Eine Zeitreise vom Feldweg zur Nibelungenstraße mit Heidi Adam, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Geschichts- und Heimatvereine im Kreis Bergstraße, im November 2016
Der Reichenbacher Verschönerungsverein (VVR) hatte zu diesem Vortrag eingeladen. Die Nibelungenstraße ist jünger als mancher glaubt. Ihre Entstehung und Veränderung legte Frau Adam dar.
Menschen sind zu allen Zeiten in Bewegung, doch früher war dies oft beschwerlich. Seit Seßhaftwerdung der Jäger und Sammler entstehen Orte und verbindende Wege. Die wichtigsten sind Flüsse, dann folgen Straßen.
Die Römer kamen vor knapp 2000 Jahren mit ihren Soldaten über den Rhein zur Bergstraße, wo sie lange schnurgerade Straßen anlegten, manche bis zu 40 Meter breit. Denn ihnen ging es um Übersichtlichkeit und Sicherheit, den Odenwald mit seinen waldigen Hügeln empfanden als unheimlich. Die römischen Straßen-baumeister legten überall im Römischen Reich breite Straßen an, heute oftmals noch als „Steinerner Weg“ oder „alte Römerstraße“ in Landkarten zu finden. Sie bauten lieber eine Straße mitten durch ein Moor wie in Lermoos in Österreich, mit massiven Befestigungen, als Umwege ins Hügelland zu machen.
In unserer Region entstanden Straßen zwischen Mainz und Heidelberg, die Bergstraße bis Frankfurt und die Limesstraße entlang der Grenze. In regelmäßigen Entfernungen legten sie Relais an, Rasthäuser. Von der Strata montana, der Bergstraße, bauten sie in den Odenwald hinein die heutige Siegfriedstraße von Heppenheim nach Beerfelden oder die Via strata oder Würzburger Straße von Worms über Heppenheim und Lindenfels nach Würzburg.
Von Bensheim verlief der Weinweg oder die Weinstraße über Reichenbach, die Grauelbach und Beedenkirchen bis Dieburg. Diese Straße ohne jede Brücke war hochwassersicher, was in früheren Zeiten sehr wichtig war. Die Weinstraße war für Reichenbach von großer Bedeutung, so Heidi Adam. Denn bis Reichenbach verlief die Vorgängerin der Nibelungenstraße im Talgrund, um dann am alten Rathaus nordöstlich auf die Höhe Richtung Beedenkirchen abzubiegen.
In Reichenbach trafen kleinere Wege, die Markt- und Kirchpfade zusammen, es entstanden Gasthäuser und Herbergen, Reichenbach war ein Knotenpunkt. Schon um 1600 war die Weinstraße geflastert. 1613 wurde die Mentzelbrücke, 1747 die Marktplatzbrücke über die Lauter gebaut. 1736 baute man den alten Marktweg nach Gadernheim zur Straße aus, die von Reisenden als „furchtbarer Weg“ bezeichnet wurde. Dreimal mußte der Vorspann der Kutschen gewechselt werden, um den steilen und felsigen bzw. sumpfigen Abschnitt bei Lautern zu überwinden. 1829 wurde die „Lautertalstraße“ gebaut, schon auf der heutigen Streckenführung. Damals kam der Name Nibelungenstraße auf.
In Reichenbach hatte man immer wieder Lauter-Hochwasser: 1611, 1772, 1882, 1930, 1931, 1938 und 1964/65. Am 6. Januar 1906 - die Orte im Odenwald waren zu dieser Zeit übrigens noch nicht elektrisiert - nahm die erste Motor-Omnibusgesellschaft zwischen Bensheim und Lindenfels ihre Arbeit auf. Die Straße wurde zum Schutz vor Überflutungen höhergelegt, die Lauter mit Stützmauern eingefaßt. An den Häusern wurden die Treppen zum Hauseingang überflüssig, die ursprünglich zu den über dem Keller liegenden Wohnräumen führte.
Zu dieser Zeit war für Steintransporte aus Lindenfels und dem Lautertal der Bau einer Eisenbahn geplant. Alles war bereits projektiert, die Finanzierung gesichert, die Streckenpläne erstellt. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914 machte die Pläne zunichte, so daß die „Chaussee von Bensheim nach Gadernheim“ der einzige Erschließungsweg in den Odenwald blieb. 1920 übernahm die Deutschen Reichspost die Strecke mit ihren gelben Postbussen, sie soll die rentabelste in ganz Hessen gewesen sein. Kopfsteinpflasterung erhielt die Straße 1936, nachdem sie zuvor sehr staubig und uneben über verdichteten Boden verlief. 1972 wurde die Lauter in Reichenbach verdohlt, später verschwanden das Gasthaus Zur Sonne und die Lindenbäume.
Die Nibelungenstraße spielte auch eine wichtige Rolle am Kriegsende 1945: am Palm-Sonntag 25. März 1945 gingen über Deutschland viele Bomben nieder. Osnabrück und Limburg wurden zerstört, Darmstadt lag schon seit dem 11. September 1944 in Trümmern. In Darmstadt wollte Pfarrer Wintermann an diesem Sonntag predigen, aber dort war alles verbarrikadiert. So hielt er einen denkwürdigen Konfirmationsgottesdienst in Beedenkirchen. Als die Menschen aus der Kirche kamen, hörten sie die ersten amerikanischen Panzer auf einer Rundfahrt von Ober-Ramstadt über Nieder-, Ober-, Schmal-Beerbach, Wurzelbach, Allertshofen, Hoxhohl, Ernsthofen wieder nach Ober-Ramstadt. Erst zwei Tage später, am Dienstag, 27. März, marschierten die Amerikaner nachmittags in Reichenbach ein. Da sie an diesem Tag entlang der B 47 auf Widerstand stießen, dauerte es noch einen Tag und kostete zwölf sinnlose Menschenleben, neun Gadernheimer Zivilisten und drei US-Soldaten, bis die amerikanischen Panzer durchkamen.
„Es waren lange Tage, als wir wußten, daß sie kommen und doch nicht wußten, was wird“, schrieb Else Roth aus Reichenbach in ihr Tagebuch. Man hörte die Artillerie, zwei Häuser in Reichenbach wurden stark beschädigt: die Elternhäuser zweier Gründungsmitglieder der örtlichen NSDAP in der „Straße der SA“. „Menschen hat der Beschuß keine gefordert, unser Dörfchen steht Gott sei Dank noch“, schrieb Else Roth.
In Gadernheim dauerte der Beschuß aus sechs Artillerie-Kanonen noch die ganze Nacht, bis der letzte NS-Widerstand gebrochen war. Die amerikanischen Truppen konnten auf der Straße weiter in den Odenwald vordringen, im Lautertal war damit der Krieg zuende.
Siehe auch: Altstraßen in der Region und Die Römer im Odenwald
M. Hiller, W. Koepff und die Heimatforscher im VVR, siehe auch den Auszug aus den Onlinebriefen 200-203 (2015) des Verschönerungsvereins Kriegsende im Lautertal