Wie alt ist Neunkirchen wirklich?
Bis Mitte 2021 war auf den Seiten des historischen Ortslexikon, basierend auf Daten des hessischen Staatsarchives zu lesen: "Neunkirchen wurde im Jahre 1222 erstmals urkundlich genannt. 1347 verkaufte Erkinger von Rodenstein alles, was er zu Neunkirchen besaß, dem Grafen Wilhelm von Katzenelnbogen. 1433 verkauften auch die Brüder Hermann und Konrad von Rodenstein ihren Anteil an Lützelbach dem Grafen Philipp von Katzenelnbogen. Im 16. Jahrhundert stand das Dorf den Junkern von Rodenstein zu, der Landgraf von Hessen hatte die Cent- und Hohe Obrigkeit mit Gebot und Verbot."
Mehr zum Eintrag im historischen Ortslexikon weiter unten...
Inzwischen lautet der Eintrag so:
"Ersterwähnung: 1347
Siedlungsentwicklung: 1637 gilt der Ort als verwüstet.
1347 kauft Graf Wilhelm zu Katzenelnbogen ein Viertel an dem Haus zu Rodenstein von Erkenger zu Rodenstein (die Hälfte von dessen Anteil) in der Burg, außerhalb des Vorhofs, einen Garten, den sechsten Teil des Waldes und seinen Besitz zu Brandau, Neunkirchen und Steinau mit allem Zubehör für 400 Pfund. Ende des 14. Jahrhunderts hat Schenk zu Erbach Abgaben aus Neunkirchen. 1413 verpfändet Hermann von Rodenstein Neunkirchen dem Pfalzgrafen. 1433 verkaufen die Brüder Hermann und Konrad von Rodenstein Neunkirchen wiedereinlöslich dem Grafen Philipp von Katzenelnbogen. Im 16. Jahrhundert steht Neunkirchen den Junkern von Rodenstein zu, der Landgraf hat die hohe und centbare Obrigkeit mit Gebot und Verbot. 1748 treten die Brüder Ludwig Eberhard und Hans Weiprecht von Gemmingen ihre Rechte an Landgraf Ludwig von Hessen ab.
Zehntverhältnisse: 1347 verkauft Erkenger, Herr zu Rodenstein u.a. den Zehnten aus Neunkirchen an Graf Wilhelm von Katzenelnbogen."
Dank des Hinweises von Ernst Seeger finden Sie weiter unten die ausführliche Stellungnahme des Hessischen Staatsarchives zur Korrektur der Seiten im historischen Ortslexikon.
Woher kommt der Name Neunkirchen?
Die Heimatforscher sind sich nicht einig: angeblich sollen einst neun Kirchen in diesem kleinen Ort gestanden haben. Da dies recht unwahrscheinlich ist, könnte der Name auch so entstanden sein: nach einem großen Krieg gab es in der weiten Umgebung des Dörfchens nur noch die eine Kirche „Cosmas und Damian", erbaut wohl im 13. oder 14. Jahrhundert.
Und so wanderten sonntags die Gläubigen aus neun Dörfern hinauf auf die Höhe zu St. Cosmas & Damian. Und da alle neun Gemeinden angaben, daß dies "ihre" Kirche ist, so wurde der Ort Neunkirchen genannt. An der Kirche ist die Jahreszahl 1222 n. Chr. angebracht, dies scheint jedoch nicht zu stimmen, da sich diese Jahreszahl in Dokumenten für den Ort Neunkirchen bei Miltenberg findet. Mit 1347 n. Chr. ist die erste urkundliche Erwähnung der Kirche in Modautal-Neunkirchen wohl richtig angegeben.
In historischen Dokumenten lautet der Ortsname wechselnd:
Nuwenkirchen, ze (1347) [HStAD Bestand B 16 Nr. 1; vgl. Demandt, Regesten Katzenelnbogen 1, S. 309-310, Nr. 1004] Nuwenkirchen (Ende 14. Jahrhundert) Nunkirchen (1433) Neunkirchen (1748)
Cosmas und Damian: zwei syrische Heilige
Die Kirche in Neunkirchen hat ihren Namen nach den Heiligen Cosmas und Damian, syrischen Zwillingsbrüdern, die im 3. Jahrhundert n. Chr. als Ärzte arbeiteten und der Legende nach Kranke unentgeltlich behandelten. So konnten sie viele Genesene zum Christentum bekehren und werden als Heilige verehrt. In jener fernen Zeit soll sich im Urwald eine Einsiedlerin niedergelassen haben, ganz in der Nähe des höchsten Odenwald-Rücken im Westen. Sie hatte dort eine Quelle entdeckt und befand sie als heilkräftig. Eine Forelle hielt ihre Quelle stets rein. Zwei arabische Ärzte kamen auf ihrer Pilgerreise vorbei, wohnten bei der Einsiedlerin und unterstützten sie bei der Heilung Kranker. Das waren Cosmas und Damian. Sie bewirkten noch größere Heilungen als die Frau, es folgten große Wallfahrten (‘Wall’ bedeutet nichts anderes als Quelle). Später baute man dann auf die Quelle eine Kapelle, der Quellausfluß wurde unter den Pfarrgarten geleitet, wo noch heute ein Pumpenbrunnen mit hervorragendem Wasser ist. Weil die Kapelle und später die Kirche anstelle des ursprünglichen heidnischen Quellheiligtums gebaut wurde, heißt es heute Neunkirchen. Die neue Kirche ist jedoch auch schon recht alt: das Dorf wurde im Jahre 1222 erstmals urkundlich genannt und hatte damals schon eine Kirche. Daß aber der Name Cosmas, eines der beiden Zwillingsbrüder, etwas mit Kosmetik zu tun hat, das wird sicher einige verwundern...
Cosmas und Damian kamen aus Syrien, wie auch unzählige Geflüchtete seit 2015 aus dem instabilen Staat in Vorderasien hierher kamen. Syrien grenzt im Süden an Israel und Jordanien, im Westen an den Libanon und das Mittelmeer, im Norden an die Türkei und im Osten an den Irak. Wie der Weg in unseren Zeiten aussieht, lesen Sie hier: 3000 Kilometer... Unvorstellbar, wie er wohl zu Zeiten der beiden heiligen Ärzte gewesen sein mag.
Weitere Einträge im historischen Ortslexikon lauteten vor der Aktualisierung:
"Neunkirchen lag im Gerichtsbezirk der Zent Oberramstadt. Die Zent war in sogenannte „Reiswagen“ eingeteilt, denen jeweils ein Oberschultheiß vorstand, die dem Zentgrafen unterstellt waren. Dieser Bezirk hatte einen Frachtwagen (Reiswagen) einschließlich Zugtiere und Knechten für Feldzüge bereitzustellen. Neunkirchen gehörte zum „Brandauer Reiswagen“, dem auch noch die Orte Brandau, Allertshofen, Hoxhohl, Herchenrod, Lützelbach, Ernsthofen, Neutsch, Klein-Bieberau und Webern angehörten. Die gesamte Zent Oberramstadt war dem Amt Lichtenberg zugeteilt. Diese Einteilung bestand noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.
Die Statistisch-topographisch-historische Beschreibung des Großherzogthums Hessen berichtet 1829 über Neunkirchen: Neunkirchen (L. Bez. Reinheim) luth. Pfarrdorf; liegt 2 1⁄2 St, von Reinheim und beinahe auf dem Gipfel der sogenannten Neunkircher Höhe, die 2364 Hess. (1820 Par.) Fuß über der Meeresfläche erhaben ist. Der Ort hat 15 Häuser und 102 luth. Einwohner. Man findet eine schöne 1742 erbaute Kirche, die wegen des hellen Anstrichs weit sichtbar ist, ein ganz massives Pfarrhaus und unter dem Schatten einer schönen alten Linde einen Springbrunnen, der auf einer solchen Höhe eine merkwürdige Erscheinung ist. Auf der Spitze des Bergs, der mit kolossalen Granitblöcken übersäet ist, genießt man eine herrliche, ganz unbeschränkte Aussicht bis zu den Vogesen, dem Donnersberg, dem Taunus; man erblickt den Rhein von Speier bis gegen Mainz, Frankenstein, Lichtenberg, Otzberg, die Ebene gegen Frankfurt hin, das odenwäldische Gebirge und unter diesem den hervorragenden Katzenbuckel. – Der Tradition nach gab zur Erbauung der Kirche ein Gesundbrunnen die Veranlassung. Es siedelten sich nach und nach mehrere Familien an, und die Rodensteiner und Andere pfarrten ihre Unterthanen ein. Der älteste bekannte Geistliche ist Rudolph von Rodenstein, ein Bruder Heinrichs und Erkingers, und erscheint 1360. Erkinger von Rodenstein verpfändete 1347 den Ort an Wilhelm II. von Katzenellenbogen. Diese Pfandschaft muß aber wieder abgelößt worden seyn, indem Neunkirchen 1413 von Herrmann von Rodenstein um 200 fl. an die Pfalz versetzt wurde.«
Gebietsreform: Im Zuge der Gebietsreform in Hessen wurden Neunkirchen und Lützelbach auf freiwilliger Basis am 31. Dezember 1971 in die Gemeinde Brandau eingegliedert und am 1. Januar 1977 kraft Landesgesetz mit, der am 1. April 1971 gebildeten Gemeinde Modautal, und weiteren Gemeinden zur neuen Gemeinde Modautal zusammengeschlossen. Für Neunkirchen wurde ein Ortsbezirk mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher nach der Hessischen Gemeindeordnung gebildet."
Ernst Seeger aus Neunkirchen schrieb mir dazu im Januar 2022: "Dies stimmt leider nicht, Neunkirchen ist urkundlich erstmals im Jahre 1347 erwähnt. Die Jahreszahl 1222 an der Kirche ist definitiv falsch, da sich die entsprechende Urkunde, wie sich später herausstellte, auf Neunkirchen in Unterfranken (bei Miltenberg) bezieht. Die Jahreszahl 1222 wurde fälschlicherweise von einem ehemaligen Pfarrer anbringen lassen und nicht wieder entfernt."
Und Ortsvorsteherin Sabrina Bormuth kontaktierte 2021 nochmals das hessische Staatsarchiv, um die Unklarheiten ein für alle Mal auszuräumen. Hier die Antwort des Staatsarchivs, mit freundlicher Genehmigung durch Frau Bormuth:
Sehr geehrte Frau Bormuth,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 18.01.2021, die Herr Prof. Dr. Adler zuständigkeitshalber an mich weitegeleitet hat.
Gern versuche ich, Ihnen weiterzuhelfen.
... Auch kann ich Ihnen nochmals bestätigen, dass es sich bei LAGIS (Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen) um eine vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde betriebene Plattform handelt, auf der grundsätzlich zuverlässige Informationen festgehalten sind, die fortlaufend aktualisiert und bei Bedarf korrigiert werden, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben – auch in Zusammenarbeit mit uns (es besteht ein Kooperationsvertrag zwischen dem Landesamt und dem Landesarchiv), vor allem im Bereich der Ersterwähnungen.
Leider hat sich nun gerade im Fall von Neunkirchen wohl tatsächlich ein Fehler eingeschlichen – so zumindest mein Ergebnis im Nachgang an die Recherche nach dem Beleg für eine Ersterwähnung Neunkirchens im Jahr 1222. Als Belegstelle für die Erwähnung 1222 wird im Historischen Ortslexikon auf LAGIS „Müller, Hessisches Ortsnamenbuch, Provinz Starkenburg“ angeführt. Müller wiederum verweist in seinem Eintrag zu Neunkirchen auf „Scriba, Regesten des Gr. Hessen, Provinz Starkenburg, 4. Abt., Darmstadt 1854“. Bei Scriba wiederum wird auf „Mone, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins II, 3. Heft, 1951, S. 304“ verwiesen. Und hier schließlich findet sich der Auszug der Urkunde von 1222, die Mone wiederum aus einem Kopialbuch des Klosters Bronnbach von 1384 abgeschrieben hat. Ich habe Ihnen den Auszug bei Mone einmal beigefügt. Hier sehen Sie (S. 304), dass Mone „Nuenkirchen“ als Neunkirchen bei Miltenberg in Unterfranken auflöst, was hinsichtlich der anderen genannten Ortschaften (Kloster Bronnbach bei Wertheim, Amorbach (Ammersbach) und die Herrschaft des Erzbischofs von Mainz über das Gebiet durchaus stimmig ist. Es liegt m. E. also eine Verwechslung vor: nicht Neunkirchen/Modautal, sondern Neunkirchen/Unterfranken findet im Jahr 1222 seine Ersterwähnung.
Für Neunkirchen/Modautal muss es daher wohl bei der bisherigen Ersterwähnung im Jahr 1347 bleiben. Mit Urkunde vom 26. September 1347 kauft Graf Wilhelm zu Katzenelnbogen ein Viertel an dem Haus zu Rodenstein von Erkenger zu Rodenstein (die Hälfte von dessen Anteil) in der Burg, außerhalb des Vorhofs, einen Garten, den sechsten Teil des Waldes und seinen Besitz zu Brandau, Neunkirchen und Steinau mit allem Zubehör um 400 Pfund. Die Urkunde wird unter der Signatur HLA, HStAD B 16 Nr. 1 hier im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt aufbewahrt. In Arcinsys finden Sie das Digitalisat der Urkunde mit der Suche "Hessisches Landesarchiv Signatur HLA, HStAD B 16 Nr. 1" (Link: https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v3307911).
Wir werden das Hessische Landesamt für geschichtliche Landeskunde entsprechend informieren und um Korrektur des Eintrages zu Neunkirchen bitten.
Eine Überprüfung dieser Ersterwähnung Neunkirchens/Modautal wäre natürlich möglich (auch wenn es wohl bei dem Ergebnis 1347 bleiben wird).
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Informationen weiterhelfen zu können, bedauere, dass es (noch) keine 800-Jahrfeier geben kann (Dann eben eine Feier zu auch schon stolzen 675 Jahren?) und stehe Ihnen für Rückfragen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen i.A. Barbara Schwarz M.A., Hessisches Landesarchiv im Hess. Staatsarchiv Darmstadt
Marieta Hiller