In armen Gegenden litten die einfachen Menschen oft bittere Not. Nicht selten wußte die Mutter morgens noch nicht, was sie mittags auf den Tisch bringen sollte. Und so heißt auch ein typisches Weihnachtsessen im Odenwald „Kartoffeln, Haas un’ Gans“, was nichts anderes bedeutet als „Kartoffeln, heiß und ganz“. Da war der Hase schnell vergessen, und auch die Gans fand nicht den Weg aus gräflich bewachten Herden in den heimischen Ofen. Mit Humor nahm man es halt, aß seine Kartoffeln und war froh, wenn man Salz darüber zu streuen hatte. Die Köhler, diese einsamen Waldbewohner, aßen oft nur Kartoffeln mit Salz, aber ohne Schmalz - diese Redensart fand Eingang bis in moderne Zeiten.
Aus der Not machte man eine Tugend. Und Sonntags nach dem Mittagessen - die Nachbarn wußten ja nicht, was wirklich in Schüsseln und Töpfen war - stellte man sich ans Fenster und pulte ordentlich in den Zähnen, so als hätte man wer weiß wieviele Fleischfasern darin hängen.
Eine Hausiererfamilie aus dem Odenwald beispielsweise, die Holzrechen herstellte, gab Anno 1914 zu Protokoll, wie ihre wöchentliche Speisenfolge aussah: sonntags gab es Bauchlappen in Sauerkraut mit Salzkartoffeln. Montags dann Kartoffelbrei mit Milch und - wer hätte das gedacht - mit Sauerkraut. Dienstags dann Milchsuppe mit Mehlklößen und gerösteten Brotkrusten, im Odenwald auch Fettkrachelchen genannt. Mittwochs wurde es dann besser: es gab Räucherfleisch in sauren Bohnen. Dafür kamen Donnerstags Arme Ritter oder süße Quetschesupp (warmes Kompott) auf den Tisch. Freitags gar mußte man mit Reis- oder Griesbrei vorliebnehmen, und Samstags gab es die Reste der ganzen Woche, zum Beispiel Krautsuppe mit zerstampften Kartoffeln und Sauerkraut, dazu etwas trockenes Brot. Hausierer übrigens waren früher nicht so übel beleumundet wie heute: dies war die Berufsbezeichnung für eine Familienmanufaktur mit angeschlossenem Vertriebssystem. Kartoffeln waren, seit sie aus dem fernen Amerika in die Alte Welt gekommen waren, das Hauptnahrungsmittel der einfachen Menschen. Der Anbau der Knollen verbreitete sich im 18. Jahrhundert zuerst zögernd, bis man erkannte, daß sie doch auf recht einfachem Wege recht schön satt machten. Im November 1567 landeten in Antwerpen drei Fässer mit Kartoffeln, Orangen und grünen Zitronen aus Gran Canaria, wo vermutlich die Kartoffeln einige Jahre zuvor erstmals aus Amerika angekommen waren.
Zur gleichen Zeit, im Jahre 1569 nämlich, da erbarmte sich der Hessische Landgraf Georg 1 und ließ im ganzen Odenwald Eßkastanienbäume pflanzen. Von seinen Reisen hatte er die Setzlinge mitgebracht, und seinen Untertanen sollten sie helfen, das Bauchgrimmen ein wenig zu mildern.
Aus dem Odenwald ist auch die Geschichte mit der Schiebewurst überliefert: man legte eine kleine Scheibe Wurst auf eine große Scheibe Brot und biß herzhaft hinein. Dann schob man die Wurst mit den Fingern ein Stück weiter, so daß der nächste Biß und auch der letzte Biß noch einen Hauch der begehrten Wurst enthielt.
Besonders die Resteverwertung in fantasievollen Gerichten, denen man ihre Herkunft oftmals nicht anmerkte, hatte einen hohen Stellenwert im Küchenplan. Viele solcher Geschichten weiß man nicht nur aus den Erzählungen der Alten, wie es früher wirklich war, sondern auch aus den Märchensammlungen. In Märchen offenbart sich immer auch ein gutes Stück dokumentierte Volkskunde. Wie die armen Leute lebten, ohne Rechte, ohne Reichtümer, aber mit vielen Sorgen und Plagen, das erzählen uns die Märchen noch heute. Und wir dürfen es ruhig glauben, denn warum sollte uns ein Märchenerzähler denn nur Märchen erzählen!
Ein moderneres Resteessen ist der „Kalte Hund“, und eine Redensart der Hausfrau lautete auf die Frage „was gibt es denn heut zu essen?“ in mürrischem Ton „Kalter Hund - warm zugedeckt!“ In verschiedenen Regionen gibt es für diese Antwort auch deftigere Überlieferungen, die hier nicht zitiert werden sollen.
Kalter Hund ist eigentlich eine Erfindung des letzten Jahrhunderts. Kekse, Plätzchen, Kuchenreste, alles was so anfiel, wurde hübsch aufgeschichtet und mit Schokoladenguß überzogen. Wer hatte, gab noch Mandeln oder Nüsse dazu, auch Vanille - eine Kostbarkeit, die gehütet wurde wie Gold und Silber! - und einen Schuß Rum. In seiner kleinen Form gibt es den Kalten Hund als Granatsplitter.
Altes Brot wurde nicht weggeworfen, man schnitt es in Würfel, röstete es in was auch immer man gerade hatte, und schon war eine begehrte Aufwertung von Suppen und Salaten da! Oder man verarbeitete es zu den berühmten Armen Rittern, auch als Rostige Ritter, Fotzelschnitten, Kartäuserklöße, Weckschnitten, Bavesen, Pofesen, Blinder Fisch bekannt. Die Namen weisen schon auf ihre Beliebtheit hin...
Und dann gab es noch die Rumfordsuppe: erfunden hat sie anno 1795 der Reichsgraf von Rumford, um die Soldaten des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz sattzubekommen. Hinein kamen ursprünglich Graupen und Trockenerbsen. Praktisch fand er eine solche preisgünstige Suppe auch zur Speisung der Bettler und Arbeitslosen, die festgenommen worden waren und nun im Militärischen Arbeitshaus verköstigt werden mußten. Und so trat die Rumfordsuppe einen Siegeszug durch die europäischen Suppenküchen für Bedürftige an. Böse Zungen behaupten, der Name Rumfordsuppe komme nicht vom Reichsgraf, sondern er bedeute daß alles drin ist was in der Küche rumliegt und fort muß...
Marieta Hiller