Einst trug es sich zu, daß ein junger Ritter auf der Suche nach Abenteuern in einen finsteren Wald kam, wo er eine noch viel finsterere Höhle entdeckte. Aus dem schwarzen Schlund der Höhle kräuselte sich blauer Rauch und zog in wunderschönen Ringen gen Himmel.
Der Ritter, Ottokar der Hübsche genannt, schüttelte seine schwarzglänzende Lockenpracht und sprach „wer wohl in dieser Höhle solch kunstfertigen Rauch ausstößt? Ich muß es wissen!“ Und er schnallte sich Taschen, Mantel und alle Bedenken ab und ließ sie mit seinem treuen Roß im Wald zurück. Ein bißchen allein fühlte er sich schon, so ganz ohne seine Tiegel und Töpfchen, seine Salben und Duftwässerchen. Aber „Nur wenn du auf Abenteuersuche gehst, wirst du eine Prinzessin finden, die dich heiraten will!“ hatte seine Mutter gesagt. Ottokar wollte gar keine Prinzessin, aber davon wollte seine Mutter nichts hören. Mit gebieterischer Miene hieß sie ihn, Vorbereitungen für das Abenteuer zu treffen und wies ihm schließlich den Weg zum Burgtor hinaus. Was sollte Ottokar da anderes tun, als zu gehorchen?
Vorsichtig schlich er die ersten Schritte hinein in die dunkle Höhle, den Rauchringen entgegen. Um eine Biegung herum - es wurde dunkler, um eine zweite Biegung herum - Ottokar mußte seine Laterne entzünden, um eine weitere Biegung herum - und Ottokar blieb die Luft weg. Doch nicht der Rauch ließ ihm den Atem stocken, nein: eine unermeßlich große, unermeßlich schuppige, und offenbar auch unermeßlich übellaunige Kreatur blickte ihm entgegen.
Ganz ohne Zweifel starrte dem Ritter Ottokar hier ein Drachen entgegen, einer von der grimmigen Sorte. Zornig rollten aus seinem tiefen Schlund böse Worte, Worte die Ritter Ottokar die Schamesröte ins Gesicht trieben.
„Ei Drache, warum fluchst du denn so gotteslästerlich?“ fragte er erstaunt und strich sich dabei durch seine Lockenpracht.
„Ach, wenn du wüßtest! Aber mit dir scheint ja auch nicht alles zum Besten zu laufen,“ stellte der Drache fest und begutachtete Ottokar den Hübschen von allen Seiten. „Seidene Kleider, silberne Schnallen an den Schuhen, Sammetbänder hier und Sammetbänder da, ein Glitzern wie von Sternentau in den Haaren, sag an, was für ein Ritter bist du denn? Und was, so verrate mir, hast du in deinem hübschen rosa Perlentäschchen?“
„Oh nein, mein Täschchen zeige ich dir nicht. Und ja, es läuft nicht alles zum Besten. Ich soll das Abenteuer suchen, und dann muß ich eine Prinzessin heiraten. Ich will keine Prinzessin heiraten!“ Und damit stampfte Ottokar mit dem Fuß auf. Der Drache schüttelte sacht den Kopf und sagte nachdenklich: „nein, eine Prinzessin ist wohl nichts für dich, und auch für Abenteuer bist du nicht gemacht. Aber ich will sehen, was ich für dich tun kann.“
Ritter Ottokar wunderte sich ein wenig, denn ihm waren bislang nur bösartige Drachen die wegen jeder Kleinigkeit Feuer spuckten, bekannt. Dieser hier aber wollte ihm sogar helfen!
„Nun“, sprach der Drache, „ich habs. Du wirst einfach bei mir bleiben. So brauchst du keine Prinzessin zu heiraten, aber deine Leute werden dich in ehrenvoller Erinnerung halten, denn du bist heldenmütig in die Drachenhöhle gezogen.“
„Und was“, so fragte Ritter Ottokar ganz verdattert, „was muß ich hier bei dir tun? Wirst du mich etwa fressen?“
„Nein, ich pflege keine Ritter zu fressen - die Rüstung, du weißt schon, sie macht mir Verdauungsprobleme. Aber du hast da solch einen hübschen Spiegel. Laß mich doch mal hineinsehen, auf daß ich meine Rauchringe noch schöner ausstoßen kann!“ Und der Drache nahm den silbernen Spiegel des Ritters, hielt ihn sich vor den Rachen und formte die allerliebsten Rauchringe. Kein Fluch kam mehr über seine Lippen, und ans Feuerspucken dachte der Drache überhaupt nicht mehr. Ottokar aber war es zufrieden und führte dem Drachen fortan den Haushalt. Und wenn sie nicht gestorben sind, so werden wohl noch heutigentags aus dem Wald, dort wo er am finstersten ist, hübsche Rauchringe aufsteigen.
Marieta Hiller, 2010
Es gibt - ihr wißt es bereits - ungezählte Elfen auf der Welt.
Eine jede Pflanze ist Wohnung für zahlreiche Elfen, in Felsgrotten und Moospolstern huschen sie umher, und im Mondlicht tanzen sie. Ihr wißt sicher auch, daß Elfen bei Vollmond auf einem Mondstrahl von der Erde zum Mond klettern, um dort ihren ganz geheimen Elfengarten zu bewässern.
Denn Wasser gibt es keins auf dem Mond, das muß von der Erde hinaufgebracht werden, und das geht nur bei Vollmond, wenn die Mondstrahlen stabil genug sind, eine Elfe mit Wasserkelch zu tragen. Was ihr nicht wißt: auf dem Mond wachsen die Zauberkräutlein, die auf der Erde verschwunden sind. Als die Menschen nämlich begannen, sie Unkraut zu nennen und auszurotten, da flohen die Kräutlein - und vor allem die zauberkräftigen! - hinauf auf den Mond.
Dort harren sie sieben mal vier Tage aus, bis wieder eine Elfe hinaufkommt und ein Kelchlein Wasser bringt. Schon lange lebten hier oben das Tausendgüldenkraut (das echte, versteht sich, das güldene Gülden hervorzubringen versteht), das Blümlein "rühr mich nicht an", das dem Menschen seine kindliche Unschuld bewahrt, Frau Amanita die Pilzdame, die schaudernd flüchtete als sie sah, mit welch chemischen Mittelchen die Menschen neuerdings ihre Gesundheit ruinieren, und viele Kräutlein mehr.
Und gerade beim letzten Vollmond kam ein neues Kräutlein hinzu: Anethia mit ihrem fedrigen gelbduftenden Hut verkroch sich hier. Denn die Menschen hatten sie graveolens, übelriechend genannt! Sie, die Duftende! Kaum schien die Sonne warm genug, hatte sie ihre zarten Dolden ausgebreitet, und ihre Fiederblättchen verbreiteten betörenden Duft! Ach, immer dünner war das Elixier geworden, das Anethia brauchte: lockeren sandigen ungedüngten Boden an einem sonnigen Plätzchen.
Scharf war die Erde, kaum daß die Menschen ihre Zeugs darauf gestreut hatten, scharf und ungenießbar, und es kribbelte Anethia überall, sie mußte niesen und bekam welke Blattspitzen. Schließlich wisperte sie ihrem persönlichen Elf zu, daß sie es nicht mehr aushielte, und daß sie zum Mond auswandern wolle. „Gut,“ sprach der Elf, Dilldapp mit Namen, „so geh. Ich will dich stets zu Vollmond mit frischem Wasser versorgen“.
Doch ach, der Dilldapp war ein ungeschickter Elf, und so mußte er entdecken, daß es gar nicht so leicht war, mit einem Kelch voller Vollmondwasser beladen auf einem Mondstrahl weit weit hinauf ins Sternenzelt zu klettern. Auch wurde es kalt unterwegs, denn die Sonne schlief ja. Dem Dilldapp klappterten die Zähne, und schließlich zitterte er so vor Anstrengung und Kälte, daß er die Hälfte des Wassers verschüttete. Die Wassertropfen aber gefroren sogleich zu spitzen Eisnadeln und schossen über den samtschwarzen Himmel dahin, daß die Menschen auf der Erde glaubten, es seien Sternschnuppen.
Der Dilldapp mußte niesen, und bei jedem Nieser versprühte er wieder ein paar Tropfen Wasser, die als Sternschnuppen über den Himmel schossen. Früher einmal, als die Menschen den Dill - denn genau das ist unsere Anethia! - noch zu schätzen wußten und stets ein Plätzchen für ihn in ihrem Hausgarten bereithielten, da wußten die Menschen auch noch, daß es eigentlich Sternschnupfen heißen muß. Aber das ist lange her.
Bis der Dilldapp endlich frierend und mit roter Nase bei Anethia auf dem Mond ankam, hatte er nur noch einen einzigen Tropfen klares Wasser in seinem Kelch, und den trank Anethia auf einen Zug aus. „Aaaach, das war gut! Beim nächsten Mal darf es aber gern ein bißchen mehr sein!“ meinte sie. Der Dilldapp nickte ergeben, und weil er ein gutmütiger und hilfsbereiter Elf ist - wie alle Elfen eigentlich - so hat er sich seither bemüht, das Wasser im Kelch zu bewahren, bis er es glücklich hinauf zu Anethia geschafft hatte. Und bei jedem Vollmond gelang es ihm ein bißchen besser, und wenn ihr noch ein paar hundert Jahre Zeit habt, so werdet auch ihr vergessen, daß es einst so etwas wie Sternschnupfen gegeben hat...
Marieta Hiller, Ostervollmond 2013
Die märchenhaft geschmückte Bühne der Reichenberghalle, wo das Literaturprogramm der Märcheninsel 2021 stattfand
Einst verbot der Padischah das Märchenerzählen und Singen. Bald aber wurde er sehr krank. Erst als ein Märchenerzähler gerufen wurde, konnte er wieder gesund werden. Dies ist der Inhalt eines von zahlreichen wunderschönen Märchen aus aller Welt, die Angelika Schreurs aus Düsseldorf während der 25. Reichelsheimer Märcheninsel erzählte. Märchen zum Nachdenken, voller tiefer Weisheiten, und doch fröhlich und leicht vorgetragen.
„Schlösser, Schlüssel, Spiegel - verborgene Botschaften um Märchen“ war das Motto 2021.
Sehr kurzfristig mußte das ganze Programm von den Organisatoren auf die Beine gestellt werden, denn die Pandemie fordert täglich neue Anpassungen. Tatsächlich gelang das Unterfangen, es wurde eine sehr harmonische und rundum märchenhafte Veranstaltung. Mit viel Mut und Engagement schaffte das Team einen kleinen Schritt zurück zu altem Glanz (2020 war die Veranstaltung komplett ausgefallen).
Da sich insgesamt nur jeweils 1000 Besucher auf dem Festgelände aufhalten durften, geriet verständlicherweise das Verhältnis zwischen Mittelaltermarkt und Literaturprogramm etwas ins Ungleichgewicht.
Traditionell zweigeteilt ist die Reichelsheimer Märchenveranstaltung, die vor Corona - und hoffentlich später auch wieder - Reichelsheimer Sagen- und Märchentage heißt. Es gibt einen bunten Mittelaltermarkt mit Handwerkern, Gauklern, Musik und Märchenzelt für Kinder, und natürlich viel Leckeres für Leib und Magen. Aber es gibt auch ein hochkarätiges Literaturprogramm: die lange Nacht der Märchen und einen Büchertisch, der übervoll ist mit Märchenbüchern und Büchern über Märchen. Früher wurde der Büchertisch von der Brensbacherin Ellen Schmid organisiert, als sie noch Buchhändlerin war, seit einigen Jahren hat das die Buchhandlung Valentin in Fürth übernommen.
DAS Alleinstellungsmerkmal für die Märchenhauptstadt Reichelsheim: das hochkarätige Literaturprogramm!
Für mich ist der Mittelaltermarkt draußen ein „nice to have“, das Literaturprogramm aber ein „must have“. Über viele Jahre wurden die Reichelsheimer Sagen- und Märchentage für mich zu einem Fixpunkt im Jahresverlauf.
Sind sich die Organisatoren der Veranstaltung bewußt, daß es genau dieses Literaturprogramm ist, das für Reichelsheim DAS Alleinstellungsmerkmal darstellt?
Mittelaltermärkte gibt es schließlich viele.
Aber wo kann man an einem Wochenende herausragenden Märchenerzählern wie Angelika Schreurs, Odile Néri-Kaiser, Heike Berg, Michaele Scherenberg, Katharina Ritter, Carola Graf, in früheren Jahren auch Sigrid Früh, Hannelore Marzi und Paul Maar lauschen!
Wo kann man den Märchenillustratoren Reinhard Michl, Albert Schindehütte, Klaus Ensikat oder Werner Holzwarth beim Zeichnen über die Schulter sehen! Und damit nicht genug: literarische Märchenbearbeitungen, Forschungsergebnisse zu Märchen aus aller Welt, vergleichende Betrachtung von Märchen ganz unterschiedlicher Herkunft, Rezeptionsästhetik (die Wissenschaft vom Senden-Empfangen-Verstehen) und tiefenpsychologische Erläuterungen von der Creme de la creme der Märchenforschung werden in einem kleinen Ort im Odenwald vorgetragen, der sich mit Recht „deutsche Märchenhauptstadt Reichelsheim“ nennen darf. Prof. Dr. Heinz Rölleke, Prof. Dr. Wilhelm Solms, Dr. Barbara Gobrecht, Prof. Dr. Kristin Wardetzky, Prof. Dr. Rosemarie Tüpker präsentieren ihr Fachwissen hier so anschaulich und unterhaltsam, daß ich mir gewünscht hätte, meine einst während des Studiums besuchten Vorlesungen wären ähnlich mitreißend dargebracht worden.
In Reichelsheim wird seit 1996 jährlich der Träger/die Trägerin des Wildweibchenpreises gekürt, und viele bekannte Schriftsteller reihen sich ein: Geschichtenschreiber und Geschichtsschreiber, Forscher und Erzähler. Mit Willi Fährmann (Kinder- und Jugendbuchautor aus Xanten) begann es, es folgten Hans-Christian Kirsch, Otfried Preußler (die kleine Hexe, Räuber Hotzenplotz, Krabat) und Michail Krausnick („Beruf: Räuber“ und viele weitere Werke z.B. über die Sinti und Roma). Cornelia Funke erhielt den Wildweibchenpreis im Jahr 2000 für ihr Gesamtwerk („Die wilden Hühner“), das damals jedoch noch längst nicht komplett war: mit Tintenherz, Tintenblut und Tintentod (2003-2007) landete sie das deutsche Pendant zur Welt Harry Potters, diese Trilogie begeistert vor allem Jugendliche und Erwachsene. Ich mußte ein ganzes Jahr warten, bis ich auf der Warteliste meiner Nichte „drangewesen“ wäre und habe mir die Trilogie logischerweise selbst gekauft...
Paul Maar (das Sams und Lippels Traum), Christine Nöstlinger (das „wilde und wütende Kind“, Kinder- und Jugendbuchautorin aus Österreich), Sigrid Früh (eine der bekanntesten Märchen- und Sagenforscherinnen Deutschlands mit wunderbar alemannischem Akzent) und Heinrich Pleticha (Literaturforscher aus Leidenschaft) folgten. Ehrhard Dietl aus München wurde 2005 für „Otto der kleine Pirat“ geehrt, Heinz Rölleke (Germanist und Erzählforscher), Sabine Friedrichson (Kinderbuchillustratorin) und Kirsten Boie (Kinderbuchautorin und Literaturwissenschaftlerin) kamen. Die Orientalistin Hannelore Marzi, Märchenerzählerin und Übersetzerin, wurde 2009 geehrt. Es folgten Reinhard Michl (Kinderbuchillustrator) und Wilhelm Solms (Germanist und Kunstwissenschafter), 2012 der Hamburger Illustrator Albert Schindehütte und 2013 die Märchenerzählerin aus Himmelstadt, Carola Graf. Andreas Steinhöfel („Rico, Oscar und...“, Drehbuch für Käpt‘n Blaubär und Urmel aus dem Eis u.a.) folgte 2014, Lisbeth Zwerger (Kinderbuchillustratorin) 2015. Prof. Kristin Wardetzky folgte 2016, Prof. Hans-Jörg Uther 2017, Dr. Barbara Gobrecht 2018 und Prof. Dr. Rosemarie Tüpker 2019. 2020 entfiel die komplette Veranstaltung aufgrund der Pandemie, und im Oktober 2021 wurden daher zwei Wildweibchenpreisträger geehrt: der Buchillustrator Klaus Ensikat (2020) und Werner Holzwarth 2021. Letzterer ist übrigens der Schöpfer des kleinen Maulwurfs mit dem Hundehaufen auf dem Kopf („hast du mir auf den Kopf gemacht? Nein, ich mache so“). Dieser Comic, der für die Sendung mit der Maus zu einem Film umgearbeitet wurde, hat mich so fasziniert, daß ich für die Kinder die an meinen Felsenmeerführungen teilnahmen ein AA-Memory erdacht habe. Erwachsene scheiterten oft daran, Kinder nicht. Denn ich hatte einen „geheimen Anker“ als Hinweis in die Kärtchen eingebaut.
Während der Vorträge im Literaturprogramm der Märcheninsel 2021 war man ziemlich unter sich, da leider im Vorfeld das interessierte Zielpublikum nicht erreicht wurde. Dies ist der Corona-Problematik geschuldet, und es bleibt sehr zu hoffen, daß der vermeintliche Mangel an Interesse nicht zum Tod des Reichelsheimer Märchenliteraturprogramms führen wird. Ich drücke ganz fest die Daumen daß dieses Programm weiterlebt!
Im Einzelnen brachten die Vorträge vielfach Neues, Interessantes, Überraschendes zu Tage:
- Prof. Dr. Solms referierte über das Leben im Schloß - ein Traum, der bei genauerem Hinsehen ein Alptraum ist: Solms glaubt nicht, daß die Königstöchter (die entweder umworben werden und dann auf dem Schloß des Gemahls leben oder die sich mit den berühmten drei Aufgaben einen ebenbürtigen Partner suchen) fürderhin glücklich bis an ihr Ende lebten.
Solms kann aus eigener Erfahrung berichten: es sei ein Unglück, als Kind auf einem Schloß großzuwerden, zusammengefaßt im Aphorismus „Macht macht blöd“. - Frau Dr. Prof. Tüpker stellte ein Märchen aus Birma vor und warf die interkulturelle Frage auf, was das Fremde mit dem Vertrauten, was das Vertraute mit dem Fremden macht. Wie ist das erste Hören eines Märchens aus einem fremden Kulturkreis?
Zum Verständnis mit Herz und Verstand benötigt der Hörer Anker, vertraute Elemente, die einen Bezug zur Erzählung herstellen können. Das Märchen „der Junge mit der Harfe“ aus Birma hat viele Ankermöglichkeiten, um Zuhörer aus einem fremden Kulturkreis einzubinden. Am Schluß aber steht eine kulturelle Dissonanz, die in Europa nicht von einem Märchen erwartet wird. Der Protagonist kehrt nicht heim und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, sondern er wird von der Schatzgöttin in der Anderswelt behalten, und man kann sein Harfenspiel im Rauschen des Meeres hören, wenn man aufmerksam lauscht. Alelrdings geschieht dies, indem zunächst die Teile des toten Körper des Jungen eingesammelt und neu zusammengefügt werden mußten zu einem neuen Wesen. Das ist für unsere Vorstellungswelt fremd. - Der Märchenforscher Hans-Jörg Uther - eine Koryphäe auf dem Gebiet der Grimmforschung, der inzwischen in der Bezeichnung der Grimm-Klassifizierung ATU auftaucht (ATU nach den Forschern Aarne, Thompson, Uther) - Uther nimmt das „Schloß“ im Märchen als sehr schemenhaft wahr, als Stereotype. Während es im Märchen um ein Schloß geht, spielt sich die Handlung in einer Sage eher auf einer Burg ab, im Schwank schließlich oft in einem Luftschloß. Das Leben auf dem Schloß zeigt das soziale Milieu des Feudalismus. Den Begriff Schloß gab es im Althochdeutschen nicht, erst im Mittelhochdeutschen mit der Bedeutung Befestigte Anlage. Später bezeichnet es nur das Repräsentative des Gebäudes.
Das Schloß im Märchen ist für den Protagonisten ein Weg, sich über festgelegte Standesgrenzen hinauszuträumen, eine Wunschdichtung voller Optimismus. Und es ist Symbol für Macht und Luxus: der soziale Aufstieg führt zwangsläufig ins Schloß.
Eine lustige Frage wurde aus dem Publikum gestellt: wird im Märchen jemals gesagt, wie das Schloß beheizt wurde? Nun ja... Das alles war vor langer langer Zeit, und wo im Märchen ein Ofen erwähnt wird, da ist es oft eine Art Seelentelefon (der Eisenofen). Ob man damit auch heizen konnte? - Die Schweizer Professorin Barbara Gobrecht beleuchtete die böse Stiefmutter im Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge. Nach Max Lüthi bedeutet Stief in Stiefmutter „stehlen, rauben“, und die Urfassung des Märchens - auch die Grimm-Ausgabe erster Hand stellt die Mutter des Mädchen als diejenige dar, die ihm nach dem Leben trachtet, 1819 wird daraus die Stiefmutter, die es bis zur Ausgabe letzter Hand 1857 bleibt. Das Zwergenhaus sei Biedermeier in Reinform, seine Bewohner befinden sich in der Regression (nach Drewermann). Gobrecht stellte die provokante Frage: Gibt es eigentlich Zwergenfrauen?
- Sehr aufschlußreich war der Vortrag von Prof. Kristin Wardetzki: sie beschrieb die Rezeption einer 800 Jahre alten persischen Dichtung, die noch heute im arabischen Kulturkreis überall präsent ist: Leyla und Madschnun (von Dschinnen Besessener), Ein Märchen mit Romeo & Julia Thema. Wardetzki regte an: fragen Sie mal einen Geflüchteten, ob er Leyla und Madschnun kennt - Sie werden überall auf glänzende Augen stoßen!
Der Dichter stammt aus Aserbeidschan, sein Name ist Nizami. Er verfaßte seine Dichtungen im 12. Jahrhundert und nannte sie „die fünf Schätze“. Selbst Papst Franziskus zitierte schon aus seinem Werk.
Der Bogen, den die Vortragenden während der 25. Reichelsheimer Märcheninsel schlugen, umfaßte das Märchenspektrum zahlreicher Kulturen auf der ganzen Welt, es wurde mitreißend erzählt und glasklar analysiert. Beides geht nur unter einer Bedingung zusammen: es braucht lebhaftes Interesse an der Märchenforschung, zugleich aber auch die Bereitschaft, sich auf ein Märchen einzulassen.
Für Kinder war diese Veranstaltung daher nicht geeignet, denn nie nie darf man einem Kind ein Märchen erklären. Kinder brauchen Märchen (Bruno Bettelheim), aber Kinder wissen auch selbst, welches Märchen gerade jetzt gut ist. Ärgern Sie sich nicht, wenn Ihr Kind dasselbe Märchen Abend für Abend hören möchte. Es ist gut so. Wenn Sie Ihrem Kind das Märchen erklären, töten Sie es - auch so ein Aphorismus, ich weiß nicht mehr wo ich ihn gelesen oder gehört habe...
Marieta Hiller, November 2021
Vom wilden Wolf und dem treuen Hund, von der Schönen Lau und von der blutroten Rose - zum Abschluß ein Wolfsmärchen...
Einst vor uralten Zeiten, als die Stücke der Welt noch nicht zueinandergefügt waren, da lag gerade dort, wo der Wald am tiefsten war, eine Quelle von grünfunkelndem Wasser. Des Abends kam alle Tage ein wilder Wolf dorthin um sich zu laben. Doch wenn er trank schaute er nachdenklich ins unergründliche Wasser. Er war schon ein älterer Wolf, der viel nachzudenken hatte.
Eines Abends erklang plötzlich ein wunderschönes Lied an der Quelle, gesungen von einer zarten Stimme, und als der wilde Wolf aufblickte, da saß auf einem Stein bei der Quelle eine Nymphe mit goldglänzendem Haar. Sie sang so ergreifend schön, daß dem Wolf ganz warm ums Herz wurde. Viele Abende lauschte er nun der Nymphe, die bald keine Scheu mehr vor dem wilden Wolf hatte und ruhig dort sitzen blieb. Und so geschah es, daß die beiden sich ineinander verliebten.
Weil nun aber Wölfe und Nymphen nicht zusammenkommen können, wurden sie traurig. So traurig, daß die kleine Quellnymphe heiße Tränen auf den Stein fallen ließ und der wilde Wolf schaurig dazu heulte. Auf einmal aber, gerade dort, wo Nymphentränen auf den Stein perlten, begann eine zarte Pflanze emporzuwachsen. Sie rankte sich um den Stein, und schon erklomm sie die Vogelbeerbäume ringsum.
Zarte weiße Blüten öffneten sich, violett geädert und wohlduftend. So kam die erste Waldrebe in die Welt. Erstaunt schaute die Nymphe zu, streckte ihre zarten Hände aus und streichelte die wunderhübschen Blüten. Es war jedoch eine besondere Waldrebe: denn sogleich drehte sie ihre Blüten zu Wolf und Nymphe und hub zu sprechen an.
„Wildes Tier und Zauberwesen, wollt zusammen ihr euch tun, so ists um eure Freiheit flugs geschehn! Seid denn fortan aufeinander angewiesen, dann will ich euch mit Namen jetzt versehn.“
Da ließ der wilde Wolf ein herzzerreißendes Heulen hören, und ebenso traurig klang der Gesang der Nymphe.
„Nun, so soll es denn sein:“, sprach da die Waldrebe. „So heißest denn du fortan Eisengrimm Wolfhart zu Wulfenstein, du wilder Wolf! Und Schöne Lau vom Blauen Topfe sollst nun du dich nennen, liebe Nymphe. Ich will euch zueinanderführen. Doch bedenkt: sobald einer einen Namen hat, bekommt ein höheres Wesen Macht über ihn. Nicht länger ist die Freiheit euer!“
Schon lagen sie sich in den Armen, herzten und drückten sich, daß die Waldrebe verschämt ihre Blüten wegdrehte. Lange noch saßen Wolf und Nymphe eng umschlungen dort an der Quelle, so lange, bis der neue Tag anbrach. Da wollte Lau, wie es Nymphenart war, flugs in der Quelle untertauchen, um bis zur blauen Stunde des Abends den Tag zu verschlafen. Eisengrimm dagegen eilte durch den tiefen Wald zu seinem Rudel. Doch wie verwundert war er, daß die Seinen ihn kaum beachteten!
Ihn, den mächtigsten Wolf im Rudel, der Wege und Weisen ebnet und alle führt! Nicht so an diesem Morgen: das Rudel beriet seine Pläne, und er blieb ausgeschlossen. Zugleich mußte Lau erfahren, daß sie unter Wasser gar nicht atmen konnte! Wieder und wieder mußte sie ihr goldglänzendes Köpfchen aus dem Wasser strecken, vorsichtig auf der Hut vor den Sonnenstrahlen. Am Abend berichteten beide atemlos wie es ihnen den Tag ergangen war.
Die Waldrebe aber sprach:
„das ist der Preis für euren Namen. Und so werdet ihr nun beide aufeinander angewiesen sein! Über Jahr und Tag soll es sich erweisen, ob ihr euch euren Namen wohlverdient habt!“
Damit schloß die Waldrebe ihre Blüten, und fortan mußte Lau sich bei Tage im tiefen Wald verbergen, so daß kein Sonnenstrahl ihr goldnes Haar entzünden konnte. Eisengrimm aber schlich um sein Rudel und wußte nicht wie ihm geschah. Wohl griff ihn niemand an, doch galt er nicht mehr als Leitwolf. Wie froh waren beide, daß sie sich hatten! An jedem Abend zur blauen Stunde saßen sie an der Quelle beisammen und berichteten was sie erlebt hatten. Lau kraulte das dichte Eisengrimms Fell und der konnte gar nicht genug von ihren goldenen Haaren bekommen.
Und übers Jahr war dort, zwischen all den Vogelbeeren, ein Apfelbäumchen gewachsen. Der Herbst war da, und die wohlduftende Waldrebe ließ sich vernehmen, es war gerade der Tag nach einem vollendeten Jahr:
„Nun, so habt ihr euch bewährt und euren Namen wohlverdient. Nehmt nun was euch der Apfelbaum zu geben hat und lebt Wohl!“
Am nächsten Abend war die Waldrebe verschwunden, aber am Apfelbäumchen hing ein großer rotbackiger glänzender Apfel. Die schöne Lau pflückte ihn erfreut, biß herzhaft hinein - denn in ihrem früheren Nymphenleben gab es ja nichts zu essen! - und reichte ihn an Eisengrimm weiter. Der aber hatte bisher nur Fleisch gefressen, doch der Apfel schmeckte ihm vorzüglich.
Nun hub der Apfelbaum zu sprechen an:
„hütet meine Äpfel, sie werden euch Nahrung sein. Sobald sie geerntet sind, werdet ihr euch ein Haus bauen müssen und du schöne Lau wirst dir ein Kleid weben müssen. Du aber Eisengrimm mußt bei ihr leben, zuvor jedoch mußt du eine Prüfung bestehen: geh zu deinen Wölfen, laß die Deinigen schwören, nicht mehr auf Menschenjagd zu gehen. Verpflichte sie auch, die Schafe der Menschen nur in der größten Not zu reißen. Heimlich im Wald sollen sie leben, die Feuer der Menschen nur scheu von ferne umringen.“
Und so geschah es.
So schwer es Eisengrimm ankam, schließlich gelang es ihm: sein Rudel gewährte im Gehör. Und weil er früher ihnen ein guter und weiser Leitwolf gewesen war, faßte das Rudel nach langer Beratung diesen Beschluß: „Du Eisengrimm, sollst einsam als wilder Wolf durch die Wälder streifen, denn du bist uns zu seltsam geworden. Wir aber wollen dir versprechen, den Menschen und ihren Tieren aus dem Wege zu gehen, weil es ein Mensch ist den du liebst. Sie sollen in ihren Dörfern bleiben, wir verbergen uns in der Wildnis. So leb denn wohl du seltsamer Eisengrimm.“
Und so schlich der Wolf zurück zur Quelle, wo die Schöne Lau emsig an einem Hemdchen aus Zauberwolle webte. Sie fröstelte, und sie litt unter der Kühle und Feuchtigkeit rings um die Quelle. Beide fühlten sich sehr einsam. Wie froh waren sie da, daß sie einander hatten!
So vergingen viele Jahre, die schöne Lau hüllte sich im Herbst in wunderhübsche Gewänder und hielt ihr Häuschen sauber und warm. Im Herbst wurden die roten glänzenden Äpfel reif, und Lau trug sie in ihre Hütte, vor der sich der alte Eisengrimm in den letzten Sonnenstrahlen ausgestreckt hatte. Schon längst war seine Schnauze weiß geworden, und die Schöne Lau trug Silberfäden im Gold ihrer Haare. Doch kein Herbst verging, in dem es nicht genügend Äpfel für beide gab. Und kein Winter verging, in dem es kalt in ihrer Hütte wurde.
Denn wie die Schöne Lau seit jenem Abend an dem sie ihren Namen erhielt, die Sonne nicht mehr fürchten mußte, so brauchte Eisengrimm seit ebenjenem Abend das Feuer nicht mehr zu meiden. Der Wolf war zum zahmen Freund und Begleiter geworden, und die Quellnymphe zu einer Menschenfrau. Einträchtig saßen beide abends am Kaminfeuer und wärmten ihre alten Knochen. Draußen vor dem Fenster plätscherte die kleine Waldquelle, und der Apfelbaum stand starr im Frost.
Aber kein Frühling ohne duftende Apfelblüten verging. Eines Tages aber, nach unzähligen Apfelherbsten, Winterfeuern und Frühlingsdüften war am Apfelbaum eine Rose emporgeklettert. Gerade an dem Tag, als die Apfelblüten zu duften aufhörten und kleine grüne Knubbel wurden, da öffnete die Rose ihre blutroten Blüten, und ein Duft entströmte ihnen, daß die beiden Alten vor der Hütte ganz betört davon wurden. Vor Freude perlten der Schönen Lau ein paar Tränen aus dem Auge, und Eisengrimm witterte vergnügt in die Luft.
Da sprach die Rose, und dabei legte sie allerliebst ihre blutroten Blütenblätter zurecht:
„Alt seid ihr geworden, einsam seid ihr gewesen, doch zueinander habt ihr gehalten. Deshalb soll Eure Liebe für alle Zeiten währen. Das ist mein Geschenk an euch. Doch eine Bedingung sei daran geknüpft: du Eisengrimm, und all die Deinen, ihr werdet fortan dem Menschen dienen. Werdet treu und unerschütterlich an seiner Seite sein und euren Hunger könnt ihr nur stillen, wenn er euch etwas gibt. Die Deinen werden früh sterben, doch sei gewiß: die Menschen werden um sie trauern. Du Schöne Lau, bist in vielen Wintern zu einer alten Menschenfrau geworden. Du und Deinesgleichen sollt Eisengrimms Nachfahren beherbergen als Mitgeschöpfe, die euch zur Sorge übergeben sind. Doch bedenke: wie auch eine Rose Dornen hat, so haben diese Tiere Zähne, und sie verstehen sie einzusetzen. Behandelt sie also gut, so werden sie es euch danken.“
Und seit jenem einzigen Tag, als die Rose sprach, sprach sie nimmermehr.
Eisengrimm und die Schöne Lau aber lebten glücklich und zufrieden in ihrer einsamen Hütte beim Apfelbaum, und wer weiß - vielleicht leben sie dort heute noch. In jedem Frühsommer besiegelt eine blutrote Rosenpracht die Liebe, die beide einst begründeten.
Marieta Hiller, Winter 2013
In einem Land weit weit weg, wo die Büttel des Königs keine Steuern eintreiben konnten...
Aber nicht vor langer langer Zeit, sondern genau heutzutage
Ein "Realchen" von Marieta Hiller
Nun, so setzt euch zu mir, ich will euch eine Geschichte erzählen. Welche Lehre ihr daraus zieht, müßt ihr selbst entscheiden. In jenem fernen fernen Land, dessen Name nach Abenteuer, Urwald und Piraten klingt, da lebt ein Flußmonster mit vielen Köpfen, und wann immer ein mutiger Held zu den Ufern seines Heimatstromes aufbrach und ihm einen oder zwei Köpfe abschlug, so wuchsen sofort doppelt so viele nach.
Dieses Monster verkroch sich am liebsten im dunklen undurchdringlichen Wald, wo es weder Finanzamt noch Kartellamt finden konnte. Und was glaubt ihr, was es am liebsten fraß? Buchhändler! Das Monster schnappte sich einen nach dem anderen, bis man in keinem Dorf und in keiner Stadt des Landes mehr einen finden konnte. Denn das Monster hatte sehr lange Klauen! Es mußte seinen finsteren Urwald nicht einmal verlassen, um sich die Buchhändler zu holen. Dazu hatte es nämlich ein Netz - ein Netz, so gewaltig, daß es die gesamte Erde umspannen konnte!
Natürlich merkten die Menschen von alledem nichts, denn längst waren sie dem Monster auf den Leim gegangen. Sein Netz war nämlich mit süßem Leim bestrichen, dem kaum ein Mensch widerstehen konnte.
Bald hatte das Monster alle Geschäfte der gefressenen Buchhändler übernommen, und es gab sich nicht mit Büchern zufrieden! Sein Netz überspannte bald auch Filme, Musik, Essen, Trinken und alles, was Menschen nur haben wollten - sogar die Goldstücke, mit denen alles bezahlt werden mußte.
Es währte nicht lange, da konnte sich kaum ein Ladenbesitzer noch am Leben erhalten, ein Geschäft nach dem anderen mußte schließen. Denn alle wollten nur noch die Dinge aus dem süßen Netz haben.
Bald waren die Einkaufsstraßen ausgestorben, aber das merkte niemand. Denn niemand mußte noch sein Haus verlassen. Das süße Netz brachte ihm alles nach Hause, was das Herz begehrte. Die Menschen saßen vor ihren Babbelkästen, die in Wahrheit die geheime Pforte zum süßen Netz waren. Sie starrten hinein und wurden immer tiefer ins Netz gezogen - jeder Raum hatte wiederum viele Türen, die in neue Räume führten, mit noch viel mehr Türen. Und so fanden die Menschen bald nicht mehr heraus und waren gefangen. Sie gingen nicht mehr an die frische Luft - wozu auch? Es war ja sonst niemand da draußen!
Halt, nicht ganz: ETWAS war noch da draußen! Es brummte und hatte laute Schiebetüren, und ständig sprang ein Sklave heraus und schleppte Pakete zu den Wohnungen der Menschen. Wohl hatten die Pakete ein sehr fröhliches Gesicht, nicht aber die Sklaven die sie Tag für Tag verteilen mußten. Sie schufteten und schufteten, und hatten doch nie genug Brot auf dem Tisch.
Bald aber - und das ist es, was ein Realchen von einem Märchen unterscheidet: es weist auf die Zukunft hin - bald aber, wenn die Menschen in ihren Sesseln festgewachsen sein werden und keine Beine mehr haben, dafür aber sehr sehr bewegliche Finger, dann wird eine Zeit kommen wo es nicht mehr ein einziges Geschäft geben wird, in dem man etwas kaufen könnte. Alles was die Menschen brauchen, werden sie im süßen Netz finden, und die Sklaven bringen es ihnen in fröhlich lachenden Paketen.
Das ist nicht das Ende der Geschichte, leider! Ihr wißt ja, hinter dem süßen Netz lauert das vielköpfige Monster. Und wenn es soweit ist, wird es sich der Prinzessin ihr Kind holen. Ihr fragt euch jetzt, wie in diese Geschichte das Kind der Prinzessin geraten konnte? Nun, so denkt nach: was ist euch das Allerwichtigste auf der Welt? Richtig, ein jeder von euch nennt etwas anderes. Und deshalb müssen wir dafür ein Bild nehmen - und dieses Bild ist eben der Prinzessin ihr Kind. Euer Liebstes, euer Herzblut.
Das Monster giert nach eurem Herzblut! All diesen ganze Aufwand mit der Buchhändlerfresserei und dem süßen Netz betrieb es nur, um an euer Liebstes zu kommen. Und gnade euch Gott, wenn es soweit ist!
Marieta Hiller, September 2021
*Realchen sind das Gegenteil von Märchen. Erinnern Sie sich noch an die Sendung im SDR in den 70er Jahren - mit dem Hondebott, mit Ringselsalz und dem kranken Realchenerzähler?
2009 schrieb Kobold Kieselbart diesen Brief:
Liebe Koboldfreunde, Heute ist nun Heilig Abend und dann ist Weihnachten, und auch wir Kobolde haben nun bald alle Arbeit geschafft. Was heute kaum noch jemand weiß: in früheren Zeiten lebten wir Kobolde als Hausgeister. Wir ließen es uns wohl ergehen in den gemütlichen alten Bauernhäusern, und die Hausfrau war stets darauf bedacht, am Abend einen Topf mit Milch oder Suppe ohne Deckel auf dem Herd stehen zu lassen. Dies war die Speisung der Kobolde. Zum Dank sorgten wir dafür, daß im Hause alles in Glück, Wohlstand und Gesundheit lebte. Wehe aber, die Hausfrau deckte alle Töpfe zu! Dann schepperte es nachts fürchterlich, und wir Kobolde hatten am nächsten Tag schlechte Laune. Was zu einigen unschönen Szenen und Schabernäcken geführt haben soll ...
Heute gibt es keine Großfamilien mehr, keine winkeligen Bauernhäuser, keine Milchtöpfe ohne Deckel, ja nicht einmal mehr einen warmen Herd! Die Töpfe kommen in den Kühlschrank (diese Türen gehen ja wirklich schwer auf, aber manchmal schafft es einer von uns - haben Sie sich noch nie gefragt, wer wohl wieder die Wurst angebissen hat?), der Herd ist elektrisch und nachts eiskalt, und wir Kobolde können uns nun wirklich nicht auch noch ständig um jeden Eineinhalb-Personen-Haushalt kümmern! Also sind wir hinaus ins Felsenmeer gezogen - das war um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts - und haben uns dort in Wurzelstübchen unter heimeligen Felsen wohlig eingerichtet. Abends kommen der Igel, die Eichhörnchen und der Schmutzfink zum Plausch, und gemeinsam lachen wir oft herzlich über die albernen Späße der Menschen. Da waren doch tatsächlich schon welche mit einem Boot auf dem Autodach auf der Suche nach dem Felsenmeer - dem Felsen-MEER!
Andere stolzieren in Stöckelschuhen bei uns herum, aber am schlimmsten sind die, die ihren Müll hier bei uns im Felsenmeer liegenlassen! Doch die allermeisten Menschen, die uns besuchen kommen, sind zum Glück vernünftig und freundlich, und so haben wir schließlich (muß so um Himmelfahrt 1999 gewesen sein) beschlossen, daß wir uns den Menschen auch mal zeigen können. Seither nahmen wir unzählige nette Menschen mit zu unseren allergeheimsten Plätzen im Felsenmeer und erzählen Ihnen die Wahrheit über Kobolde, Riesen und die Entstehung des Felsenmeeres. Selbst die alte Hutzel hat sich ein Herz gefaßt und erschien manchen Menschen, sie wurde mehrfach gesichtet.
Aber heute! Wie sieht unser Felsenmeer heute aus?!
Corona kam, und mit dem Virus kamen die Menschenmassen. Bald schon fing das ganze Felsenmeer an nach Müll zu stinken, der Waldboden wurde so fest getrampelt, daß die Baumwurzeln keinen Halt mehr finden, und wir vom Kleinen Volk haben uns tief tief in unsere geheimen Gänge verzogen. Schließlich habe sogar ich als Menschenbeauftragte des Kleinen Volkes beschlossen, daß ich mich nicht mehr zeigen werde. Keine Koboldtouren mehr, keine Schatzsuchen, keine Geschichten aus dem Zauberwald mehr - zumindest nicht für Menschen. Und wir hätten noch so viele Geschichten zu erzählen! Und wenn ihr sie nicht glaubt: ein winziger Kern Wahrheit steckt in allen Geschichten - man muß ihn nur sehen wollen... Der Kern in dieser Geschichte ist leider nicht winzig, sondern unübersehbar!
Feiert gemütlich Euer Weihnachtsfest, kommt zur Ruhe und kuschelt euch ein, denkt über das letzte Jahr nach und was im neuen Jahr so alles kommen mag, bleibt zuversichtlich und sammelt neue Energie! Und paßt endlich auf eure Natur auf, denn darin leben wir! Das wünschen sich und euch Euer Kobold Kieselbart und alle Kobolde - auch die alte Hutzel!!!
Spätsommer 2021 - M. Hiller
Einst vor vielen vielen Sommern lebte im Odenwald ein armer Köhlerssohn, dem die Lust am Kohlenmeilerbewachen abhanden gekommen war. Ja eigentlich ist noch nicht einmal sicher, ob er dazu überhaupt je Lust gehabt hatte. Jedenfalls schnürte er eines schönen Tages im Spätsommer sein Ränzlein, nahm den dicken Wanderknüppel des alten Köhlers und drückte seiner Mutter zum Abschied einen dicken Kuß auf die Wange, bevor er sich auf Wanderschaft begab.
Drei Tage stapfte er durch den Wald, drei Nächte schlief er im Dickicht, da entdeckte er eines Morgens ein Kästchen. Mitten auf seinem Weg durch das reife Gras einer Lichtung wäre er beinahe darüber gestolpert. Hoppla, dachte er. Was für ein hübsches Kästchen! Das bringe ich der Mutter mit. Doch zuerst schaue ich hinein, was denn wohl darinnen sein könnte... Jedoch, das Kästchen war verschlossen, und der Köhlerssohn konnte ziehen, drücken, schütteln und schimpfen – das Kästchen blieb auch verschlossen. Ein Schlüssel müßte dazu zu finden sein, dachte er. Und schon flötete ein Rotkehlchen vom Baum: „Schlüsselchen hie! Schlüsselchen hie!“ Wie der Köhlerssohn nach oben schaute, sah er es gülden zwischen den Zweigen hindurch glitzern, und ein Schlüsselchen von feinstem Gold fiel zu seinen Füßen hin.
Geschwind bückte er sich, hob das Schlüsselchen auf, steckte es ins Schloß vom Kästchen, drehte es herum, und dann... Dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis das Kästchen geöffnet war und wir dem Köhlerssohn über die Schulter schauen konnten, was denn wohl darinnen sei! Ein goldgelb glänzender, süß duftender Apfel lag darinnen, so frisch und saftig, als sei er eben noch am Baum gehangen – doch weit und breit ließ sich im dunklen Wald kein Apfelbaum sehen!
Der Köhlerssohn freute sich, denn er hatte großen Hunger – der war eigentlich sein ständiger Begleiter, solange er denken konnte! Sogleich biß er herzhaft hinein in den Apfel, und ein großes Stück verschwand in seinem Mund. Doch da begann es mit feinen Stimmchen zu zetern und zu schimpfen! Mitten aus dem guten Apfel heraus tönte es fein und glockenhell: „was fällt dir ein! Unsere Stübchen aufzubrechen? Uns Bübchen die warme Hülle zu nehmen? Sag uns einen guten Grund, sonst sollst du verwünscht sein, alle Tage bis zu deinem Ende in diesem Wald herumzuirren!“ Da erschrak der Junge und rief: „Hunger hatte ich! Und der Apfel sah so gut und nahrhaft aus. Aber ich wollte euch nicht um eure Stübchen bringen!“
Denn schon seine Mutter hatte ihm in früheren Tagen immer die Geschichte von den fünf Bübchen in ihrem warmen Stübchen erzählt, die irgendwann einmal hinaus in die weite Welt wollten. Und nun war er selbst in die weite Welt gezogen, und auf einmal vermißte er die Mutter sehr. Die Bübchen zwitscherten mit ihren feinen Stimmchen: „so sei es dir verziehen. Hunger ist ein schlimmer Berater, und du bist fern vom Mütterlein – gerade so wie wir! So iß denn auch den Rest unseres Apfels noch auf, aber eine Bedingung haben wir doch!“ „Nun, so sagt mir gleich, welche das ist, dann will ich alles so halten wie ihr es euch wünscht,“ sprach der Köhlerssohn.
„Steck uns alle fünf in deine Tasche, halt uns trocken und warm, und wenn du einst nach Hause kommst, so leg uns flugs in die schwarze Erde und gib uns zu trinken. Dann sollst du niemals mehr Hunger leiden.“ Der Köhlerssohn verwahrte die Bübchen wohl und stapfte gestärkt drei Tage und drei Nächte zurück zu Mutter und Vater und dem Kohlenmeiler. Der Vater schimpfte, daß er unverrichteter Dinge zurückgekehrt sei, die Mutter herzte ihn. Er aber nahm die fünf Bübchen aus seiner Tasche und legte sie im Garten mitten hinein in das Blumenbeet der Mutter.
Und was glaubt ihr wohl, was geschehen ist? Kaum war der Winter ausgezogen, da wuchs im Beet ein Apfelbäumchen, es wuchs und wuchs, und als der Köhlerssohn alt genug war, um in die Welt hinauszuziehen, da hingen tausendundein güldenes Äpfelchen daran – so köstlich, wie noch niemand je gekostet hat. Auch du und ich wohl sicher nicht.
---
Schlußversion 2: Der Junge aber tat wie ihm geheißen, und seit diesem Tag fand er jedesmal, wenn er das goldene Schlüsselchen im Schloß des Kästchens drehte, einen neuen goldenen Apfel darin. Die werden herangeschleppt von der Schnecke und dem Rotkehlchen, geradewegs von jenem Apfelbaum dort drüben – schaut nur genau hin! Marieta Hiller, 2013
Während der 20. Reichelsheimer Märchen - und Sagentage 2015 fand Referentin Prof. Kristin Wardetzky (Berlin) deutliche Worte zur Aktualität von Märchen in der heutigen Zeit. Märchen sind zu allen Zeiten gewandert, die Motive in vielen Ländern der Erde gleichen sich. So kann es geschehen, daß man im Herzen von Afrika ein Märchen hört, dessen Stoff sehr ähnlich auch in Mexiko, Grönland oder Indien erzählt wird.
Es ist wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: immer spricht das Märchen „Ich bin schon längst hier!“ Die Menschen, die auf der Flucht vor Elend und Verfolgung nach Deutschland kommen, haben oft nichts im Gepäck als ihre Hoffnung. Und im Kopf die Märchen. Jeder Mensch kennt Märchen, oder wenigstens eines. Sie sind das innerste Kulturgut aller Erdbewohner, gleich woher sie stammen.
Märchen können helfen, um Flüchtlinge bei uns zu integrieren. Dabei müsse man den Begriff Inklusion entschieden ablehnen. Er beinhalte die Vorstellung von Einschluß. Viel besser sei das Wort Integration. Dieser Begriff, der aus dem lateinischen stammt und „Herstellung einer Einheit oder Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (in-teger bedeutet unberührt) meint, gibt besser wieder, daß es um Gemeinschaft anstatt um Assimilation geht.
Märchen erzählen: wie geht das, wenn jemand keine Sprachkenntnisse hat? Da gibt es das Projekt „Sprachlos“, bei dem Märchenerzähler in die Schulen gehen und erzählen. Mit Händen und Füßen, mit Bildern, mit gebrochenem Englisch oder Französisch. Und es dauert nicht lange, da können die „sprachlosen“ Kinder, die Kinder die unsere Sprache nicht sprechen, selbst ihre eigenen Märchen erzählen. Es ist eine besondere Kraft, die in den Märchen steckt, daß sie über Augen Ohren und die Herzen Zugang zu den Menschen finden.
Wichtig ist es, daß auch Erwachsene Märchen hören und erzählen. Und es ist der Anfang einer wundervollen Erzählkultur, wenn die „sprachlosen“ Kinder dann nach Hause kommen und ihre Eltern fragen „haben wir denn auch unsere Märchen?“, und die Eltern graben längst Verschüttetes aus ihrer Erinnerung aus und finden dort tatsächlich - ein Märchen! Der Auszug in die Fremde fand also - und findet immer noch - auch für die Märchen statt.
Wilhelm Grimm war der erste, der die Verzweigung der Märchenstoffe in aller Welt entdeckte. Wie ein riesiges Pilzgeflecht, das unter der Erde weit entfernte Pflanzen miteinander verbindet, so umfassen die Märchen die Welt. Märchen fahren um die Welt, mit Reisenden, mit Flüchtlingen, mit dem fahrenden Volk. Eine viale Erzählgemeinschaft (vial von via der Weg, Prof. Dr. Wilhelm Solms) hat sie im Gepäck, sie wiegen nicht schwer und sind doch so wichtig. Beim Fahren wird Erfahrung (sic!) in Geschichten gegossen, in allgemeingültige und für alle Zeiten bedeutsame Märchen.
Es gibt wunderschöne Zigeunermärchen, wie Prof. Dr. Solms erzählte. Ja, "Zigeuner" darf man sagen. Das Wort, vor einigen Jahren erst zur political incorrectness verurteilt, dieses Wort ist die Bezeichnung der Sinti und Roma für sich selbst, sofern sie Fahrende sind. Aber der tatsächliche Mord an der ethnischen Minderheit der Sinti und Roma findet seine Spiegelung im Mord an den Zigeunermärchen. Und so finden wir am Schluß vieler Zigeunermärchen einen Zusatz wie: „seitdem lügen die Zigeuner immer. Und wenn sie nicht gestorben sind, lügen sie noch heute.“ Oder „Aber Petrus brachte ihnen bei, wie sie zu betrügen hätten.“ Woher kommt dies? Es gibt eine einfache Erklärung dafür: Zigeuner schreiben ihre Märchen nicht auf. Sie erzählen sie. Und zwar auf Romani. Wer sie aufzeichnet, das sind Fremde, die ihr eigenes Bild vom Zigeunerleben in ihre Aufzeichnung einfließen lassen.
Nun habe ich ein Rätsel für meine Leserinnen und Leser:
wenn ein Zigeuner sagt „ich lüge immer“ - hat er dann in diesem Augenblick die Wahrheit gesprochen (dann hätte er nicht gelogen und seine Aussage wäre damit gelogen) oder hat er gelogen (dann würde er gar nicht immer lügen, denn er hätte ja die Wahrheit gesagt und das tut er nach eigener Aussage nie). Wer dieses knifflige Paradoxrätsel lösen kann, der wird ganz sicher auch Elend und Verfolgung beenden können.
Ungelogen: Zigeunermärchen werden erzählt und nicht aufgeschrieben
Antiziganistische Märchen - das ist die Märchengattung der moralisierenden und verfremdeten Zigeunermärchen - sind also nicht originär. Dagegen gibt es Tonbandaufnahmen des ungarischen Zigeuners Lajos Ámi, die niedergeschrieben und veröffentlicht wurden (http://www.ungarninfo.org/OldHomePage/land_leute/z_maer1.htm), und diese sind originär. Das Fahrende Volk, die Nicht-Seßhaften, haben ihre eigene Kultur, ihre eigenen Märchen. Sie nennen sich Zigeuner, Jenische, Tinker. Sie haben oft ihr Haus verloren wie einst der Odenwälder Räuber Mannefriedrich, und damit auch das Aufenthaltsrecht. Ohne Passepartout verlieren sie das Recht ihr Dorf oder auch ein anderes zu betreten.
Beklemmende Aktualität hat ein Detail aus dem Vortrag von Hans Sarkovicz, Ressortleiter HR Kultur. Er erläuterte das Schaffen von Ludwig Emil Grimm, dem Malerbruder von Jakob und Wilhelm Grimm. Ludwig Emil ist als der Erfinder des Comics zu betrachten: er zeichnete beispielsweise eine neun Meter lange "Schweinerolle". Sarkovicz zeigte ein Foto vom vielgenutzten Reisepaß Ludwig Emils, den die Zollbeamten zu jener Zeit aus Angst vor der Pest nur mit der Zange anfaßten, bevor sie ihren Stempel hineindrückten. Heute sieht man in der Tagesschau, wie Flüchtlinge von Helfern mit Mundschutz und Einmalhandschuhen begrüßt werden - so als hätten sie die Pest. Dabei sind es Menschen wie alle, nur ohne Heimat - und das unverschuldet...
Das klingt uns doch sehr aktuell, oder nicht? Wir kennen den Teufelskreis: ohne Wohnung gibt es keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Aber wir glauben alle, daß das UNS ja nicht betrifft. Und doch können wir sehr schnell in diese Situation geraten - und haben dann nichts mehr im Gepäck als die Hoffnung und die Märchen. Die 20. Reichelsheimer Sagen- und Märchentage im Oktober 2015 wurden zu einem Sprachrohr für Verständigung, für Gemeinschaft, für Unterstützung der zahllosen Flüchtlinge, die seit diesem Spätsommer nach Deutschland kommen. Das Motto „Brücken zwischen Menschen und Kulturen - Märchen aus Europa“ stand schon im Herbst 2014 fest, doch damals konnte noch keiner ahnen, wie brandaktuell es werden würde. Die Referenten und Märchenerzähler haben ihre Vorträge an die Situation dieses Herbstes angepaßt und wortgewaltige Argumente für die Eingliederung von Flüchtlingen, ja zuerst einmal für ihre freundliche Aufnahme, gefunden.
„Toleranz ist zu wenig. Achtung und Anerkennung ist erforderlich.“ so Prof. Solms.
----
Mit Wehmut erfüllte ein weiterer Vortrag der Märchen- und Sagentage 2015: Helmut Früh ging aufs Märchen-Podest und erzählte sehr mitreißend das Lieblingsmärchen von Sigrid Früh. Sie war sehr oft als Märchenerzählerin bei den Märchen- und Sagentagen, bis eine Krankheit sie verstummen ließ. Aber dem "Eselein" - ihrem Lieblingsmärchen, lauschte sie lächelnd. "Der Hut der großen Dame und drunter das rote Haar des Wildweibchen" - so beschreibt Odile Néri-Kaiser die Grande Dame der modernen Märchensammlung. Odile Néri-Kaiser, selbst Märchenerzählerin und für die wiederum erkrankte Hannelore Marzi eingesprungen, erzählte das Märchen "Finon et Finette" - das den Bogen zum aktuellen Thema "Migration der Märchen" schließt: es ist nichts anderes als die französische Urform von Hänsel und Gretel, das wir alle kennen. Vieles gäbe es noch zu erzählen über die Sagen- und Märchentage in Reichelsheim, aber Selbst erleben ist 1000 mal besser! Marieta Hiller, 28.10.2015
Dicke Luft herrschte einst beim Kleinen Volk im Zauberwald: „Der liebe Gott ist ein Eichhörnchen!“ riefen die Mooswichtel. „Er sieht von oben alles!“ und drücken dabei ihre goldene Nuß an die Lippen. Allerdings waren sie sich da nicht ganz einig: die Mooswichtel der Nadelwälder glaubten an das schwarze Eichhörnchen, die Mooswichtel der Laubwälder an das rote. Das konnte nicht gut gehen.
Da ließen sich auch schon die Zwerge vernehmen: „der liebe Gott ist ein kleiner gelber Vogel!“ Dazu muß man wissen, daß die Zwerge tief unten im Bergwerk ihre Erze abbauen, wo es immer finster ist und böse Wetter herrschen können.
„Wie oft habt ihr euren lieben Gott mit den Füßen nach oben aus dem Berg getragen?“ fragte sogleich ein vorwitziger Kobold.
„Er steht aber immer wieder auf!“ beharrten die Zwerge, verbeugten sich tief und rieben ihre Nasen an der Erde.
Die Kobolde aber verehrten die Knispelmäuse als ihr oberstes Wesen. „Wenn wir traurig sind, dann kommt eine von ihnen, schaut uns an mit ihren Knopfaugen und wackelt mit den Schnurrhaaren - und schon geht es uns wieder gut.“ Und schnell steckte der Kobold ein Räuchstäbchen in seinen heiligen Käse.
„Euer lieber Gott ist kein lieber Gott. Er wohnt im Pilzgeflecht und wacht über alles, er sieht alles, hört alles, und wenn wir nicht brav sind, schickt er uns seine schwefligen Pilzdünste zur Strafe.“ schimpfte der Waldschrat.
Da ließ sich auf einmal auch die alte Hutzel vernehmen, die dem ganzen Streit still gefolgt war. „Seht ihr denn nicht, was dahinter ist? Wer hinter die Dinge schaut, der erkennt die Wahrheit...“ Alle waren erstaunt, denn es kam wirklich höchst selten vor, daß die alte Hutzel einmal ihre Weisheit hören ließ. „Gott ist soviel größer als alle eure Eichhörnchen, Knispelmäuse und Kanarienvögel, auch größer als das Pilzgeflecht, obwohl ich zugeben muß daß das wirklich riesig ist.“
Da gingen alle sehr nachdenklich auseinander und niemand weiß, ob sich auch bei den Menschen solche Gedanken gemacht werden. Der liebe Gott währenddessen, er saß oben im Himmel und lächelte. Und er war in den Kanarienvögeln, im Pilzgeflecht, in den Eichhörnchen - gleich ob sie schwarz oder rot waren, und in den Knispelmäusen. Und in den Bäumen, Gräsern, im Moos, im Bächlein, in der Sonne, in den Rehen, in den Wölfen, in den Kobolden, in den Zwergen, dem Waldschrat, den Wichteln, und - ja, auch in den Menschen. Aber das wußte nur er ganz allein... Marieta Hiller, im Oktober 2015
Der goldene Boden des Handwerks
Vorzeiten war ein Schneider,der drei Söhne hatte ...
Jeder kennt diese Zeilen: so beginnt das Märchen vom Tischlein-Deck-Dich der Brüder Grimm. Darin geht es um drei Brüder, die jeder ein Handwerk erlernten: ein Schreiner, ein Müller und ein Drechsler wurde aus ihnen. Die Märchen der Brüder Grimm fallen in eine Zeitströmung, in der sich die Weltsicht vom Adel hin zum einfachen Menschen orientierte.
Und dieser mußte zu allen Zeiten sein Brot verdienen, und mit etwas Glück auch noch Butter und Käse dazu. Die Erlebnisse von Handwerksburschen sind eine reiche Fundgrube für Erzählungen. Dies zeigten die Reichelsheimer Märchen- und Sagentage Ende Oktober 2014, die das Handwerk im Märchen zum Thema hatten.
Handwerkermärchen bieten eine gute Möglichkeit zu versteckter Gesellschaftskritik. Ein Handwerksbursche, der sein Ziel nicht erreichte, blieb auf der Landstraße und konnte sich nicht niederlassen, oder er verstarb auf der Walz: von ihm sagt man „er ist auf der Strecke geblieben“.
Zu jener Zeit hatten die Handwerkszünfte noch Bestandsschutz, aber mit der Industrialisierung kam die Gewerbefreiheit, der Bestandsschutz der Zünfte fiel weg. Dies geschah etwa zur gleichen Zeit, als die großen Räuberbanden ihr Ende fanden. Durch diese Entwicklungen wandelte sich der Erzählstoff ins Märchenhafte, das vor langer langer Zeit einmal war, und nicht mehr ist. In spannenden Vorträgen und Märchenerzählungen wurde das Thema bei den Reichelsheimer Sagen- und Märchentagen 2014 von allen Seiten beleuchtet, und das ganze Städtchen war märchenhaft geschmückt mit „bestrickenden“ Motiven.
Der Handwerker - ein Banause??
In der griechischen Mythologie war das Handwerk ein verachteter Berufsstand. Der Handwerker heißt auf griechisch banausos. Der Grund: durch handwerkliche Arbeit werde der Körper der Arbeiter und Aufseher geschädigt, da diese die ganze Zeit sitzen, oder unter einem Dach oder gar vor dem Feuer arbeiten müssen. Ihre Körper werden dadurch verweichlicht, was eigentlich verweiblicht meint, sprich ohne Sonnenbräune. Dies wiederum mache ihre Seele anfälliger für Krankheiten. Zudem bleibe den Handwerkern kaum freie Zeit, um sich um Freunde oder ihre Umgebung zu kümmern, was sie für geselligen Umgang und zur Verteidigung des Vaterlandes gänzlich unbrauchbar mache. Die alten Griechen hatten in einigen besonders kriegstüchtigen Städten ein Gesetz, demzufolge es Bürgern nicht erlaubt war, in handwerklichen Berufen zu arbeiten.
Aber durch die ganze Antike, das Mittelalter und den Feudalismus hindurch mußte das Handwerk doch stetig betrieben werden, denn Tisch und Stuhl, Rad und Messer, Kleidung und Haarputz brauchten sie doch, die vornehmen Herrschaften. Und so werkelte es emsig in den Werkstätten, während in den Stuben die Märchen erzählt wurden. Märchen vom tapferen Schneiderlein, vom Müllersburschen, vom Weber und der Spinnerin und von den sieben Zwergen - sie alle waren zu hören in Reichelsheim an drei märchenhaften Tagen. Lesen Sie auch unseren Buchtipp zum Wildweibchenpreisträger Andreas Steinhöfel!
Lesen Sie zum Thema märchenhaftes Handwerk auch, wie die Menschen früher ihre Stubenwände verzierten, als Tapeten noch etwas für Fürstenhäuser waren.
Unser Buchtipp: die unglaublichen Erlebnisse von Rico und Oskar
Rico und Oskar sind zwei besondere Jungen in Berlin: der eine ist hochbegabt, der andere tiefbegabt. Gemeinsam erleben sie die seltsamsten Dinge. Selten habe ich in den letzten Monaten so herzlich über ein Buch lachen müssen, hier eine Kostprobe zum Beweis für außerirdische Intelligenz:
Rico: Hoffentlich kriegte ich den Satz richtig hin. „Für ein tatsächliches Vorhandensein von extraterrestrischer Intelligenz fehlt nämlich bisher jeder Beweis.“ Ha, erste Güteklasse!
Oskar: "den Beweis gibt es schon längst."
Rico: Verdammt. ... "Na, da bin ich ja mal gespannt."
Wieder Oskar: "der unwiderlegbare Beweis für außerirdische Intelligenz ist daß sie sich bei uns auf der Erde nicht blickenläßt."
Der Autor Andreas Steinhöfel las während der Märchen- und Sagentage Reichelsheim 2014 aus der Rico-Oskar-Trilogie vor und wurde für sein Werk mit dem Wildweibchenpreis geehrt. Dieser Preis wird alljährlich in Reichelsheim an herausragende Jugendbuch-Autoren verliehen. Steinhöfel erzählte auch, wie er ans Kinderbuchschreiben gekommen ist: er hatte sich über ein Kinderbuch so geärgert, daß er dem Verlag einen Brief schrieb. Dieser antwortete schlicht „machs besser“, und Steinhöfel machte es besser. Seine Bücher lesen sich spannend wie Krimis und erheitern auch Erwachsene immer wieder mit überraschenden Einblicken.
Bd. I Rico, Oskar und die Tieferschatten, Bd. II Roco, Oskar und das Herzgebreche, Bd. III Rico, Oskar und der Diebstahlstein, alle drei im Carlsen-Verlag mit Bildern von Peter Schössow, zusammen 22,97 Euro, erhältlich in Ihrem regionalen Buchgeschäft! Viel Spaß beim Schmökern - Marieta Hiller
Hic sunt Dracones: warum Landkarten früher weiße Flecken hatten
Alte Karten sind faszinierend: was entdeckt man nicht alles darauf! Früher richteten die Kupferstecher, die die Vorlage für den Kartendruck herstellten, ihre Platten nach Osten aus: Jerusalem lag am oberen Kartenrand, die Karte war „orientiert“. Der Begriff kommt von Orient = Osten. Später erst drehte der Wind und die Karten wurden nach Norden ausgerichtet, wo der Polarstern steht. Die Kupferstecher hatten ihre ganz besondere Signatur für ihre Platten, verschnörkelte Kartuschen, die zwangsläufig eine Region auf der Landkarte verdeckten. Wie bei einem Vortrag von Johann Heinrich Kumpf über Bernhard Cantzlers Karten von 1623 und ihr Fortleben bei der letzten Neustädter Tagung des Breuberg-Bundes zu sehen war, blieben in späteren Kartendrucken oftmals dort weiße Flecken, wo auf dem Original diese kunstvolle Kar-tusche erschien. So ist in der Cantzler-Karte von 1623 die Region zwischen Darmstadt, Arheiligen, Nierstein, Erfelden, Stockstadt, Griesheim und Gräfenhausen fast leer. Ob es dort wohl auch Drachen gab? „Hic sunt dracones“ - hier gibt es Drachen - wurde in alten Karten überall dort vermerkt, wo der Erforscher entweder aus Faulheit oder aus Feigheit nicht hingekommen war, oder aber wo es etwas gab, was andere nicht finden sollten. Wahlweise konnte auch mit „hic sunt leones“ gewarnt werden, auf Meeresflächen mit Seeungeheuern. Solche leeren Räume faszinierten durch die Jahrhunderte und fanden sogar Eingang in Frank Schätzings Werk: im Zukunftsroman Limit schreibt er vom „unprogrammierten Raum“. Der Der Chaos Computer Club machte das Motto „here be dragons“ zum Kongressmotto des 26. Chaos Communication Congress. Die Server von OpenStreetMap haben literarische Drachennamen und Captain Picard (star treck) sagt in bezug auf das kommende Unbekannte: „Beyond this place there be dragons“ (Das nächste Jahrhundert, Folge 28). Videospiele werden spannend durch alte Pergamente, auf denen „Hic sunt Dracones“ zu lesen steht (Divinity 2: Ego Draconis und Eternal Darkness). „Hic sunt leones“ sagt William von Baskerville in Umberto Ecos „Name der Rose“ am „finis africae“. Um Drachen geht es auch auf diesen Seiten: hier finden Sie eine Zusammenstellung mit dem Wenigen, was die Welt über Drachen weiß - und was sie bisher noch nicht wußte... Viel Vergnügen beim Stöbern,
Marieta Hiller - im Dezember 2014
Das geheimnisvolle Leben der Drachen
Überall um uns her sind Drachen. Wir müssen nur unsere Sinne schärfen, dann können wir sie sehen... Hic sunt dracones - hier sind Drachen - das trugen die Entdecker vergangener Jahrhunderte mit feiner Feder in ihre wunderschön gezeichneten Landkarten ein, wenn sie nicht zugeben wollten, daß sie eine unentdeckt gebliebene Landschaft nicht besuchen konnten oder wollten. So "reservierten" sie sozusagen diese Option für sich, ohne daß sich andere Entdecker dorthin wagten. Erfolgreich waren sie damit nicht, denn heute gibt es auf der Welt keine unentdeckten Landstriche mehr. Selbst die unendlichen Weiten des Weltalls, "die nie zuvor ein Mensch..." wurden zwischenzeitlich durch zahllose Science-Fiction-Autoren erforscht. Oft genug holte die Realität ihre spannenden Romane ein... Drachen findet man nicht mit Entdecker-Expeditionen. Drachen findet man, wenn man auf sie achtet. Denn nichts grämt einen Drachen mehr, als wenn niemand mehr an ihn glaubt - und so wird er schließlich unsichtbar. Aber sie sind da...
Drachen in der Geschichte der Menschen
Hildegard von Bingen vermerkte in ihrer Physica (um 1150) über die Heilkräfte der Natur zum Thema Drachen:
„Mit Ausnahme seines Fettes ist nichts von seinem Fleische und den Knochen für Heilzwecke verwendbar …“
Eigentlich schade, denn Drachen können so wohl tun... Im Mittelalter waren die Menschen überzeugt, daß es Drachen gibt. So sind auf der Carta Marina von 1539 weiße Flecken, die einfach noch nicht erforscht waren. Die großen Abenteurer konnten das natürlich nicht zugeben und schrieben in ihre Karten einfach "hic sunt dracones" - Hier gibt es Drachen! Selbst noch bis in die Neuzeit hielt man Drachen für real existierende Wesen: 1837 schrieb Samuel Schilling, deutscher Entomologe, in seiner "Ausführliche Naturgeschichte des Thier-, Pflanzen- und Mineralreichs" in einem Extra Kapitel über die Drachen, eingepaßt zwischen Basilisken und Leguan:
"Die Drachen sind eidechsenartige Thiere, deren Körper allenthalben mit dachziegelförmig liegenden Schuppen bedeckt ist, von welchen diejenigen am Schwanze und an den Gliedern gekielt [..] sind; die Zunge ist fleischig, aber wenig ausdehnbar. [..] Die Drachen sind kleine, unschädliche Thiere, welche sich auf Bäumen aufhalten und von Insekten leben. Sie finden sich in Ostindien und auf den Inseln der Südsee."
Seltsam, daß Drachen kleine Tiere sein sollten, die auf Bäumen leben! Zum Glück wissen wir das heute besser... Für Schilling waren die realen Drachen keine Fabelwesen:
"Von dem Drachen, wie wir ihn in der Naturgeschichte kennen lernen, müssen wir den Drachen der Fabelwelt unterscheiden; [..] Da dieser Drache nichts weiter als ein Hirngespinst war, so mußte natürlicherweise die Beschreibung von seiner Gestalt und Lebensart sehr verschieden ausfallen."
Man brauchte starke Zaubersprüche, um Kontakt zu einem Drachen aufzunehmen. Solche Zaubersprüche kommen von ganz innen aus unserer Seele, wo es sehr wohl Drachen gibt! Deshalb begegnen wir den Drachen auch oft in Zaubermärchen. Das sind die ältesten Märchen die wir haben. Hatte man den richtigen Zauberspruch, oder ein Wünschelding, so konnte man jederzeit mit seinem Drachen sprechen und er beschützte uns! Zaubersprüche gehören zu unseren ältesten Ritualen, so gibt es die Merseburger Zaubersprüche aus dem 8. Jahrhundert, aber auch aus der Antike schon gibt es Zaubersprüche von Plinius d.Ä., von Marcellus und Pelagonius.
Alles über Drachen: die Sprachecke von Heinrich Tischner!
Im Jahr 2022 schickte mir der Bensheimer Pfarrer i.R. Heinrich Tischner seinen Beitrag zum Thema Drachen. Lange Jahre unterhielt Tischner die Leserinnen und Leser des Darmstädter Echo mit seiner Sprachecke, bis diese 2018 vom Echo eingestellt wurde. Viel Interessantes las ich dort über die Jahre, Tischners Sprachecke war eines der Highlights dieser Zeitung - schade!
Für meine Drachenseiten bekam ich also Folgendes:
Herbstzeit ist Drachenzeit. Die frischen Winde fordern geradezu auf, einen Drachen steigen zu lassen. Früher hat man diese "Windvögel" selbst gebastelt aus kreuzförmig verbundenen Stäben, speziellem Drachenpapier und viel Schnur. Außer den üblichen rautenförmigen Fliegern gab es aufwändiger gebaute Kastendrachen, die sogar kleine Lasten transportieren konnten. Nicht nur das Bauen, auch das Fliegenlassen ist eine Kunst, die nicht jedem gelingt.
Wir unterscheiden zwischen Drachen 'Windvogel' und Drache 'ein Fabeltier', aber eigentlich ist es dasselbe Wort. Das Fluggerät stammt aus China und hatte die Gestalt des Fabelwesens. Als Spielzeug kam es in Europa zu Beginn der Neuzeit auf, soll aber schon vor tausend Jahren für militärische Zwecke verwendet worden sein. Im spätrömischen Heer diente der Drache an einer Stange als Feldzeichen. Er war gebaut wie ein Windsack und flatterte und wand sich im Wind. Die Römer hatten ihn von den iranischen Parthern übernommen und nannten ihn draco, wie das Ungeheuer. Geschnitzte Drachenköpfe hatten die Wikinger auf den Vordersteven ihrer Schiffe. Die sollten die Feinde abschrecken und mussten abgenommen werden, wenn man sich der Heimat näherte. An diese Köpfe erinnert altnordisch dreki, schwedisch draka, das nicht nur 'Drache' bedeutet, sondern auch 'Kriegsschiff'.
Wenn Blicke töten könnten, würden viele Menschen nicht mehr leben. Die Römer und die Nordleute glaubten, dass der Anblick eines Drachens Verderben bringt. Diese Vorstellung steckt anscheinend schon hinter dem Namen: Der kommt von griechisch δράκων drákōn 'Drache', abgeleitet von δέρκεσθαι dérkesthai 'scharf anblicken'. Auch einem schlangenähnlichen Monster, dem Basilisken, schrieb man einen tödlichen Blick zu. Heute trägt eine harmlose Leguanart diesen Namen. Der griechische Name βασιλίσκος basilískos bedeutet eigentlich 'kleiner König', auch den Zaunkönig hat man so genannt. Vielleicht dachte man ursprünglich an die "Königsschlange", die Kobra, welche die Krone der Pharaonen zierte. Von Perseus wird erzählt, er habe einem Scheusal namens Medusa das Haupt abgeschlagen, dessen Haare aus Schlangen bestanden. Wer diesen Kopf anblickte, erstarrte zu Stein. Medusen nennen wir heute quallenartige Tiere, deren Arme sich mit Schlangen vergleichen lassen.
Ein Leguan ist kein Drache, eine Qualle kein Monster und eine Fledermaus kein Vampir. Wir haben die Welt entzaubert. Die Ungeheuer, Ausgeburten der Angst, wurden zu normalen Lebewesen. Das fing im Altertum schon an: In der Bibel ist der Drache Leviathan ein Krokodil. Aus dem Seeungeheuer Tannin wurde später der Thunfisch. Und nach Reinhold Messner ist der sagenhafte Yeti im Himalaja ein Bär, kein "Schneemensch".
Heinrich Tischner, Sprachecke Echo-Zeitungen 02.10.2006. Viele weitere Beiträge sind in Tischners Sammlung, und ich glaube, ich werde sie in einem meiner künftigen Jahrbücher verwenden - schauen Sie gelegentlich mal hier rein, wann es erscheint!
--
Und jetzt lest ihr noch einiges Interessante von Kobold Kieselbart, der sich noch immer im Felsenmeer herumtreibt, aber als Menschenbeauftragter des Kleinen Volkes im Jahr 2021 in Ruhestand gegangen ist.
Wie soll der kleine Drachen heißen, der kürzlich aus dem Ei geschlüpft ist?
Bei meinen Kindergeburtstagen im Felsenmeer, die ich auf Drachenschatzsuche schickte, mußte immer auch dem kleinen Drachen, der in diesem Jahr aus dem Ei schlüpft, ein Name gegeben werden. Roni und ihre Geburtstagsgesellschaft schlug vor: Judith Sofia Spiro Dominik Riesenfeuerdrachen Feuerpfeil Merker Nebelnacht Feuervogel
Die Geburtstagsgesellschaft von Anna Maria entschied: Herr Igor Spy Numal Bingo Ringo Flingo Dingo Flong
Der Große Rat des Kleinen Volkes berät jedes Jahr am Heiligabend darüber und dann hat wieder ein junger Drache seinen Namen.
Warum Drachen so traurig sind
das erfährt man in dieser Geschichte: Glückssteine und Sternenstaub... und in dieser hier...
Daß Drachen überhaupt nicht fürchterlich und gräßlich sind, beweist dieses Buch: Gerard Moncomble / Michel Tarride: Ferdinand, der Drache. Es ist im Eichborn-Verlag erschienen, hat aber schon ein paar drachenschuppige Jährchen auf dem Buckel (1994) und darf seitdem in meinem Bücherregal gleich neben dem Bett schlafen. Ihr seht also: vor Drachen - und gar vor Büchern über Drachen - muß man sich nicht fürchten, man schläft sogar viel besser, wenn ein Drache über dem Bett wacht...
Eigentlich hieß Ferdinand "Chalumeau le Dragon", und eigentlich ist seine Geschichte eine ganz alltägliche Geschichte von den alltäglichen Problemen, die auch einen Drachen nicht verschonen: Verdauung, Arbeitslosigkeit, der Schatz wird einem gestohlen - ach was erzähle ich euch das, ihr wißt es schon selber. Am Ende aber wird alles gut und Ferdinand wird das Maskottchen der Gilde der Feuerspucker. Schaut mal rein: das Buch erschien beim Eichborn Verlag in Frankfurt (ISBN 3-8218-3655-5) - und vergeßt nicht: Bücher bestellt man beim örtlichen Buchhändler und nicht im fernen fernen Buchhändlerfresserland! Ich fürchte, den Eichborn Verlag gibt es gar nicht mehr: er wurde 2011 an die Bastei Lübbe GmbH & Co. KG verkauft. Und "Ferdinand den Drachen" gibt es nur noch antiquarisch für Drachenfreunde. Falls ihr das Buch haben wollt, dann denkt aber immer dran: jede Buchhandlung in eurer Nachbarschaft kann alle die Dienstleistungen erbringen, die auch die ganz Großen, Ungerechten bringen. Und die Buchhandlung in der Nachbarschaft kann euch noch viel mehr bieten: sie riecht nach Büchern! Und man kann die Bücher wispern hören. Das muß das Internet erstmal nachmachen...
Lindenfelser Drachenbuch "Der Drache Eujeujeu"
Am internationalen Museumstag 2014 hatte das Deutsche Drachenmuseum Kinder und Erwachsene zum Schreiben einer eigenen Drachengeschichte aufgerufen. Das Ziel war, die Beiträge in einem Buch zusammen zu führen. Erfreulich viele schriftstellerische Talente aus der Region haben ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, Drachengeschichten aufgeschrieben und sie dem Drachenmuseum zur Verfügung gestellt. Rechtzeitig zum 5-jährigen Bestehen des Drachenmuseums im März 2015 ist das Buch fertig gestellt. Der Verein wird das Buch und seine Autoren nun vorstellen und sich bei allen Einsendern bedanken. Am 6. März 2015 um 17.00 Uhr wird es präsentiert: im Deutschen Drachenmuseum in Lindenfels, In der Stadt 2. Die Drachen-Geschichten sind nun alle im Buch „Der Drache Eujeujeu“ versammelt: auch von Marieta Hiller sind zwei Geschichten und eine Zeichnung darin. Das Buch mit der ISBN-978-3-86386-818-5 ist bei Ihrer Buchhandlung oder im Deutschen Drachenmuseum Lindenfels erhältlich. Im Buch sind zwei kurze Geschichten über Drachen von Marieta Hiller zu lesen:
"Wie das früher mit den Drachen gewesen ist..." und "Ein ganz kurzes Drachenmärchen ohne Gezicke und Feuergespucke" - die zweite Geschichte war exklusiv im "Drachen Eujeujeu" zu lesen und sonst nirgends zu finden - noch nicht mal hier! Erst jetzt - zu Weihnachten 2022 - dürft ihr sie auch hier lesen!
Warum der kleine Feuerdrache versteinert ist...
Schaut euch das »Krokodil« im Felsenmeer einmal genau an! Erkennt ihr, was es in Wahrheit darstellt? Einen Drachen!
In Wahrheit ist es allerdings kein echter Drache, dazu ist er viel zu klein.
Es handelt sich um ein Abbild von Lakrimeo zu Wüstenbrand, der einst für die alte Hutzel im Zauberwald die Kristalltränen weinte. Diese benötigte sie um daraus die Zukunft der Wesen im Zauberwald zu lesen. Denn immer am Heiligen Abend, der auch schon vor sagenhaften Zeiten hier von allen Zauberwaldbewohnern gefeiert wurde, immer am Heiligen Abend gleich nach dem gemeinsamen Essen holte die alte Hutzel ihre Alabasterschale hervor, in der sie die kostbaren Kristalltränen der Drachen aufbewahrte. Daraus las sie einem jeden Wesen die Zukunft des kommenden Jahres: den Kobolden, den Elfen, den Zwergen, dem Waldschrat, der Eule Schuhuuu und der Schneckenpost von Huiiiii und Husch. Auch die Eichhörnchen, die Buchfinken und die Regenwürmer bekamen zu hören, was ihnen bevorstand.
Doch die Kristalltränen wurden immer seltener, denn die Drachen wurden immer übermütiger. Fröhlich spuckten sie Feuer, schlugen in der Luft Purzelbäume und ließen den einen oder anderen Berg in Stücke zerstieben. Das Weinen von Kristalltränen aber ist eine ernste Angelegenheit, zu der man sämtliche Konzentration zusammen nehmen mußte.
Schließlich hatte die alte Hutzel nur noch sieben Kristalltränen in ihrer Schale, und es waren noch acht Zauberwaldbewohner ohne Zukunft übrig. Da nahm die alte Hutzel den rubinroten Lakrimeo zu Wüstenbrand zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Niemand vom Kleinen Volk konnte hören, was es war, aber Lakrimeo wurde sehr nachdenklich. Still und schweigsam verkroch er sich in seiner Höhle und kam erst zum Mitternachtsimbiß wieder heraus. Rot waren seine Augen und aus den Nüstern kam nur ein klägliches Wölkchen aus Rauch. Aber Lakrimeo hatte das allernetteste Drachenlächeln aufgesetzt, zu dem ein Drache nur fähig war - denn er war glücklich: er überreichte der alten Hutzel die achte Kristallträne, ohne daß das Kleine Volk etwas bemerkte.
Und so konnte die alte Hutzel einem jedem von ihnen die nächste Zukunft voraussagen, und kaum war alles ausgesprochen, da zerstoben die acht Kristalltränen zu buntem Staub. Aber als die Kobolde, die Zwerge, die Elfen und der Waldschrat am Weihnachtstag durch den Zauberwald streiften, da war etwas Neues zu entdecken: mitten im Felsenmeer war ein steinernes Bild von Lakrimeo entstanden - nur viel kleiner.
Alle staunten, und auch die albernen Drachen, die nur Unfug trieben, kamen vorbeigeflattert und schauten sich das steinerne Bild von Lakrimeo an. Nun wollte ein jeder ein solches wunderschönes Steinbild von sich haben, die Drachen übten die akrobatischsten Posen und umschwänzelten die alte Hutzel drei Tage lang. Doch die wichtige Aufgabe des Kristalltränen Weinens durfte fortan nur Lakrimeo übernehmen, und jeden Abend brachte er der alten Hutzel treu und zuverlässig eine neue vorbei. Das steinerne Bild des rubinroten Feuerschweifs Lakrimeo aber steht noch bis zum heutigen Tag im Felsenmeer, auch wenn es in den vielen Tausenden von Jahren inzwischen grau geworden ist. Aber das ist auch Lakrimeo geworten: alt und grau, und noch immer weint er jeden Abend eine neue Kristallträne - und ist dabei doch der glücklichste Drachen des Zauberwaldes.
Marieta Hiller, Dezember 2015
Der Osterdrache vom Felsenmeer: neue Geschichte!
Es trug sich aber vor vielen vielen Jahrhunderten zu - mitten im Felsenmeer - wo eine alte Eiche stand. Viel hatte die Eiche schon gesehen in ihrem Leben, und viel könnte sie uns heute erzählen - wenn es sie noch gäbe... Doch ach, schon lange steht sie nicht mehr. Selbst die Großmutter konnte sich nur noch ganz schwach an Frühlingstage der Kinderzeit erinnern, als das Sonnenlicht zwischen den grünen Blättern flirrend umherirrte.
Stünde sie noch, so könnte die Eiche uns diese Geschichte selbst erzählen. So aber muß ich ein bißchen aushelfen. Längst sprießen schon wieder viele kleine Eichen an ihrem Ort, doch die sind des Erzählens noch nicht so mächtig, und ich bin nicht sicher, ob ihr alle die Eichen-Babysprache verstehen könnt!
Nun denn, so will ich mit der Geschichte beginnen: einst, vor vielen vielen Jahrhunderten - das sagte ich ja bereits - trug es sich zu, daß ein junger Drache aus seinem Ei schlüpfte, gerade als der Ostermond voll wurde.
Ihr müßt wissen, daß Drachen in den allermeisten Fällen zum Ostervollmond schlüpfen. Jedenfalls taten sie das in früheren Zeiten. Heutigentags schlüpft kein Drache mehr, nicht zum Ostervollmond und auch nicht in anderen Nächten, und schon gar nicht am hellichten Tag! Und das kam so: unser Drache, nennen wir ihn Estra, denn er war ein Mädchen, und Estra bedeutet Ostern. Unsere Estra also war emsig beschäftigt, die Eierschale aufzubrechen und sich Stück für Stück herauszuarbeiten. Gerade als sie ihren linken Flügel ausstreckte, damit die Falten sich glätten sollten, da drang ein übles Geschimpfe an ihr Ohr:
„Du stacheliges Vieh, schon wieder hast du mich überlistet! Na warte!“ Und als Estra ihren schuppigen Hals hinter den Felsen hervorstreckte, da sah sie unten auf der Wiese einen erbosten Hasen, der fäusteschwingend auf einen Igel einschimpfte.
Der Igel aber lachte den Hasen aus.
Dann stapfte der Hase davon, hocherhobenen Hauptes, bog um die nächste steinerne Ecke und ward für ein paar Tage nicht gesehen. Doch kaum war der Mond vom Nachthimmel verschluckt und kam schon als sich rundender Mond wieder, da tauchte der Hase wieder auf.
Estra reckte verwundert den Hals, denn er kam nicht allein. Hatte er am Ende vom Igel gelernt, wie man zu zweit eine Aufgabe zu seinem Vorteil erledigen konnte? Doch nein, nicht zu zweit kam der Hase! Sieben junge Häschen hoppelten hinter ihm her! Das gefiel dem Igel und seiner Frau natürlich überhaupt nicht, denn die kleinen Häschen sahen zwar niedlich aus, waren aber auch verdammt schnell. Und nachdem sich der Igel und seine Frau fünfmal zur Vollmondzeit abgehetzt hatten, um als erster am Ziel zu sein, wie die Wette galt, da wurde es dem Igel zu bunt.
„Du dämliches Langohr - du schummelst ja!“ Doch da hatten die sieben jungen Hasen ihrerseits schon sieben mal sieben kleine Häschen dabei, und dem Igel wurde angst und bang.
Da half keine List mehr, die Hasen waren einfach in der Überzahl. Wurde einer mal müde vom schnellen Laufen, schwupps so sprang schon der nächste ein. Auf diese Weise haben übrigens die Hasen einst den Staffellauf erfunden, der heute eine olympische Disziplin ist.
Dem Igel taten die Füße weh, und seine Frau lag ihm in den Ohren: „ich kann nicht ständig wegen deiner blöden Wette draußen rumlaufen, da ist auch noch die Küche, und die Wäsche, und die Kinder, und weißt du wann ich das letzte Mal shoppen war?!“ Da erdachte sich der Igel abermals eine List, aber es war keine nette! Er nahm seine Stacheln ab und steckte sie in die Ackerfurche, gerade dort, wo Familie Hase emsig mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war. Bald schon hörte man die ersten Schmerzensrufe, als das eine oder andere Häschen einen Stachel in der Pfote hatte. Und schon waren alle sieben mal sieben plus Chefhase mit Stacheln lahmgelegt.
Der Igel rieb sich die Hände und sprach zu seiner Frau: „du kannst dir Zeit lassen, aber tu mir den Gefallen und geh noch ein einziges Mal ans Ende der Furche, tu es weil du mein treusorgendes Weib bist.“ Da ließ sich die Igelin erweichen und stapfte zum Ende der Furche, wo sie ihren langgeübten Spruch aufsagte: „ich bin schon da!“
Woraufhin - der Ostervollmond jährte sich - ein ohrenbetäubendes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter anhob. Sieben mal Sieben plus ein Hase hatten ein ganz ansehnliches Repertoire an Schimpfwörtern, ihr glaubt es nicht! Und diese Schimpfkanonade ging nun auf Familie Igel nieder, und dabei blieb es nicht: schon flogen die ersten Hasenköttel Richtung Igelhausen, und Igelstachel wurden aus Armbrüsten gen Hasendorf geschossen.
All dies betrachtete sich Estra ungläubig, denn sie war ja noch jung. So ein Drache ist sieben mal sieben plus ein Jahrhundert ein Kleinkind, das die Welt aus großen Augen bestaunt, und es dauert meist weitere sieben mal sieben plus ein Jahrhundert, bis sie ins Grundschulalter kommen und die einfachsten Dinge der Welt begreifen. Vielleicht sind Drachen aus diesem Grunde einfach zu langsam für unsere schnelle Welt.
Doch Estra, so jung sie auch noch war, begriff eines ganz klar: dort entbrannte ein Krieg, und Krieg war nicht gut.
Denn die Weisheit wird den Drachen in die Wiege gelegt, und schon als Babydrachen sind sie fähig, salomonisch kluge Sprüche zu tun.
Und deshalb beschloß Estra, diesen Krieg zu beenden. Sie verkroch sich in ihr Drachenei, weinte ein paar große salzige Drachentränen, die sogleich tief in die Erde sanken, wo sie zu funkelnden Kristallen wurden.
Aus ihrem Ei heraus grollte Estra heraus: „ihr streitendes Wiesenpack! Ihr seid schuld, daß ich weinen muß! Deshalb bleibe ich jetzt hier in meinem Ei, bis die Welt ein friedlicher Ort geworden ist, und niemand, nicht Hase, nicht Igel und nicht Mensch (was Estra eigentlich mit uns Menschen hatte, weiß ich nicht...) soll mich vorher wieder zu Gesicht bekommen!
Ihr beiden aber, ihr sollt verwunschen sein, bis ihr Frieden schließt: dir Igel und deiner Frau sollen die Beine krumm und kurz werden, so daß du mühsam deinen dicken Bauch über den Boden schieben mußt. Und du Hase sollst voller Furcht leben, dich ständig umschauen und auf der Flucht sein, und auch die Deinen!“
Nach dieser langen Rede schlief Estra erschöpft in ihrem Ei ein, und dort ruht sie noch heute, und wir dürfen sie nicht wecken.
Diese Geschichte habe ich am Ostervollmond 2013 zum ersten Mal erzählt und zu Ostern 2016 ein bißchen umgeschrieben, denn natürlich gibt es sowohl auf der Burg in Lindenfels als auch im Felsenmeer Drachen, und einer von den Drachen im Felsenmeer heißt sicherlich auch Estra... Ich werde Kobold Kieselbart bei Gelegenheit danach fragen, versprochen! Marieta Hiller
Ein Märchen für Große und Kleine
In einem Land weit hinter den tiefen Wäldern, verborgen zwischen den Hügeln, da gab es ein kleines friedliches Königreich. Die Sonne schien, und der König war zufrieden. Seine Hofbediensteten und seine Untertanen freuten sich am Sonnenschein, und auch sie waren zufrieden, selbst wenn es einmal regnete.
Da kam eines Tages auf einem buntscheckigen Pferd ein seltsamer Mann dahergeritten. Er wolle den König sprechen, und er ließ nicht ab von seinem Wunsch, bis daß die Torwachen ihn endlich einließen. Am dritten Tag ließ ihn der König vor seinen Thron treten und fragte ihn nach seinem Begehr. „Ihr habt keinen Hofnarren! Wißt ihr denn nicht, daß jeder König von Format einen solchen unabdingbar braucht? Ich biete Euch untertänigst meine Dienste an, und ihr werdet bald schon sehen, daß es sich mit Hofnarr um vieles komfortabler regiert!“
Der König ließ sich das durch den Kopf gehen, aber weil die Sonne schien war er’s zu guter Letzt zufrieden. „Wohl denn, so sollst du mein Hofnarr sein,“ sprach er. Der Hofnarr machte seine Späße, wie das für Hofnarren so üblich ist. Doch oft geschah es, daß dem König und seinem Hofstaat das Lachen im Halse stecken blieb. Zuweilen verschluckte sich auch einer der Höflinge an einem jener Späße. Es dauerte gar nicht lange, da hatte sich etwas Graues, Zähes über das ganze Land gelegt.
Kein Lachen klang mehr unbekümmert, kein Witz der nicht erst von allen Seiten betrachtet werden mußte, ob man denn auch wirklich drüber lachen sollte. Nicht einmal die Sonne schien mehr hell und klar. Alles war dem Hofnarren zu schlecht: der Schloßgarten bot keinen Schatten, das Dach hatte Löcher, die Untertanen waren frech, das Frühstück kam zu spät, die Hof-damen waren zu fett, die Pferde zu lahm, der Hofstaat zu steif und der König zu nachgiebig. Schlecht war alles, worauf der Hofnarr schaute, und laut posaunte er es an der königlichen Tafel heraus.
Bald gab es bei Hofe niemanden mehr, der noch wußte wie man unbeschwert lachte. Die Hofmusikanten spielten schwermütige Weisen, ohne Begeisterung und Kunstfertigkeit, wie man es sonst von ihnen gewohnt war. Tanzen wollte sowieso niemand dazu. Der Geschichtenerzähler sagte nur noch „ach“ und „weh“, und der Hofmaler hatte sich auf abstrakte Grautöne verlegt. Die Frauen stickten keine bunten Blumen mehr in ihre Tücher, und den Kühen schien das Gras nicht mehr zu schmecken. Bald kam der Herbst, und nicht einmal das Laub der Bäume wollte sich bunt färben.
Der erste Schnee bedeckte das Grau, doch es war nur ein hellerer Ton von Grau. Am Weihnachtsabend endlich war des Königs Herz so schwer geworden, daß er in seiner Kapelle beim Gebet so tief seufzte, daß es in den Wänden widerhallte. Drei kummervolle Seufzer tat er und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein Lufthauch zog ihm um die Ohren, und als er aufblickte, da standen im Dämmer drei Feen vor ihm.
„Ich will dir für deinen ersten Seufzer etwas Glücksstaub geben. Streu eine Prise davon über das, was dich so unglücklich macht!“ sprach die erste Fee und gab ihm ein Töpfchen.
„Dein zweiter Seufzer soll auch nicht vergebens gewesen sein,“ sprach die zweite: „nimm dieses Tüchlein, und wo auch immer du etwas Graues siehst, so fahre damit drüber und es wird strahlen.“
Die dritte Fee aber, die sagte nur „ich kann dir für deinen dritten Seufzer nichts geben, denn was du brauchst, das hast du schon.“
Der König schüttelte verwundert den Kopf, rieb sich die Augen und nahm endlich das Töpfchen mit dem Glücksstaub und das Tüchlein gegen das Graue an sich. Was aber die dritte Fee gesagt hatte, das verstand er nicht. Er merkte es sich gut und nahm es mit zum Geschichtenerzähler. „Was hat sie damit gemeint?“
Doch der Geschichtenerzähler sagte nur „ach“ und „weh“. „Was hat sie damit gemeint?“ fragte der König darauf seine Königin. Doch die fädelte schweigsam einen neuen grauen Faden in ihre Sticknadel und antwortete nicht. „Was hat sie damit gemeint?“ fragte der König schließlich seinen Hofnarren. „Papperlapapp, wer glaubt denn schon einer Fee, wenn er einen Hofnarren hat!“ schimpfte dieser. Der König bedachte sich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang, doch wollte ihm keine Antwort einfallen. Wohl freute er sich daran, daß der Glücksstaub das Genörgel und Gemäkle des Hofnarren an allem und jedem erträglicher machte, wohl konnte er mit dem Tüchlein etwas Licht in das Graue bringen, doch all das war nicht von Dauer.
Der Hofnarr machte alles schlecht, nichts war ihm gut genug, nichts konnte man ihm recht machen. Endlich hatte er es geschafft, daß der König, seine Königin, der ganze Hofstaat und alle Untertanen im Land so mißmutig und mürrisch das Weihnachtsfest begingen, daß selbst die Kirchenorgel nur noch knarrte und pfiff, daß es in den Ohren wehtat. Und der Hofnarr sprang vor den Altar und schimpfte laut, daß ein König der etwas auf sich hielt, doch nicht eine solche alte Orgel in seiner Kirche dulden könne. Auch sei die Kirche viel zu kalt und die Kronleuchter zu dunkel, die Kissen auf den Bänken zu dünn und der Pfarrer zu langweilig.
Da wurde es dem König zu viel. Er schlug mit der Faust auf die Kirchenbank, daß es nur so schallte. „Ich will, daß du endlich verschwindest! Und nimm all das Graue mit dir fort!“ Puff, machte es da - gerade als es Mitternacht schlug - und eine giftgrüne schwefelstinkende Wolke stand gerade dort, wo vorher der Hofnarr gewesen. Niemand wußte, wie es sich zutrug, aber der Hofnarr ward von Stund an nicht mehr gesehen.
Der König, seine Königin, der Hofstaat und die Untertanen, sie alle konnten plötzlich die Schönheit der Winternacht sehen, sie hörten das Säuseln des Windes in den Wipfeln der Bäume, sie freuten sich am Schnee, der blütenweiß die Felder bedeckte, und an den Sternen die vom Himmel funkelten. Das Königreich aber, das wurde fortan „Ich will“ genannt, und wenn sie dort nicht alle schon gestorben sind, dann sind sie noch heute glücklich und zufrieden miteinander. Marieta Hiller
Ein kluger Mann, den ich an dieser Stelle gelegentlich zu Rate ziehe, ist Heinrich Tischner aus Bensheim. Er unterhält eine sehr aufschlußreiche Seite im WeltWichtelWissen!
Seine »Sprachecke« im Darmstädter Echo war stets eine Fundgrube, so auch hier: um Geister und Kobolde geht es dabei, und daß es erstere nicht aber zweitere sehr wohl gibt, das belegt Tischner so nach und nach.
Den ältesten Textbeleg für das Wort "Kobold" datiert er in das Jahr 1135, doch erst 100 Jahre später (ging es dem Beleg da ähnlich unserem Dornröschen, das in 100jährigem Schlaf aufs Wachgeküßtwerden warten mußte?) tauchen Figuren auf, die als Kobold bezeichnet werden: so sei einem jener historischen Quellenschöpfer die Klage über den Adel gestattet, der zu Mißständen schweigt wie die stummen Kobolde, und ein hölzerner Bischof sei ihm lieber als jene sprachlosen Herren (hören wir nicht auch heute ein lautstarkes Schweigen zu den meisten Mißständen?)
Später dann bekam der Kobold jene Züge, die er noch heute trägt: als dienstbarer Hausgeist, unberechenbar aber nicht bösartig und immer zu Späßen aufgelegt...
Bei den Römern genossen die Hausgeister, die Laren, und die Ahnengeister, die Penaten, höchstes Ansehen; inklusive Hausaltar! Kleine Koboldstatuen aber gab es schon bei den keltischen Bandkeramikern aus der Jungsteinzeit - die aber, wir wissen es!, im Odenwald wohl eher nicht zugange waren.
Das Wort Kobold könne vom griechischen kóbalos stammen, was "berufsmäßiger Clown" bedeutet. Dagegen muß ich mich doch aufs Entschiedenste verwahren! Clowns sind wir ja nun wirklich nicht, nur ab und zu etwas launisch und niemals einem lustigen Streich abgeneigt. Es könnte aber auch mit dem Koben zu tun haben, der jedoch wiederum im Mittelhochdeutschen soviel wie "Schweinestall" bedeutete. Völlig abwegig also...
Dann kommen die Franzosen ins Spiel: Gobelin und später Goblin heißen wir dort. Gobelin war ursprünglich der Kosenamen für Godebold, laut Tischner heute noch in Göbel, Goppelt oder Koppelt (deutschen Familiennamen) vorhanden. Daß in Deutschland aus G ein K wurde, ist klar. Die Deutschen verschieben ja öfters mal ihre Laute, und meistens mit Wonne ins Härtere.
Nun aber zieht Heinrich Tischner den unverzeihlichen Vergleich zum Heinzelmann: dieser sei die Verniedlichung zu Heinz, und genauso sei es mit dem Kobold als Verniedlichung des Godebold. Zusätzlich belegt er das mit dem Götzen, der aus dem frommen Gottfried entstanden war.
Es grüßt euch aus dem sprachlosen Zauberwald: Kobold Kieselbart
PS: einem solch klugen Mann wie Herrn Tischner ist natürlich niemand im Zauberwald lange böse, keine Sorge!
Seite 1 von 5