Seit wann gibt es Tourismus im Odenwald? Zunächst gab es nur Wallfahrten, Reisen von Kaufleuten, die Walz bei Handwerkern, Kavalierstouren und Bildungsreisen bei Adligen. Für diese Reisen galt: sie waren auf das Ziel hin zweckgerichtet.
Tourismus, auch Fremdenverkehr (zu bevorzugen ist der Begriff Tourismus, denn „Fremdenverkehr“ klingt abweisend, fast fremdenfeindlich...) genannt, entstand erst Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich die Reiseliteratur entwickelte.

Blick auf die Burg in Lindenfels
Das Aufkommen von Fußreisen als Selbstzweck
Nach der Französischen Revolution (1789) kamen Fußreisen in Mode, die Freizeitbeschäftigung Wandern entstand. Besonderheit gegenüber den früheren Formen des Reisens ist der Selbstzweck: man wandert um sich in der Natur zu bewegen.

Blick auf die Burg in Lindenfels

Das Krokodil im Felsenmeer, eine natürliche Steinformation. Das Felsenmeer war früher an Werktagen gesperrt, weil hier aktiv Steine abgebaut wurden, inklusive Sprengungen. Nur an Wochenenden konnten Gäste die Felsen auf eingezäunten Wegen begehen.
Das heute allgemein als Selbstverständlichkeit vorausgesetzte Straßennetz existierte noch nicht: erst 1848 wurde die heutige B 47 gebaut, 1843 die Provinzialstraße von Roßdorf zum Gumper Kreuz, die heutige L 3099. Mit dem Straßenbau eröffnete sich die schnelle Reisemöglichkeit per Postkutsche.
Doch dann kam die Eisenbahn, und die Kutscher schlossen sich in einer der ersten Bürgerinitiativen zusammen: die Eisenbahn würde ihnen Einnahmen nehmen. Die meisten Fuhrmänner waren hauptberuflich Landwirte und brauchten das Zubrot aus dem Warentransport, denn die Landwirtschaft im Odenwald ließ niemanden reich werden.
Vielleicht war dies auch eine der ersten Bürgerinitiativen, die sich gewaltig ins eigene Fleisch schnitt: wäre die Eisenbahn wie geplant von Bensheim (1846 eröffnet) bis Lindenfels über Gadernheim gebaut worden, so hätten Wirtschaftsansiedlungen auch in unserer ländlichen Region bessere Chancen gehabt, und die Bevölkerung ein besseres Auskommen: in ihrem Buch „Wir ziehen nach Amerika“ zitiert Marie-Luise Seidenfaden einen Auswanderer.
„Als die Riegelstraße in Amerika gebaut wurde - Dieses Jahr war überhaupt Geld genug zu verdienen wegen der Riegelstraße. ... Die Riegelstraße führt hier bei Friedrichstadt (in Amerika) vorbei gegen den Ohio Staat. Die Riegelstraße ist ein ganz eben gemachter Weg, 18-20 Fuß breit, der bisweilen tief durch Hügel durchgegraben ist und worauf viereckige eichen Riegel fest zusammen gekeilt sind, worauf Eisen genagelt ist, und auf diesem Eisen gehen die Packwägen, mit Eisen gegossene Räder, welche an der Innenseite eine Falze haben, damit die Räder nicht aus dem Riegel springen: diese Wagen treibt der Dampf.“
Der 1. Weltkrieg machte die Eisenbahnpläne für die Region zunichte, doch anderswo entwickelte sich blühender Tourismus: wo immer ein Bahnhof eröffnet wurde, kamen die Reisenden in Scharen. Vor allem die Schweiz profitierte von reiselustigen Engländern. Auch der Rhein wurde zum beliebten Reiseziel. Angelockt wurden die Gäste durch die neu entstandene Form der Reiseliteratur, die geradezu einlud zu Vergnügungsreisen.
Die Entstehung der Reiseliteratur
Aus den allerersten Reisewegbeschreibungen aus der Zeit um 1730 entwickelten sich politische Reisebeschreibungen (z.B. der Jakobiner nach der Frz. Revolution), die Bildungsreise weitete ihr Zielpublikum auf die ganzheitliche Bildung auch für Bürgerliche aus. Reiseromane in Tagebuchform oder als Brieffolge begeisterten die Menschen. Und nicht zuletzt die großen Entdeckungsreisen in Gegenden, wo bislang auf Weltkarten weiße Stellen waren, beschriftet mit „hic sunt dracones“ (hier gibt es Drachen).
Der Odenwald war um 1800 noch weithin völlig unerschlossen für Reisende, es gab noch längst nicht überall Einkehr- oder Übernachtungsmöglichkeiten. Auch Freiherr Adolph von Knigge veröffentlichte seine Reisebriefe, allerdings ließ er sich auf der Fahrt von Heidelberg nach Darmstadt so von einer jungen Reisebegleiterin ablenken, daß ihm von der Bergstraße nur der Blütenduft erwähnenswert schien. Dann kam Karl Baedecker: 1839 gab er den ersten modernen Reiseführer heraus.
Über den Odenwald schrieb noch 30 Jahre zuvor ein anonymer Verfasser im Badischen Magazin über seine „Abenteuerreise in den Odenwald“, daß dieser trotz der räumlichen Nähe (zu Mannheim) so selten besucht würde und für viele eine terra incognita (unerforschtes Land) sei. Ihm hatte es vor allem die Poesie der Rodensteinersage angetan, die später (1925) zusammen mit weiteren Odenwälder Sagen Eingang in das Buch Rodenstein von Werner Bergengruen fand, der eine Weile in Lindenfels lebte. Das Burgstädtchen war damals tatsächlich noch die Perle des Odenwaldes und wimmelte vor Touristen.
siehe auch: Felsenmeer - nach den Römern folgte die Stille
Doch zurück zum Jahr 1840: einer der wichtigsten Förderer des Tourismus war der Weinheimer Oberbürgermeister und Pädagoge Albert Ludwig Grimm. Sein Werk „Die malerischen und romantischen Stellen der Bergstraße, des Odenwaldes und der Neckar-Gegenden“ erschien 1842 und beschrieb den Odenwald erstmals einigermaßen flächendeckend. Seine romantische Darstellung, die zu ausgedehnten Wanderungen einlud, ist Höhepunkt, aber auch Schlußpunkt der Reiseliteratur für Fußreisen.
Denn die Eisenbahn hielt Einzug an der Bergstraße, und von den Reiseliteraten wurde sie fortan eifrig zur Verbesserung ihrer Reisebeschreibungen genutzt: Fahrpläne, Streckenkarten, Bahnhöfe und dort erhältlicher Reiseproviant wurden abgedruckt - allen voran Baedecker, der 1849 bereits die sechste Auflage druckte. Seine besondere Empfehlung: in der Eisenbahn Plätze auf der Ostseite buchen, um den Blick auf die Odenwaldberge genießen zu können. Exakt und kurzgefaßt erläuterte Baedecker alles, was ein Reisender wissen muß.
Damit beschließt der Koblenzer Verleger (1801-1859) die Ära der romantischen Reisebücher, die noch stark von gefühlsbetonten Eindrücken geprägt war. Allerdings hatten die Dichter der Romantik vor allem Heidelberg zum Ziel, nicht den wilden Odenwald. Auch der Adel wagte sich nicht weit in den Odenwald hinein: noch 1790 schuf man sich ländliche Idylle lieber künstlich im Fürstenlager, der Sommerresidenz der Landgrafen und Großherzöge von Hessen.
Und tiefer hinein in den Odenwald getraute man sich nur mit einem Führer: auf Wanderungen von Auerbach zum Melibokus und zum Fürstenlager oder von Reichenbach zum Felsenmeer. Hier wiederum beeindruckte den Engländer Charles Edward Dodd anno 1818 speziell das Jägerhaus auf dem Felsberggipfel, wo er die preiswerte Einkehr mit hausgemachtem Brot, Butter, Käse und Wein im jagdlich dekorierten Gastzimmer pries. Dodd spottete über Lindenfels als trotz der hervorzuhebenden Burg äußerst schmutzig und elend. Lieber begab er sich mit in Reichenbach gemieteteten Reitpferden über Schönberg nach Auerbach und auf den Melibokus.
Noch wußte niemand ob die Riesensäule römischen Ursprungs oder mittelalterlich war und wozu sie einst dienen sollte. Auch über die geologische Entstehung des Naturdenkmals Felsenmeer war noch nichts bekannt. Ansonsten fanden die Autoren der Vor-Baedecker-Zeit (frühes 19. Jahrhundert) wenig Bemerkenswertes am Odenwald, zumal einige auch den Schwerpunkt auf der Landwirtschaft setzten, die an der Bergstraße und im Ried wesentlich bemerkens- und beschreibenswerter war als im Odenwald. Johann Friedrich Knapp empfahl 1813 erstmals auch die Höhe von Neunkirchen als Ausflugsziel. Lebensweise und Charakter der Odenwälder wurden selten beschrieben, und wenn widersprüchlich.
Noch völlig unbekannt waren zu dieser Zeit auch die Höhenwege durch den Odenwald, die erst seit ihrer Erschließung und durchgängigen Markierung des Odenwaldklubs große Beliebtheit fanden.
Bemerkenswert ist eine mehrwöchige Fußwanderung einer Schulklasse 1813: von Kassel und den Vogelsberg wanderte der Lehrer Ludwig Boclo nach Heidelberg, von dort nach Koblenz und durch die Taunusbäder. Im Odenwald führte die Wanderung natürlich auch durch das Felsenmeer, den Melibokus und den Frankenstein. Gar nicht auszudenken, eine solche Idee heutigen Schülern vorzuschlagen!
Ein schier endloses dichtes Waldgebiet, weltabgeschieden, verträumt und einsam...
Um 1870 war der Odenwald touristisch noch immer weitgehend unbekannt. Erst 1860 begann im ältesten Luftkurort des Odenwaldes Lindenfels der Gästebetrieb. 140 Jahre später, 1954, hat sich der Odenwälder Tourismus etabliert: Walter Meisel konstatiert in der zweiten Ausgabe von „Der Odenwald“ eine Steigerung des Fremdenverkehrs 1953 um 20 % zum Vorjahr (Quelle: Landesverkehrsverband Hessen), in Darmstadt lag die Steigerung sogar bei 31%. Jedoch erwähne ein Autoführer von 1953, daß der Odenwald ein schier endloses dichtes Waldgebiet sei, weltabgeschieden, verträumt und einsam.
Das Wachstum des Gästeaufkommens ist trotzdem unaufhaltsam. Günter Marckhoff merkt dazu 1969 an (ebenfalls in „Der Odenwald“), daß die Übernachtungszahlen häufig durch große Sanatorien der Versicherungen „geschönt“ wurden. Bereits im ersten Weltkrieg wurden große Hotels in Lazarette umgewandelt und später zu Erholungsheimen. Dadurch kamen die begehrten Langzeit-Übernachtungsgäste in die Statistik. 1966 wurden in Winterkasten (Erholungsheim der LVA) etwa 8638 Übernachtungen mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 16,7 Tagen vermerkt, in Neunkirchen waren es 11982 Übernachtungen mit 7,5 Tagen Aufenthalt.
Zwar wurde der Odenwald auch bis in die abgelegenen Dörfer durch Straßen erschlossen und somit auch für Touristen erreichbar, doch entwickelten sich so zugleich mit dem stärkeren KFZ-Verkehr auch Abgasen, Lärm und Staub. Jedem ist die sonntägliche „Kochkäsrallye“ der MA-LU-WO-Autoschlangen ein Begriff. Sechs Durchgangsstraßen brachten die Gäste in den Odenwald: Nibelungenstraße und Siegfriedstraße, ferner Burgenstraße, Bergstraße, Straße der Residenzen (heute fast vergessen) und Dt. Ferienstraße Alpen - Ostsee.
Marckhoff (1954) erwähnt eine Verkehrszählung: in einer halben Stunde wurden an der B 47 in Lindenfels 316 PKW, 13 Krafträder und zwei Busse gezählt (beide Richtungen). In Neunkirchen wurden 1968 an einem schneereichen Wintersamstag gegen 14 Uhr 533 Fahrzeuge gezählt. Damals war der Neunkircher Skilift noch in Betrieb.
Die amtliche Statistik von 1953 nannte zehn Orte im Odenwald als Fremdenverkehrsgemeinden, 1962 waren es 27 Orte, 1966 bereits 72 Gemeinden, nicht mitgerechnet die Orte, die unter 3000 ÜBernachtungen pro Jahr blieben. Lindenfels kann 1968 insgesamt 566 Gästebetten in Hotels, Gasthäusern und Pensionen sowie 128 Privatbetten für Gäste anbieten.
Besonders krass zeigt sich der Strukturwandel von einer reinen Landwirtschaftsgemeinde zum Tourismusort in Gras-Ellenbach: 1952 gab es hier 56 landwirtschaftliche Betriebe, nach Entwicklung zum Kneipp-Kurort waren es 1968 nur noch 20 Betriebe. Dafür stellte Gras-Ellenbach nun 620 Betten zur Verfügung.
Ganz andere Zahlen als der Odenwald kann die Zugspitzregion vorweisen: in Ehrwald leben neben 2600 Österreichern etwa 1000 feste EU-Bürger. Hinzu kommen aber 4000 Gästebetten mit 400.000 Übernachtungen pro Jahr! Davon 60% im Winter (erst seit 1985) und 40% im Sommer (schon seit etwa 1900). In Limone am Gardasee liegen die ortsansässigen Einwohner sogar in nur 10 % der verfügbaren Betten!
Die Perle des Odenwaldes: traumhafte Übernachtungszahlen noch vor wenigen Jahrzehnten!
In Lindenfels sucht man nach dem drastischen Rückgang des Busreiseverkehrs nach neuen Alleinstellungsmerkmalen. Während im Stadtgebiet von Lindenfels kein einziges der ehemals vornehmen Häuser aus den Zeiten der Sommerfrische mehr existiert (außer Waldschlößchen 23 Betten und Ludwigshöhe 14 Betten - 1906 gab es 400 Betten in 15 Häusern, noch 1978 wurden 124.000 Übernachtungen nur in der Stadt selbst verzeichnet), eröffnete 2018 im Stadtteil Winterkasten das Hotel-Ressort „Heritage Ayurveda“.
Lindenfels war lange Jahrzehnte „die Perle des Odenwaldes“ mit täglich hunderten Touristen, Winterkasten lebte von den Erholungssuchenden der LVA. Als beides nicht mehr lief, verschliefen viele den Zeitpunkt zur Neuorientierung, wie sie der Wellness-Bereich bietet.
Wellness, Erholung, Entschleunigung - das sucht eine jüngere Klientel heute, und sie findet es allmählich auch im Odenwald. In Winterkasten bot sich das ehemalige Landhaus Sonne an, und nun bieten Suby und Asha Dominic hier in familiärer Atmosphäre Ayurveda- und Yoga-Anwendungen an.
Das neue Hotel "Heritage Ayurveda" in Winterkasten (seit 2018) bietet mit 21 Betten in Einzel- und Doppelzimmern Gelegenheit, das Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Seele zu finden. Unterstützt wird das Hotelier-Ehepar durch Dr. Rashmi Rao und Dr. Reji Thomas.
Ayurveda, das „Wissen vom Leben“, versteht das Leben als Einheit von Körper, Sinnen, Verstand und Seele, Entspannung und Streßabbau stehen im Vordergrund. Ayurvedische Kochkurse mit einem tiefen Einblick in die ayurvedische Kochkunst bietet das Winterkäster Haus nun jeweils am Wochenende.
Während unser Kulturkreis Ayurveda vor allem zur Wellness nutzt, ist es in Asien eine anerkannte Heilmethode, die nicht über therapeutische Einzelmaßnahmen arbeitet, sondern als ganzheitliches System.
Und heute?
- Lautertal: zwölf Schlafdörfer oder Mittelpunkt für Bewohner und Touristen
- Die Zahlen für Lautertal und Modautal folgen demnächst, für Lindenfels wurden 2016 insgesamt 100326 Übernachtungen gezählt, für 2017 waren es 97002, diese Zahlen beziehen sich auch auf die Ortsteile.
- Gras-Ellenbach: Strukturwandel von einer reinen Landwirtschaftsgemeinde zum Tourismusort
1952: 56 landwirtschaftliche Betriebe
1968: Entwicklung zum Kneipp-Kurort - 20 Betriebe, aber 620 Betten für Gäste
Lesen Sie dann auch mehr zum Strukturwandel von der landwirtschaftlich geprägten Odenwälder Region zu anderen Schwerpunkten.
zahlreiche Angaben aus
- Heinz Schmitt „Bergstraße und Odenwald in der Reiseliteratur dew 18. und 19. Jahrhunderts, Beiträge zur Erforschung des Odenwaldes und seiner Randlandschaften Band VI, 1997
- Günter Marckhoff, Der Fremdenverkehr im Odenwald und seine geographischen Auswirkungen, Zeitschrift Der Odenwald des Breuberg-Bundes, Heft 3/1969
- Walter Meisel, der Odenwald im deutschen Fremdenverkehr, Zeitschrift Der Odenwald des Breuberg-Bundes, Heft 2/1954
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M. Hiller, September 2018