Amtsarzt Dr. Ludwig Gottfried Klein und sein Kompendium "...statt des Confekts fressen sie eine gute Portion Kartoffeln..."
Welche Vorstellungen von gesundem Leben, Gesundheit und Heilmitteln man 1754 hatte:
Ludwig Gottfried Klein war Hofarzt und Physikus der Grafen in Erbach und Fürstenau. Das entspricht unserem heutigen Amtsarzt. Als solcher hatte Klein nicht nur für die Gesundheit der Erbahischen Untertanen zu sorgen, sondern vielmehr auch allgemeingültige Betrachtungen zu Land und Leuten niederzuschreiben. Und so verfaßte Ludwig Gottfried Klein einen „Physikalisch-medizinischen Versuch von Luft, Wasser und Plätzen des Ervachischen und Breubergischen Landes als eines großen Strichs im Odenwald“ - natürlich nicht auf Deutsch, sondern auf Latein: De aere, aquis et locis agri Erbacensis atque Breubergensis, largi Odenwaldiae tractus, tentamen physico-medicum“. Lange Zeit gab es dieses wichtige Basiswerk über den Odenwald nicht in deutscher Sprache, es gab eine Übersetzung von Karl August Schweikart (Pfarrer zu Reichelsheim 1779-1848) und eine von Johann Philipp Wilhelm Luck (Pfarrer zu Michelstadt 1728-1791). Einige Kapitel wurden schon gelegentlich ins Deutsche übersetzt, aber nun hat sich Johann Heinrich Kumpf darangemacht, das komplette Werk zu übersetzen. Es ist 2016 in Erbach erschienen (ISBN 978-3-9815625-5-2). Klein, der seine Doktorarbeit über die flüssigen Bestandteile des Blutes verfaßt hatte, brachte 1753 mit der „Interpres clinicus“, einem Klinischen Dolmetscher, den ersten Bestseller heraus: schon ein Jahr nach Erscheinen war er in aller Munde: sein Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Prognostik wurde von der Fachwelt begeistert aufgenommen und galt Generationen von Ärzten als wichtige Grundlage.
Man muß sich vorstellen, daß ärztliche Gutachten vor 250 Jahren nicht wirklich lesbarer und verständlicher waren als heute. Noch dazu wurden sie auf Latein verfaßt, der offiziellen Schriftsprache der Mediziner - was nicht heißt, daß sie diese Sprache beherrschten. So gab es allzu oft Mißverständnisse oder Verständnisfehler. Durch Kleins Wörterbuch wurde ein wichtiger Schritt zu größerer Treffsicherheit in der Diagnostik geschaffen.
Nachdem Klein aufgrund seiner Verdienste in die Leopoldina, die Kaiserliche Akademie der Naturforscher in Hallo, aufgenommen wurde, konnte sein umfassendes Odenwaldwerk „de aere“ erscheinen. Ende September 1754 erschien es, man konnte es auf der Michaelismesse für sechs Groschen erwerben.
Man muß dazu wissen, daß zahlreiche wissenschaftliche Werke seit Hippokrates (ca 460-370 v. Chr.) die Überschrift „de aere, aquis et locis“ tragen, die sich um die Behandlung von Kranken und die Ursachen von Krankheiten drehen. Doch ein Rezensent im Jahr 1755 merkte an, daß es sinnvoller wäre wenn das Buch auf Deutsch erschienen wäre. Nun endlich liegt es in vergnüglich lesbarer Form mit zahlreichen Anmerkungen und Erläuterungen, einem Literaturverzeichnis, einer Zeittafel und einem Glossar vor. Dort erfährt man, was „amerikanischer Papas“ ist: nämlich Kartoffeln. Und die Kartoffeln haben es Dr. Klein angetan: „von diesen letzteren bauen sie eine ganz abscheuliche Menge, so daß man sicher 44.000 Malter (Malter = altes Hohlmaß von ca. 109,387 Liter in Mainz, dagegen in Wiesbaden genau 1 Hektoliter.´) jährlich rechnen darf. Die Kartoffeln geraten gern in einem Garten oder neu gewendeten und gedüngten Wiese, vornehmlich, wo das Erdreich sandig und kiesig, jedoch mit guter Erde vermischt ist. ... Regenwetter ist ihnen vorteilhaft, Dürre aber schädlich.... Wenn man sie auf gutes Feld steckt und sie gut Wetter haben, so kann der arbeitsame Bauer von einem Malter 20 Malter ernten.... Ich glaube, daß sie unsere Leute anfangs nicht gern gegessen, jetzt aber halten sie solche als ihre beste Leckerbissen in Ehren.... Ein erwachsener Mensch, der guten Appetit hat und sich meist mit Kartoffeln behelfen muß, verzehrt gewiß vom Herbst bis gegen das Ende des Frühlings vier Malter, d.i. er frißt 1200 Pfund, denn ein Malter wiegt gemeiniglich 300 Pfund (wären nach moderner Rechnung 150 kg, aber das historische Pfund wog zu allen Zeiten und an allen Orten unterschiedlich).... Es gibt Weiber der Handwerksleute, die oft kein Brot über Nacht im Haus haben und gleichwohl lieber etwas von dem Hausgerät verkaufen, damit sie nur diesen hochbeliebten Trank von Kaffeebohnen, den sie dann reichlich mit Zucker versüßen, einschlürfen können. Hernach aber statt des Konfekts fressen sie eine gute Portion Kartoffeln beim Abendessen, damit der Magen nicht belle.“
Ähnlich unterhaltsam lesen sich Kleins Beiträge über das Obst, den Ackerbau, die Bienen, das Mühlenwesen, Holzwirtschaft und Bergbau und viele weitere Aspekte des täglichen Lebens.
Dem Odenwald bescheinigt er hervorragende Qualität der Luft und der Gewässer, die Menschen vor 250 Jahren machten ihm einen guten Eindruck in bezug auf ihre Gesundheit.
Doch man findet auch kuriose Beiträge: so etwa wenn er über das Rheuma schreibt. Damals nannte man diese Krankheit auch „das Reißen“ oder Gliederfluß. Dr. Klein wußte bereits, daß bei dieser Krankheit eine „gehörige Speiseordnung“ beachtet werden muß und schreibt hier als Beispiel: „ein 13-jähriges Mägdlein, welches in äußerster Armut lebte, trug von feuchter Kälte einen Gliederfluß am linken Fuß davon,... Man ließ es gehen, ohne was zu brauchen (als „brauchen“ bezeichnete man die Behandlung, sei sie nun physisch oder psychisch). ... Es ginge sogar ein fingerlanges Stück vom Wadenbein, welches angefressen war, heraus.... Als ich dies Elend erfahren, nahm ich sie nach so langem Verzug (nach vier Jahren) in die Kur und verordnete ihr Arzneien, so aus dem Spießglas (Antimon) und Quecksilber bereitet worden, die ich sowohl in Tränken als Pulvern ihr geben ließ. ... Da sie nun bisher bald wassersüchtig, bald am ganzen Leib ausgezehrt war, so bekam sie jetzt wieder Fleisch, nahm zu an Kräften und sah wieder frisch aus und lebhaft von Farbe. ... Wann die Krankheit hartnäckig und alt wird, welches dann fürwahr mehrenteils durch Schuld des Kranken und derer, die um ihn sind, geschieht, so sagen unsere Leute gemeiniglich, der Mensch sei behext und nehmen abergläubischerweise ihre Zuflucht zu den Künsten der Zauberer.“
Man hielt also Menschen mit Rheuma für behext, mit allen unangenehmen Begleiterscheinungen! In einem anderen Fall beschreibt Dr. Klein: „Alle alten Weiber versicherten schon und bekräftigten einmütig, sie sei bezaubert. Sie lassen einen Scharfrichter kommen, der ein gottloser Betrüger war. Dieser, nachdem er etwas daher gemurmelt, beschmierte sie über den ganzen Leib mit Holderlatwerge, worunter viel Teufelsdreck gemischt war (Holundermus und Stinkasant, Assa foetida). Die Leute hatten auf diesen Gaukler und sein stinkendes Mittel ein großes und abergläubisches Vertrauen gesetzt. Aber anstatt der gehofften Hilfe ward ihr Zustand von Tag zu Tag schlimmer.“
Noch etwas Kurioses: Dr. Klein wettert gegen die Abgabe von opiumhaltigen Arzneien an Kinder und schreiende Säuglinge - Exkurs: Lesetipp: www.spiegel.de/spiegel/print/d-16748368.html
Heroinhaltiger Hustensaft von Bayer oder Codein von Merck
Am 10. August 1897 erschuf Bayer-Chemiker Felix Hoffmann eine Substanz, die der Geschäftsleitung zu Beginn als zu giftig galt, sie sollte verworfen werden: es war die Acetylsalicylsäure. Noch heute gibt es dieses Produkt aus der Weidenrinde auf dem Markt als Aspirin zu kaufen -zum Glück. Am 21. August 1897 hatte Felix Hoffmann einen weiteren Durchbruch: er entdeckte eine Substanz, die sehr gut schmerzstillend wirkte ohne süchtig zu machen. Diacetylmorphin, gewonnen aus den Kapseln des Schlafmohn. Man kennt es unter dem Namen Heroin, von Bayer weltweit bis in die neunzehn-dreißiger Jahre hinein als hochreines Marken-Heroin verkauft, man konnte es in der Apotheke kaufen. Daß es nicht süchtig machte, ist richtig: denn man nahm nur eine viel geringere Menge ein als bei Junkies üblich, noch dazu nur oral. Erst in den USA, wo damals zehn Prozent aller Ärzte als opiatabhängig galten und Hunderttausende Morphin spritzten, wo eine große Zahl der eingewanderten Chinesen Rauchopium konsumierten, erst dort entwickelte sich die Heroinsucht. Unterstützt durchaus von großen Pharmakonzernen: Hoffmann-La Roche etwa vercheckte es unter dem Codenamen "Yeaxt" an die Unterwelt und verdiente nicht schlecht daran. 1927 erhielt der Konzern eine Verwarnung der internationalen Opium-Kommission. Heroin wird noch heute in Großbritannien als wirksames Schmerzmittel erzeugt, die Briten konsumieren rund 300 Kilogramm im Jahr.
Doch zurück zu Dr. Klein: er verordnete Kindern bei Magengrimmen zwar Magsamensaft, der ebenfalls aus Mohn hergestellt wurde. Den gab man allgemein mit Honig gesüßt Säuglingen und Kleinkindern, die nicht schlafen wollten. Oder man füllte Mohnsamen in ein Tuch, das zusammengebunden als „Labbeduddel“ dem Kind in den Mund gesteckt wurde. Und schon hatte man Ruhe...
Und noch etwas Makabres: „Daß von Grabstätten und Kirchhöfen häugige Dünste in die Höhe steigen, das beweisen unter andern die an solchen Orten gewöhnlichen Lufterscheinungen, z.E. das dumme Feuer oder Irrwisch. Und daß dergleichen ganz subtile Dünste, die nicht alle Menschen oder Tiere, sondern nur diese und jene ganz besonders empfinden können...“ Man - also nur diese und jene, Sie gerade vielleicht nicht - sah seltsame Leuchterscheinungen in Sümpfen oder Mooren, oder auch auf Friedhöfen. Oft ist es das Fuchsfeuer von biolumineszenten Pilzen oder auch einfach Glühwürmchen. Manchmal sieht man im dunklen Wald düster schimmerndes Licht auf morschen verwitterten Baumstämmen, und natürlich gibt es auch Entzündungen von Faul- und Sumpfgasen. Der Volksglauben machte aus solchen Sichtungen dann schaurige Geschichten mit Höllenhunden, die des Nachts Knochen Verstorbener zu dessen Grab bringen und vergraben oder die als Irrlichter herumgeistern.
Als Irrlicht (auch Irrwisch, Sumpflicht und Ignis fatuus genannt) wird eine bestimmte Leuchterscheinung bezeichnet, die vorgeblich hin und wieder in Sümpfen, Mooren, Morasten oder in besonders dichten, dunklen Wäldern und (seltener) auf Friedhöfen gesichtet wird.