.

Apropos Lebenszeiten: es muß keine großformatige Tageszeitung sein, hinter der sich kluge Köpfe verbergen. Ein kleines Taschenbuch tut es auch. Denn ein Buch ist ein Buch ist ein Buch: als Datenspeicher unübertrefflich, sofern es keinen Brand gibt. Man kann es lesen, Notizen hineinschreiben, wieder lesen, Lesezeichen hineinlegen (von Zettel bis Speckschwarte geht alles), man kann es ins Wasser werfen und wieder trocknen, Eselsohren reinmachen und wieder ausbügeln, dran riechen, die Seiten durch die Finger rascheln lassen - welcher Datenspeicher macht das noch mit?
Lesetipp: Bücher kauft man vor Ort und nicht in jenem fernen Buchhändlerfresserland

Eine CD hält im Schnitt 30 Jahre, doch Bücher überdauern die Jahrhunderte. Wenn der Drucker das richtige Papier und die richtige Druckerschwärze verwendet hat: in den 80er Jahren gab es Taschenbücher, die man heute nur noch mit Samthandschuhen anfassen kann. Ebendiese Samthandschuhe sind aber vollkommen ausreichend, um ein Buch aus dem 16. Jahrhundert in die Hand zu nehmen.

Doch das ist harmlos, wenn es um Lebenszeiten geht: etwa 100 Atommüllbehälter lagern im Zwischenlager Gorleben. Solch ein Behälter soll einen Aufprall aus großer Höhe ebenso überstehen wie eine halbe Stunde Feuer, 200 Meter Wassertiefe, Explosionen, Zugunglücke, Beschuß und vieles mehr. Doch wie lange bleibt das Ding dicht?

Jedenfalls länger als ein Menschenalter, sonst würden die Entwickler des Castorkonzeptes ja ihren eigenen Tod billigend in Kauf nehmen. Aber was, wenn diese gar nicht an ihren eigenen Tod dachten? Sich für so unsterblich hielten wie wir die Astronauten?

Fragen, über die man an einem heißen Sommertag auf dem Balkon ins Grübeln kommt - aber zum Glück ist ja auch genug Arbeit da zur Ablenkung. In diesem Sinne: genießen Sie den Sommer, lesen Sie mal wieder ein gutes Buch und machen Sie sich nicht allzuviele Sorgen!

Marieta Hiller, Juni 2018