Bis zum 16. Jahrhundert, bevor es eine allgemeine Gerichtbarkeit mit staatlicher Strafverfolgung gab, war es meist üblich, daß der Täter bei Totschlag der Familie des Opfers ein Sühnekreuz aufstellte. Der Odenwald weist etwa 140 solcher Kreuze auf, so auch das Bäcker-Schneider-Kreuz bei Brandau.

Das Original Bäcker-Schneider-Kreuz, Foto S. Herbener
Mit der Reformation wurden alte Bräuche in weiten Strichen abgeschafft, so auch das Anbeten von Bild-stöcken (siehe: Bullauer Bild) und reinen Landschaftskreuzen zum Zweck, vor Krankheit, Krieg, Mißernten und Seuchen zu schützen. Doch müssen es vorher wesentlich mehr Sühnekreuze gewesen sein, denn viele wurden ja von weniger wohlhabenden Menschen in Holz errichtet. Die Steinkreuze dagegen wurden aus Buntsandstein gehauen. Oft tragen sie Inschriften oder eingeritzte Piktogramme, die auf Opfer, Täter und Bluttat hinweisen.
Eines der jüngsten Sühnekreuze steht im Felsberg:
„Hier sank durch die Selbstentladung der Flinte eines Jagdgefährten getroffen entseelt zu Boden Jakob Lampert Bürgermeister zu Reichenbach gebor. am 6. April 1797 gestorben am 14. Dezember 1838."

Der Lampertstein im Felsberg
Die älteren Sühnekreuze umweht eine Aura des Geheimnisvollen, die Inschriften oder Zeichen regen die Fantasie an, Sagen setzen sich in ihrem Umkreis fest.
Das Bäcker-Schneider-Kreuz bei Brandau wird bereits 1457 in der Rodensteiner Grenzbeschreibung genannt:
"Item die zue Branden hant gedutscht und gewiset die mark von dem Emenrode an bis in das Loch uff den Hunckhelstein, Und von dem Hunckhelstein an die Crütz, die da stent zuschen Brandaw und Beedenkirchen ..."
die „Crütz“ kann nach einigen Heimatforschern bedeuten, daß es einst mehrere Kreuze gab. Denkbar ist aber auch daß man „die Crütz“ sagte, weil es aus dem lateinischen Crux entstand, und das war ein weibliches Wort.
Mit Hunckhelstein könnte der „Hinkelstein“ gemeint sein, der in der topografischen Karte zwischen Brandau und Gadernheim liegt, aber nicht mehr auffindbar ist. Ganz in der Nähe befindet sich ein Dreimärker und ein Viermärker, ehedem wichtige Grenzmarkierungen, die am Weg zwischen Gadernheim und Eberstadt lagen. Unter „Emenrode“ könnte der Emetsberg oder eine Immenwiese verstanden werden.
Die Flur am Bäcker-Schneider-Kreuz heißt noch heute "Am Kreuz", und hier sollen sich ein Schneider und ein Bäcker gegenseitig erschlagen haben. Bleibt nur die Frage: warum stand hier nur ein Kreuz und nicht zwei, wenn es zwei Totschläger gab? War Sühne früher im Doppel günstiger?
Auf dem Originalkreuz, das heute im Rathaus in Brandau steht und in der Flur durch ein modernes Kreuz ersetzt wurde, sind Ritzzeichnungen einer lilienartigen Figur zu sehen, die sich als Schere und Weck deuten lassen. Eigenartigerweise stand das Kreuz quer zur Wegrichtung und war im Laufe der Zeit immer weiter eingesunken. Laut Friedrich Karl Azzola und Heinz Bormuth hat das Kreuz nämlich unten eine Spitze, wie sich nun bewahrheitete. Die beiden Heimatforscher sehen in der Lilienform ein religiöses Symbol: die Grabesblume für das Leben nach dem Tod und die Auferstehung.
Seit auch im Odenwald riesige Miet-Erntemaschinen die Maisernte einfahren, wird nicht mehr auf Flurdenkmale geachtet. So wurde das ursprüngliche Bäcker-Schneider-Kreuz im Herbst 2017 bei der Maisernte umgefahren, bereits vorher war es mehrfach beschädigt worden.
Der Heimatverein Brandau brachte das Sandsteinkreuz deshalb ins alte Rathaus, wo es nun auf Kosten des Heimatvereins repariert wird. Noch Ende 2017 soll es seinen neuen Platz im Rathausfoyer in Brandau finden. Dazu muß das Spitzkreuz in einen Sockel eingebettet werden und so aufgestellt werden, daß man über einen Spiegel auch die Rückseite sehen kann. Einen Sockel hatte das Kreuz übrigens bereits in früheren Zeiten einmal, denn die Fußspitze zeigt entsprechende Spuren. Vielleicht stand es einmal in einer Kirche.
Mit dem Umzug des originalen Bäcker-Schneider-Kreuzes und der Aufstellung eines neuen Kreuzes am Weg in der Flur „am Kreuz“ auf dem Geisberg waren sowohl die Denkmalschutzbehörde als auch die Brandauer, die im Oktober am Grenzgang teilgenommen hatten, einverstanden. Das neue Kreuz steht parallel zum Weg und ist zusätzlich durch gut sichtbare hohe Pfosten markiert, die der Fahrer der Erntemaschine auch im hohen Mais gut erkennen kann.

Das moderne Bäcker-Schneider-Kreuz seit 2017
Ein Sühnevertrag von 1324: so geht Prävention...
Es gibt eine Kopie einer verschollenen Urkunde im Archiv des Odenwaldkreises aus dem Jahr 1324, die einen solchen Sühnevertrag wiedergibt: darin verfügt Ulrich von Bickenbach, Starcrat von Bruberg, daß die Täter mit
„vierundzwanzig mannen mit halben Pfunden wasses" (Mannen = Körbe, Wassen = Weizen) nach Mossau zu gehen hätten sowie am Grab des Getöteten 100 mal Kerzen zu spenden, hundert Seelenmessen zu je zwei Heller lesen zu lassen, allgemeine Gebete in zwanzig Klö-stern abzuhalten und ein „steinen cruze" aufstellen zu lassen hätten.
Dazu sollen sie Mutter und Bruder des Toten angemessen abfinden und gemeinnützige Arbeit zugunsten des Schenken Eberhart zu Umstadt leisten und Wallfahrten unternehmen. Bedenkt man daß ein Jahr nur 365 Tage hat, ist das eine ganze Menge Sühnearbeit. Man sieht wieder: Verbrechen lohnt nicht.

Der Gedenkstein an die 3jährige Margarethe Bitsch
Gedenkstein bei Breitenwiesen: Margaretha Bitsch + 22.10.1846
Kein Sühnekreuz, aber ein Gedenkstein an ein Unglück ist in der Nähe von Breitenwiesen zu finden:
„Im Jahr 1846 den 22. Oktober ist die Margaretha Bitsch von Breitenwie-sen hier auf diesem Platze verbrennt. Ist 3 Jahre alt. Mein Gott ich weiß wohl, daß ich sterbe, ich bin ein Mensch der bald vergeht, und finde hier kein solches Erbe, das unveränderlich besteht. Drum zeige mir in Gnaden an, wie ich seelig sterben kann. Mein liebster Vater wann ich sterbe so nimm du meinen Geist zu dir. Dann bin ich ja dein Kind und Erbe und hab ich Jesu nur bei mir, so gib mir gleich und ... mir, wo..."
Leider sind die untersten Zeilen schon seit vielen Jahren stark verwittert.
Drei Sagen ums Habermannskreuz
An der Straße von Michelstadt nach Eulbach liegt beim historischen Gasthof „Zum Habermannskreuz“ eine kleine Anlage mit drei Steinkreuzen. Eines davon ist noch im Originalzustand aus Buntsandstein, die anderen beiden mußten schon vor langer Zeit restauriert bzw. ersetzt werden.
Hier sollen drei Brüder derer von Habern auf Befehl des Grafen von Erbach erschossen worden sein, als sie beim Wildern erwischt wurden. Die Herren von Habern gehörten zum niederen Adel und waren vom 14.-17. Jahrhundert Erbachische Lehnsherren, die in der Habermannsburg im Erbacher Städtel lebten. Mußten sie wirklich von der Wilderei leben? Eine andere Erklärung benennt die Gebrüder Habermann aus dem 17. Jahrhundert, die so lange raubten und wilderten, bis sie zum Tode verurteilt wurden.
Allerdings erzählen die Quellen nichts von „Herren von Habermann". Die Kreuze wurden auch bereist im 16. Jahrhundert als Habermuskreuze erwähnt, was eher in eine andere Richtung weist: es hatte gar nichts mit den Herren von Habern oder Habermann zu tun, sondern vielmehr gerieten auf den Feldern um die Anhöhe drei Hafermäher derart in Streit, daß sie sich gegenseitig mit ihren Sensen zu Tode brachten. Und zu deren Seelenheil seien die drei Habermannskreuze aufgestellt worden.
Wenn alle Sühne nichts half:
Bereits die alten Germanen kannten die Hinrichtung durch Hängen, wie Tacitus (55-116 n. Chr.) berichtet. Gehängt wurden Diebe, während Mörder meist gerädert wurden. Und so machten Diebe auch in Beerfelden am historischen Galgen Bekanntschaft mit „des Seilers Tochter" bzw. mußten „Hanfsuppe" essen.
Während die Grafschaft Erbach, zu der auch Beerfelden zählte, über 1000 Jahre Kontinuität (echte 1000 Jahre, nicht nur 12 die für 1000 verkümmelt wurden!) und Eigenständigkeit bewahren konnte, herrschten in den meisten Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ständiger Wechsel. Man legte Wert auf einen ansehnlichen Galgen zum Beweis der eigenen Gerichtsbarkeit.
Kein Sühnekreuz für Margarethe und Rudolf D. + 22.10.1945
Ungesühnt bliebt die Mordtat an Margarethe und Rudolf Dautermann, die am 22. Oktober 1945 auf der Neutscher Höhe erschossen wurden. Frau Dautermann ist eine geborene Bickelhaupt und wohnte in Neutsch, die beiden waren zu Fuß unterwegs zum Neutscher Hof und wollten am nächsten Tag weiter nach Seeheim zur Straßenbahn. Diese sollte sie endlich ins Rheinland bringen, wo Rudolfs Familie ein Weingut hatte.
Doch am Abend des 22.10. fielen zwei Schüsse, die bis Ober-Beerbach zu hören waren. Dies berichtete im Oktober 2017 eine 81jährige Frau aus Beedenkirchen, die die Schüsse damals selbst gehört hatte. Was geschehen war, erfuhr man in Ober-Beerbach erst am nächsten Morgen.
Es seien wohl ehemalige Kriegsgefangene gewesen, die sich wie überall zu marodierenden Banden zusammengeschlossen hatten. Erst als amerikanische Soldaten sich auf die Lauer legten, war Schluß mit diesen Überfällen.
Die Beedenkirchnerin bat mich, an dieses Ereignis vor über 70 Jahren zu erinnern, und da der November landläufig der Monat des Gedenkens ist, soll an dieser Stelle auf die Mordtat hingewiesen werden. Wenn es ein Rachezug der ehemaligen Kriegsgefangenen war, weil sie vielleicht auf dem Hof wo sie Knechtsarbeit leisten mußten, nicht gut behandelt wurden, so waren Margarethe und Rudolf Dautermann zwei unbeteiligte Opfer, die heute unter dem menschenverachtenden Begriff „Kollateralschaden" eingeordnet würden.
Der kommende November soll nicht nur in besonderem Maße derer gedenken, die verstorben sind. Er ist aktuell auch ein guter Monat, um daran zu arbeiten, daß es auf der Welt friedlicher zugeht. Eine Absage an Kriegstreiber - wir sind umgeben und durchsetzt von ihnen: ein klares deutliches NEIN, ganz friedlich präsentiert mit einer Taube.
M. Hiller, Oktober 2017
Buchtipp für Interessierte: Sühnekreuze
Sühnekreuze, stumme Zeugen alter Schuld
Inventarisierung der überbrachten Flurdenkmäler, mit Sagen, Märchen und Erzählungen aus dem Odenwald
Hans-Günther Morr, Edition Diesbach Weinheim 2009
Die Sagen um die Habermannskreuze wurden entnommen einer Kurzfassung der Dokumentation von Johannes Heim "Die Habermannskreuze", Dezember 1998
Und dann das noch: der Sündenbock
Bei den Juden wurden vor dem Laubhüttenfest zwei Böcke ausgelost. Der eine wurde Jahwe geweiht und geopfert, der andere wurde dem Asasel gewidmet und - beladen mit den Sünden Israels - in die Wüste gejagt.