Die märchenhaft geschmückte Bühne der Reichenberghalle, wo das Literaturprogramm der Märcheninsel 2021 stattfand


Einst verbot der Padischah das Märchenerzählen und Singen. Bald aber wurde er sehr krank. Erst als ein Märchenerzähler gerufen wurde, konnte er wieder gesund werden. Dies ist der Inhalt eines von zahlreichen wunderschönen Märchen aus aller Welt, die Angelika Schreurs aus Düsseldorf während der 25. Reichelsheimer Märcheninsel erzählte. Märchen zum Nachdenken, voller tiefer Weisheiten, und doch fröhlich und leicht vorgetragen.

„Schlösser, Schlüssel, Spiegel - verborgene Botschaften um Märchen“ war das Motto 2021.
Sehr kurzfristig mußte das ganze Programm von den Organisatoren auf die Beine gestellt werden, denn die Pandemie fordert täglich neue Anpassungen. Tatsächlich gelang das Unterfangen, es wurde eine sehr harmonische und rundum märchenhafte Veranstaltung. Mit viel Mut und Engagement schaffte das Team einen kleinen Schritt zurück zu altem Glanz (2020 war die Veranstaltung komplett ausgefallen).
Da sich insgesamt nur jeweils 1000 Besucher auf dem Festgelände aufhalten durften, geriet verständlicherweise das Verhältnis zwischen Mittelaltermarkt und Literaturprogramm etwas ins Ungleichgewicht.

Traditionell zweigeteilt ist die Reichelsheimer Märchenveranstaltung, die vor Corona - und hoffentlich später auch wieder - Reichelsheimer Sagen- und Märchentage heißt. Es gibt einen bunten Mittelaltermarkt mit Handwerkern, Gauklern, Musik und Märchenzelt für Kinder, und natürlich viel Leckeres für Leib und Magen. Aber es gibt auch ein hochkarätiges Literaturprogramm: die lange Nacht der Märchen und einen Büchertisch, der übervoll ist mit Märchenbüchern und Büchern über Märchen. Früher wurde der Büchertisch von der Brensbacherin Ellen Schmid organisiert, als sie noch Buchhändlerin war, seit einigen Jahren hat das die Buchhandlung Valentin in Fürth übernommen.

DAS Alleinstellungsmerkmal für die Märchenhauptstadt Reichelsheim: das hochkarätige Literaturprogramm!

Für mich ist der Mittelaltermarkt draußen ein „nice to have“, das Literaturprogramm aber ein „must have“. Über viele Jahre wurden die Reichelsheimer Sagen- und Märchentage für mich zu einem Fixpunkt im Jahresverlauf.
Sind sich die Organisatoren der Veranstaltung bewußt, daß es genau dieses Literaturprogramm ist, das für Reichelsheim DAS Alleinstellungsmerkmal darstellt?

Mittelaltermärkte gibt es schließlich viele.

Aber wo kann man an einem Wochenende herausragenden Märchenerzählern wie Angelika Schreurs, Odile Néri-Kaiser, Heike Berg, Michaele Scherenberg, Katharina Ritter, Carola Graf, in früheren Jahren auch Sigrid Früh, Hannelore Marzi und Paul Maar lauschen!

Wo kann man den Märchenillustratoren Reinhard Michl, Albert Schindehütte, Klaus Ensikat oder Werner Holzwarth beim Zeichnen über die Schulter sehen! Und damit nicht genug: literarische Märchenbearbeitungen, Forschungsergebnisse zu Märchen aus aller Welt, vergleichende Betrachtung von Märchen ganz unterschiedlicher Herkunft, Rezeptionsästhetik (die Wissenschaft vom Senden-Empfangen-Verstehen) und tiefenpsychologische Erläuterungen von der Creme de la creme der Märchenforschung werden in einem kleinen Ort im Odenwald vorgetragen, der sich mit Recht „deutsche Märchenhauptstadt Reichelsheim“ nennen darf. Prof. Dr. Heinz Rölleke, Prof. Dr. Wilhelm Solms, Dr. Barbara Gobrecht, Prof. Dr. Kristin Wardetzky, Prof. Dr. Rosemarie Tüpker präsentieren ihr Fachwissen hier so anschaulich und unterhaltsam, daß ich mir gewünscht hätte, meine einst während des Studiums besuchten Vorlesungen wären ähnlich mitreißend dargebracht worden.

In Reichelsheim wird seit 1996 jährlich der Träger/die Trägerin des Wildweibchenpreises gekürt, und viele bekannte Schriftsteller reihen sich ein: Geschichtenschreiber und Geschichtsschreiber, Forscher und Erzähler. Mit Willi Fährmann (Kinder- und Jugendbuchautor aus Xanten) begann es, es folgten Hans-Christian Kirsch, Otfried Preußler (die kleine Hexe, Räuber Hotzenplotz, Krabat) und Michail Krausnick („Beruf: Räuber“ und viele weitere Werke z.B. über die Sinti und Roma). Cornelia Funke erhielt den Wildweibchenpreis im Jahr 2000 für ihr Gesamtwerk („Die wilden Hühner“), das damals jedoch noch längst nicht komplett war: mit Tintenherz, Tintenblut und Tintentod (2003-2007) landete sie das deutsche Pendant zur Welt Harry Potters, diese Trilogie begeistert vor allem Jugendliche und Erwachsene. Ich mußte ein ganzes Jahr warten, bis ich auf der Warteliste meiner Nichte „drangewesen“ wäre und habe mir die Trilogie logischerweise selbst gekauft...
Paul Maar (das Sams und Lippels Traum), Christine Nöstlinger (das „wilde und wütende Kind“, Kinder- und Jugendbuchautorin aus Österreich), Sigrid Früh (eine der bekanntesten Märchen- und Sagenforscherinnen Deutschlands mit wunderbar alemannischem Akzent) und Heinrich Pleticha (Literaturforscher aus Leidenschaft) folgten. Ehrhard Dietl aus München wurde 2005 für „Otto der kleine Pirat“ geehrt, Heinz Rölleke (Germanist und Erzählforscher), Sabine Friedrichson (Kinderbuchillustratorin) und Kirsten Boie (Kinderbuchautorin und Literaturwissenschaftlerin) kamen. Die Orientalistin Hannelore Marzi, Märchenerzählerin und Übersetzerin, wurde 2009 geehrt. Es folgten Reinhard Michl (Kinderbuchillustrator) und Wilhelm Solms (Germanist und Kunstwissenschafter), 2012 der Hamburger Illustrator Albert Schindehütte und 2013 die Märchenerzählerin aus Himmelstadt, Carola Graf. Andreas Steinhöfel („Rico, Oscar und...“, Drehbuch für Käpt‘n Blaubär und Urmel aus dem Eis u.a.) folgte 2014, Lisbeth Zwerger (Kinderbuchillustratorin) 2015. Prof. Kristin Wardetzky folgte 2016, Prof. Hans-Jörg Uther 2017, Dr. Barbara Gobrecht 2018 und Prof. Dr. Rosemarie Tüpker 2019. 2020 entfiel die komplette Veranstaltung aufgrund der Pandemie, und im Oktober 2021 wurden daher zwei Wildweibchenpreisträger geehrt: der Buchillustrator Klaus Ensikat (2020) und Werner Holzwarth 2021. Letzterer ist übrigens der Schöpfer des kleinen Maulwurfs mit dem Hundehaufen auf dem Kopf („hast du mir auf den Kopf gemacht? Nein, ich mache so“). Dieser Comic, der für die Sendung mit der Maus zu einem Film umgearbeitet wurde, hat mich so fasziniert, daß ich für die Kinder die an meinen Felsenmeerführungen teilnahmen ein AA-Memory erdacht habe. Erwachsene scheiterten oft daran, Kinder nicht. Denn ich hatte einen „geheimen Anker“ als Hinweis in die Kärtchen eingebaut.
Während der Vorträge im Literaturprogramm der Märcheninsel 2021 war man ziemlich unter sich, da leider im Vorfeld das interessierte Zielpublikum nicht erreicht wurde. Dies ist der Corona-Problematik geschuldet, und es bleibt sehr zu hoffen, daß der vermeintliche Mangel an Interesse nicht zum Tod des Reichelsheimer Märchenliteraturprogramms führen wird. Ich drücke ganz fest die Daumen daß dieses Programm weiterlebt!

Im Einzelnen brachten die Vorträge vielfach Neues, Interessantes, Überraschendes zu Tage:

  • Prof. Dr. Solms referierte über das Leben im Schloß - ein Traum, der bei genauerem Hinsehen ein Alptraum ist: Solms glaubt nicht, daß die Königstöchter (die entweder umworben werden und dann auf dem Schloß des Gemahls leben oder die sich mit den berühmten drei Aufgaben einen ebenbürtigen Partner suchen) fürderhin glücklich bis an ihr Ende lebten.
    Solms kann aus eigener Erfahrung berichten: es sei ein Unglück, als Kind auf einem Schloß großzuwerden, zusammengefaßt im Aphorismus „Macht macht blöd“.
  • Frau Dr. Prof. Tüpker stellte ein Märchen aus Birma vor und warf die interkulturelle Frage auf, was das Fremde mit dem Vertrauten, was das Vertraute mit dem Fremden macht. Wie ist das erste Hören eines Märchens aus einem fremden Kulturkreis?
    Zum Verständnis mit Herz und Verstand benötigt der Hörer Anker, vertraute Elemente, die einen Bezug zur Erzählung herstellen können. Das Märchen „der Junge mit der Harfe“ aus Birma hat viele Ankermöglichkeiten, um Zuhörer aus einem fremden Kulturkreis einzubinden. Am Schluß aber steht eine kulturelle Dissonanz, die in Europa nicht von einem Märchen erwartet wird. Der Protagonist kehrt nicht heim und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, sondern er wird von der Schatzgöttin in der Anderswelt behalten, und man kann sein Harfenspiel im Rauschen des Meeres hören, wenn man aufmerksam lauscht. Alelrdings geschieht dies, indem zunächst die Teile des toten Körper des Jungen eingesammelt und neu zusammengefügt werden mußten zu einem neuen Wesen. Das ist für unsere Vorstellungswelt fremd.
  • Der Märchenforscher Hans-Jörg Uther - eine Koryphäe auf dem Gebiet der Grimmforschung, der inzwischen in der Bezeichnung der Grimm-Klassifizierung ATU auftaucht  (ATU nach den Forschern Aarne, Thompson, Uther) - Uther nimmt das „Schloß“ im Märchen als sehr schemenhaft wahr, als Stereotype. Während es im Märchen um ein Schloß geht, spielt sich die Handlung in einer Sage eher auf einer Burg ab, im Schwank schließlich oft in einem Luftschloß. Das Leben auf dem Schloß zeigt das soziale Milieu des Feudalismus. Den Begriff Schloß gab es im Althochdeutschen nicht, erst im Mittelhochdeutschen mit der Bedeutung Befestigte Anlage. Später bezeichnet es nur das Repräsentative des Gebäudes.
    Das Schloß im Märchen ist für den Protagonisten ein Weg, sich über festgelegte Standesgrenzen hinauszuträumen, eine Wunschdichtung voller Optimismus. Und es ist Symbol für Macht und Luxus: der soziale Aufstieg führt zwangsläufig ins Schloß.
    Eine lustige Frage wurde aus dem Publikum gestellt: wird im Märchen jemals gesagt, wie das Schloß beheizt wurde? Nun ja... Das alles war vor langer langer Zeit, und wo im Märchen ein Ofen erwähnt wird, da ist es oft eine Art Seelentelefon (der Eisenofen). Ob man damit auch heizen konnte?
  • Die Schweizer Professorin Barbara Gobrecht beleuchtete die böse Stiefmutter im Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge. Nach Max Lüthi bedeutet Stief in Stiefmutter „stehlen, rauben“, und die Urfassung des Märchens - auch die Grimm-Ausgabe erster Hand stellt die Mutter des Mädchen als diejenige dar, die ihm nach dem Leben trachtet, 1819 wird daraus die Stiefmutter, die es bis zur Ausgabe letzter Hand 1857 bleibt. Das Zwergenhaus sei Biedermeier in Reinform, seine Bewohner befinden sich in der Regression (nach Drewermann). Gobrecht stellte die provokante Frage: Gibt es eigentlich Zwergenfrauen?
  • Sehr aufschlußreich war der Vortrag von Prof. Kristin Wardetzki: sie beschrieb die Rezeption einer 800 Jahre alten persischen Dichtung, die noch heute im arabischen Kulturkreis überall präsent ist: Leyla und Madschnun (von Dschinnen Besessener), Ein Märchen mit Romeo & Julia Thema. Wardetzki regte an: fragen Sie mal einen Geflüchteten, ob er Leyla und Madschnun kennt - Sie werden überall auf glänzende Augen stoßen!
    Der Dichter stammt aus Aserbeidschan, sein Name ist Nizami. Er verfaßte seine Dichtungen im 12. Jahrhundert und nannte sie „die fünf Schätze“. Selbst Papst Franziskus zitierte schon aus seinem Werk.

Der Bogen, den die Vortragenden während der 25. Reichelsheimer Märcheninsel schlugen, umfaßte das Märchenspektrum zahlreicher Kulturen auf der ganzen Welt, es wurde mitreißend erzählt und glasklar analysiert. Beides geht nur unter einer Bedingung zusammen: es braucht lebhaftes Interesse an der Märchenforschung, zugleich aber auch die Bereitschaft, sich auf ein Märchen einzulassen.
Für Kinder war diese Veranstaltung daher nicht geeignet, denn nie nie darf man einem Kind ein Märchen erklären. Kinder brauchen Märchen (Bruno Bettelheim), aber Kinder wissen auch selbst, welches Märchen gerade jetzt gut ist. Ärgern Sie sich nicht, wenn Ihr Kind dasselbe Märchen Abend für Abend hören möchte. Es ist gut so. Wenn Sie Ihrem Kind das Märchen erklären, töten Sie es - auch so ein Aphorismus, ich weiß nicht mehr wo ich ihn gelesen oder gehört habe...
Marieta Hiller, November 2021