Einen spannenden Ausflug in die Geschichte des Felsenmeeres erlaubt die im August 2020 von Günter Dekker vorgestellte Übersetzung:
Römische Steinbrüche auf dem Felsberg an der Bergstraße in historischer und technischer Beziehung - Übertragen aus dem Original von 1876 in einen gut lesbaren modernen Text von Günther Dekker
Die verfügbare Literatur über den historischen Werkplatz Felsberg und die bekanntesten Bearbeitungsspuren an den Felsen ist umfangreich, aber längst nicht vollständig. Manche Abhandlungen sind vergriffen oder wurden nie veröffentlicht. 2000 Jahre Geschichtsschreibung seit der Zeit der alten Römer in Germanien nehmen selten Bezug auf eine so lokale Besonderheit wie den Felsberg und das Felsenmeer.
Alte Maßeinheiten, Legenden und Tatsachen über die Riesensäule, bis wohin früher Feld und Flur reichte, was aus manchen römischen Werkstücken geworden ist und vieles mehr...
Die Mühe der Sammlung aller Erwähnungen des Felsberges und der Riesensäule nahm in den Jahren vor 1876 der Oberst a.D. und Conservator der Alterthümer in Wiesbaden August von Cohausen auf sich. Akribisch faßte er alle ihm vorliegenden Abhandlungen über die Felsenmeer-Werkstücke zusammen. Günter Dekker übersetzte das umständliche Deutsch von vor 200 Jahren in moderne leicht verständliche Sprache. Sein Buch sollte eigentlich an seinem Geburtstag im März 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt werden, was jedoch der Corona Epidemie zum Opfer fiel. Am 28.08.2020 wurde dies nun im Freien nachgeholt, und der regnerische Tag hielt tatsächlich den Atem an, damit die Präsentation trocken vonstatten gehen konnte.
Die Rückseite des fest gebundenen Buches ziert eine Karte vom Felsberg in seinen Grenzen: im Westen zur Elmshauser Gemarkung, im Nordwesten zur Bensheimer Hahl, im Norden zur hochfürstlich Hessen-Darmstädtischen Grenze und im Osten zu den Hubgütern. Klar erkennbar zeigt sie die Reichenbacher Straßen Seifenwiesenweg, Balkhäuser Straße und den Talweg mit dem Abzweig zum Borstein. Die Entfernungs-Skala spricht von "200 Ruthen à 16 Nürnberger Schuen" und eine etwas unleserliche Notiz am unteren linken Rand lautet: "von Johann Wilhelm Grimm, Kurfürstlich(e) Pfältzisch(e) und Gräflich Erbachisch Landmesser zu Reichenbach". Auch zeigt die Skala auf einem anderen Blatt der Originalkolorierten Federzeichnung von Geometer Grimm aus Reichenbach aus dem Jahr 1763 eine andere Entfernungsangabe: "Scala von hundert und neunzig Ruthen".
Karte unter Signatur HLA HStAD P 1 Nr. 685/2 wurde zur Verfügung gestellt vom Hessisches Landesarchiv, Abteilung Hessisches Staatsarchiv Darmstadt.
Eine sehr genaue Vermessung von Reichenbach und dem Felsberg führte der Reichenbacher Geometer Johann Wilhelm Grimm zwischen 1730 und 1739 für das Amt Schönberg durch. Die hier abgebildete Reinzeichnung, der sogenannte Tractus-Riß, wurde 1765 fertigstellt. Auf die Karte wurde ich aufmerksam durch Günther Dekkers Cohausen-Buch. Es gibt zwei Versionen: eine frühere Version mit Korrekturen in der Legende von 1763 und die fertige Karte. In der Karte entdeckte ich etwas Spannendes, das auch in Cohausens Schrift erwähnt wird: die Riesenkiste (auf 350 m Höhe westlich der Brücke etwas oberhalb und verborgen gelegen) "liegt unweit des Ausgangs des Waldes". Heutzutage liegt die Riesenkiste mitten im Wald, während die Feldflur erst auf 280m Höhe beginnt.
Zu diesem Thema wird in diesem Winter ein heimatkundlicher Beitrag "Landwirtschaft vor 250 Jahren anhand der Karte des Felsberges von Johann Wilhelm Grimm" von mir erscheinen.
Doch nun kommen wir zur Überschrift dieses Beitrages: Wurde die Riesensäule im Lauf der Jahrhunderte kürzer und länger, dicker und schlanker?
Immer wieder im Laufe der Jahrhunderte wird die Riesensäule erwähnt. Die Grimmsche Karte zeigt ihre Lage einmal innerhalb der Reichenbacher Grenze, zum Zweiten als Vergrößerung etwas außerhalb des Felsenmeeres. Die Grenze zwischen Reichenbacher und Darmstädtischer Gemarkung verläuft durch den Felsberg, die Grenzsteine sind noch gut zu finden.
Diese Tabelle gibt die Maße und Gewichtsangaben der Riesensäule wieder:
Autor | Jahr | Länge | Umfang | Gewicht |
Matthäus Merian (1593-1650) | 1645 | 35 Werkschuh | unten 5 Werkschuh oben 4 Werkschuh |
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Johann Justus Winckelmann (1620-1699) | 1650 | 32 Werkschuh = 16 1/2 Darmstädter Ellen |
13 Schuh / 7 Ellen in der Runde (=Umfang!) | |
Amtsarzt Dr. Ludwig Gottfried Klein und sein Kompendium „...statt des Confekts fressen sie eine gute Portion Kartoffeln...“ | 1754 | 32 Schuh | 13 Schuh | |
Abbé Häfelin | 1778 | 32 Fuß (Fuß = Schuh) |
unten 4,5 Fuß |
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Oberamt Starkenburg | 1784 | 24 Schuh |
14 Schuh Umfang |
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Barthélemy Faujas de Saint-Fond | 1809 | 28 Fuß |
3 Fuß Durchmesser |
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Johann Friedrich Knapp | 1812 | 31 Schuh 8 Zoll |
unten 4 Schuh 6 Zoll |
laut Baudirektor Wahl (Michelstadt) 61440 Pfund |
August von Cohausen | 1876 | 9,24 Meter |
Wie kommen diese Schwankungen in den Angaben zustande? Die Erklärung ist einfach: unsere Region unterlag zahlreichen Gerichtsbarkeiten, und jede hatte ihre eigenen Maße, Gewichte, Zeiten. Nicht nur räumlich waren die Ländereien in viele kleine Grafschaften oder Fürstentümer zersplittert, auch wechselten die Zuständigkeiten zeitlich sehr oft. So konnte es geschehen, daß ein und dasselbe Dorf mehrmals innerhalb einer Generation die Konfession wechseln mußte, denn die richtete sich immer nach der Herrschaft. Lesen Sie dazu, wie die Reformation im Odenwald Einkehr hielt. Auch die Uhrzeit konnte von einem Dorf zum nächsten schwanken, es galt immer, was die Kirchturmuhr schlug. Erst die Einführung der Eisenbahn sorgte für eine Vereinheitlichung der Zeit! Dazu lesen Sie bitte hier weiter... das Kapitel "Eisenbahn: Industriekultur im Odenwald".
Alte Maßeinheiten wie Klafter, Kumpf, Schuh, Fuß, Spanne können Sie hier nachlesen. Und glauben Sie bloß nicht, daß Sie in der Lage wären einen Eimer Wein in einem Zug auszutrinken - diese Maßeinheit bezeichnete nämlich etwa 56 Liter und der Wein war - je nachdem in welcher Zeit Sie sich befinden - einen Gulden wert! Wenn Sie jetzt immer noch glauben, daß früher alles besser war, dann kann ich Ihnen nicht mehr helfen - egal ob Sie dafür Heller, Gulden, Kreuzer, Taler, Groschen, Cent oder Euro zahlen würden.
Fazit: die Riesensäule lag seit jener Zeit, als die römischen Steinmetze sie aus dem Rohblock brachen und zurichteten, unverändert an Ort und Stelle.
Unverändert? Nun ja...
Der Legende nach soll die Säule einmal aufrecht gestanden haben und von der kirchlichen Obrigkeit umgeworgen worden sein, da das Volk hier heidnischen Bräuchen frönte und um die Säule tanzte.
Und eigentlich haben die Römer dieses Monument ja nicht geschaffen, damit es im Felsberg liegt. Wußten sie einfach nicht, wie sie den 27-Tonnen-Stein transportieren sollten? Nun bin ich persönlich der Ansicht, daß die Römer technisch sehr versiert waren und ein Werkstück, an dem wochenlang gearbeitet worden war, keinesfalls zu unser aller Ergötzen einfach liegen ließen. Die römischen Werkmeister waren das historische Pendant zum Ingenieur - und dem ist nichts zu schwör und außerdem sonnenklar, daß grundsätzliche und umfassende Planung Dreiviertel der Arbeit sind. Die Ausführung ist dann nur noch ein Klacks, allerdings nicht für die Ausführenden. Wie die Römer dachten, wird deutlich daran, daß sie lieber 40 Meter breite Straßen bauten, als daß sie sich - vor allem nach der unschönen Erfahrung des Legionsführers Varus mit dem Doppelagenten Arminius - auf unübersichtlichen Pfaden fortbewegten.
Dennoch schrieb Helfrich Bernhard Wenck 1783 in seiner hessischen Landesgeschichte: "und weil man die Schwierigkeit einsah, die ungeheure Last den Berg herunter zu bringen, so ließ mans unvollendet liegen." Aber Wenck stritt ohnedies ab, daß die Werkstücke römischen Ursprungs waren. Er datiert die Arbeiten in das "mittlere Zeitalter".
Für andere historische Autoren stellte die Riesensäule einfach eine Grenzmarkierung dar.
Winckelmann glaubte, daß die Säule "von denen in solcher Kunst sehr erfahrenen Römern gegossen worden sei". Warum aber gossen die Römer das 27 Tonnen schwere Werkstück dann nicht dort, wo es Verwendung finden sollte? Johann Wilhelm Grimm nimmt in der Legende seiner Felsberg-Karte Bezug auf Winckelmanns Hinweis auf einen Aufsatz von Pfarrer Kaiser, daß die Riesensäule vom Pfalzgrafen nach Heidelberg gebracht werden sollte und daß 100 vorgespannte Pferde sie nicht hätten bewegen können.
Auch Karl der Große soll Anspruch auf die Riesensäule gehabt haben: Abbé Häffelin erläuterte, wie die Säulen (es gibt mehrere!) nach Ingelheim zum neuerbauten Kaiserlichen Palast gebracht wurden, und zwar nicht direkt vom Felsberg, sondern aus Ravenna. Karl der Große soll ausgerufen haben: Italien gab der Pfalz nur wieder, was es ihr entzogen!
Im aufkommenden Nationalismus um 1812 vermutete man gar, daß diese Monumente nur und ausschließlich ein deutsches Werk von deutschen Steinmetzen sein können.
Günther Dekkers Neuauflage, 60 Seiten DIN A 4 Format, fest gebunden mit 6 Tafeln Abbildungen, 14,50 Euro: August von Cohausen (Oberst a.D. und Conservator der Alterthümer in Wiesbaden) und Ernst Wörner (Hofgerichtsadvocat in Darmstadt) „Römische Steinbrüche auf dem Felsberg an der Bergstraße in historischer und technischer Beziehung“ mit 6 Abbildungstafeln, Darmstadt Verlag von Ludwig Brill 1876
Erhältlich im Felsenmeer Infozentrum und im Rathaus Reichenbach
Weitere Kuriositäten rund um die Riesensäule
Der Felsberg, auf lateinisch "Petramons" oder "mons petrosum" genannt, war in mehreren Quellen Zeuge von Naturgewalten.
Der Reichenbacher Pfarrer Martin Walter schrieb in seiner Chronik: "Anno 1601 Freitags, den 2. October horam pomeridianam intra 4 & 5 meteoron igneum versus montem petrosum delapsum et visum a congregatis ad curiam rusticis Reichenbachianis." Zu Deutsch: "nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr ist ein feuriger Meteor in Richtung Felsberg herniedergeglitten und von Reichenbacher Bauern gesehen worden, die sich am Rathaus versammelt hatten". (Geschichtsblätter Kreis Bergstraße Sonderband 6 "Südhessische Chroniken aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges")
Und die starken Erdbegen um Groß-Gerau Ende der 1860er Jahre ließen die Felsblöcke des Felsberges so erzittern, daß ein Greis vor Schrecken starb. Cohausen berichtet von Holzhauern, die in unmittelbarer Nähe eines der Blockströme arbeiteten und die Felsblöcke sich bewegen sahen. Dröhnen und Knirschen der Felsen trieb sie zur Rettung auf die Bäume.
Ein römisches Werkstück von beachtlicher Größe ist der Felsbalken, der heute nicht mehr auffindbar ist. Seine Länge gibt Cohausen mit 9,85m an, die Keiltaschen bemaßt er mit 10cm in der Breite und im Abstand, im oberen Bereich sind sie noch 8cm breit. Seine Lage gibt Cohausen so an: er kam auf seiner Wanderung (mit dem Reichenbacher Pfarrer Schlosser im Jahr 1873) vom Talweg her am Schnapsloch vorbei in Richtung Felsenmeer auf dem Fahrweg an, überkletterte die Steine des Blockstroms und findet den Felsbalken "300 bis 400 Schritt oberhalb des Fahrwegs und nahe der Stelle, wo der Bergrücken nach Osten abfällt", aber unterhalb der Grenze zwischen Reichenbach und Beedenkirchen. Mit diesem Felsbalken kann er jedoch nicht den "hohen Stein" meinen, der weiter nordöstlich lag und ebenfalls verschwunden ist. Man muß dazu wissen, daß die Menschen sich nach dem Ende des abergläubischen Mittelalters zu allen Zeiten im Felsberg mit Baumaterial für ihre Häuser bedienten. So ist es nicht verwunderlich, daß auch Steine mit römischen Arbeitsspuren nach und nach verschwanden. Wer weiß, vielleicht taucht der Felsbalken beim künftigen Abriß eines der Steinarbeiterhäuser in Reichenbach oder Beedenkirchen wieder auf.
Fortsetzung folgt...
Foto: M. Hiller
Das ist noch lange nicht alles, was uns die lobenswerte Erschließung des Cohausen-Textes an Erkenntnissen liefern kann. Auf nur 59 Seiten zeigt sich der von Günther Dekker ins moderne Deutsch übersetzte Text als äußerst ergiebig, denn August von Cohausen hat darin wirklich umfassend die Autoren aus 18 Jahrhunderten, die den Felsberg erwähnen, zusammengetragen. Für mich als zertifizierte Gästeführerin "Römer im Odenwald" ist es eine hervorragende Quelle, um meine Darstellungen während meiner Römerführungen noch exakter und ausführlicher zu gestalten. Was ich bislang zur Riesensäule zu berichten weiß, finden Sie hier: Die Riesensäule - berühmtestes Werkstück im Felsenmeer und wer weiß - vielleicht sieht man sich ja mal im Felsenmeer!
Marieta Hiller
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Infos: Römische Steinbrüche auf dem Felsberg an der Bergstraße in historischer und technischer Beziehung, von den Autoren Karl August von Cohausen und Ernst Wörner aus dem Jahre 1876.
Der Autor, Karl August von Cohausen wurde 1871 zum Königlichen Konservator für die preußische Provinz Hessen-Nassau berufen.
Neben den Betrachtungen früherer Abhandlungen zum Felsenmeer und deren kritischer Bewertung von historisch bedeutungsvollen Personen wie z.B. Pfarrer Walter (1635), Matthäus Merian (1645), Johann Just Winckelmann(1650), Abbe Häfelin (1777), Helfrich Bernhard Wenck (1783), J. F. Knapp (1843), beschreibt K. A. von Cohausen zum ersten Male mehrere römische Werkstücke und fügte Skizzen zu den einzelnen Objekten an.
Da das Original auf dem freien Markt wohl nicht mehr erhältlich ist, aber eine zeitgenössisch wertvolle Abhandlung darstellt, wurde dieser Nachdruck veranlasst. Zusätzlich wurden von Günther Dekker in chronologischer Folge alle bekannten Werke zum Felsenmeer aufgelistet und deren Aussagen kurz dargestellt. Für Dekker ist das Werk von Karl August von Cohausen ein Meilenstein für unser Wissen um die Arbeiten und Arbeitstechniken der römischen Steinmetze im Felsberg.