Begeben Sie sich auf Zeitreise mit mir: es geht etwa 89 bis 77 Jahre in die Vergangenheit. Wer rechnen kann merkt: es geht um die Zeit zwischen 1933 und 1945, das tausendjährige Reich, Nationalschande oder wie auch immer wir aus heutiger Perspektive die Zeit nennen mögen. Sie wirklich zu beurteilen ist schwer. "Wie würde ich mich verhalten?" - diese Frage kann niemand von uns Heutigen wahrheitsgetreu beantworten.

Interessante Details entdeckt man beispielsweise, wenn man ein bißchen nachbohrt: so wurde die Neutscher Chronik von 1956 geschrieben von einem Mann, der 1933 in die NSDAP eintrat, 1937 ein Buch mit dem Titel "Zur Geschichte der Juden" veröffentlichte, extrem judenfeindlich und antisemitisch war. Dr. Adolf Müller (1890-1956), Leiter des Städtischen Archivs, der Stadtbibliothek und des Museums in Darmstadt. Nach 1945 wurde er nicht mehr in den städtischen Dienst übernommen. https://dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/MuellerAdolf.htm

Müller lebte eine Zeitlang in Neutsch und schrieb dort die Geschichte des Dorfes auf. Einer seiner Vorfahren war aus Neutsch, einer der acht Neusiedler nach dem 30-jährigen Krieg, als das Dorf "bis auf einen Mann" ausgestorben war. Seine Sprache im Jahr 1949 ist - wie die vieler Zeitgenossen - noch stark geprägt vom nationalsozialistischen Geist: "Es lag nahe, daß der Historiker (=Müller) sich der Geschichte dieser Sippenheimat zuwandte, handelt sie doch vom Leid und der Freude der Menschen meines Blutes." Lesen Sie zur Geschichte Neutschs auch: Neutsch: Höhendorf an der Hutzelstraße

Das deutsche Erbübel der Untertänigkeit: Leitmotiv in Dr. Müllers Betrachtungen

Schon in der Überschrift des ersten Kapitels nach der kurzen erdgeschichtlichen Betrachtung lautet "Vom Schicksalskampf unserer Ahnen und dem deutschen Erbübel der Untertänigkeit". An mehreren Stellen zeigt sich Müllers Eskapismus in Mentalitäten außerhalb seines eigenen Landes, das ihm ganz offensichtlich zu eng war nach 1945. Er spricht vom "Grenzergeist" als ewigem Jungbrunnen der amerikanischen Nation: "Die Männer und Frauen der amerikanischen Grenze seien, wenn sie nicht hätten untergehen wollen, gezwungen gewesen, Fesseln überkommener Gewohnheiten und Gedanken zu zerbrechen und mutig, auch geistig, in unbekanntes Neuland vorzustoßen." Er bezieht sich dabei auf eine Vorlesung von Professor Frederik Jackson aus dem Jahr 1893.

Dr. Müller 1949: "Jahrhundertelang litten wir (die Deutschen) darunter, daß unsere Grenzen in Ost und West von unruhigen Nachbarn immer wieder bedroht wurden, weil das Reich im Innern zu viele Grenzen besaß. Die Vielzahl der Fürsten und Herren, die das Deutsche Folk mästete, schuf keinen Grenzergeist, sondern jene Untertänigkeit, an der das Reich schließlich zerbrach."
und: "Wie anders der amerikanische Pionier, der in den unermeßlichen Weiten der Prärie in einem elenden aus Rasenstücken erbauten Unterstand kampierend, trotz der ständigen Gefahr, von Indianern erschlagen zu werden, dennoch erfüllt sein durfte von dem köstlichen Gefühl, frei schalten und walten zu können, ein freier Herr auf freiem Grund, der nichts mehr wußte von Hypothek und Regreß und von Hochwohlgeborenen gnädigen Herren, denen man nur in submissester Untertänigkeit nahen durfte, weil sie sonst ungnädig wurden."

To boldly go where no man has gone before

Dieser Traum der Übriggebliebenen wurde - aus einer ganz anderen Richtung - geprägt in das Motto "to boldly go where no man has gone before" aus Star Trek (Raumschiff Enterprise). Man darf sich die Serie ruhig anschauen, sie spiegelt in märchenhafter Weise (nach langer langer Zeit, an einem Ort weit weg) die immerwährenden menschlichen Bestrebungen, die mit neuen Entdeckungen stets einhergehen: Expansion und Kolonisation, Versklavung und Deportation der jeweils anderen.

Der Bauer der Steinzeit: ein Leben in Freiheit?

Als die Jäger und Sammler seßhaft wurden, erbauten sie feste Häuser. Dr. Müller: "Der Bauer der Steinzeit lernte zuerst den Segen der Arbeit kennen. Er mußte planen. Sein Werk zwang ihn vorauszudenken. Der Boden, den er im Schweiße seines Angesichts urbar machte, lohnte die Mühe. Der Bauer hinterließ, wenn er starb, das feste Haus, die gerodeten Äcker, das gezähmte Vieh. So erwuchs allmählich aus der Arbeit die Freude am Besitz, am Boden, der Nahrung schenkte, wenn man nur treu seine Pflicht erfüllte. So erwuchs die Liebe zu diesem Boden, die köstlichste Frucht der Zeit, die Heimatliebe." Diese glücklichen germanischen Bauern erlebten dann mit der Invasion der Römer ihre erste Unterdrückung, wenn man Dr. Müller glaubt. Und so lautet die nächste Kapitelüberschrift "Wie die Bauern unfrei wurden".

Römische Besatzungszeit, die Zeit unter dem Kloster Lorsch und das Mittelalter

"König und Berufsheer entfernten sich innerlich (im 5. Jahrhundert) immer mehr von der tragenden Masse des Staates, dem bäuerlichen Volke. Anstatt Ackerland im Osten zu erobern, anstatt zu kolonisieren, was einem Bauernkönig mit Bauernsoldaten hätte gelingen können, zogen unsere Kaiser und ihre adeligen Reiter, die den Pflug verachteten, in das Zauberland Italia und verspielten in dem Kampfe mit dem Papsttum königliche Macht und deutsche Zukunft; denn in Italien wurde die deutsche Zersplitterung geboren, an der das erste Reich - und nicht nur das erste Reich - zerbrach."

Und wieder: "Wir erkannten in der Untertänigkeit, in der deutschen Knechtsseligkeit ein verhängnisvolles Erbübel." Dr. Müller sah den alten starken Uradel ehe- und kinderlos in den Klöstern verschwinden, und der neue Adel "erwuchs aus Dienern (Ministerialen) der hohen weltlichen und geistlichen Fürsten und ließ die alte germanische Freiheitsliebe vermissen."
„Die Herren raubten das Land, weil auch damals Gewalt vor Recht ging. Die Hagen-Münzenberg,..., die Rohrbach, Ruckershusen, Rabenolt von Tannenberg und Walbrunn, die nacheinander als Herren unserer Heimat auftraten, gehören allesamt entweder durch Verwandtschaft oder Lehensabhängigkeit zu den mit den Grafen von Katzenelnbogen versippten Herren von Bickenbach."

Neutsch gehörte vermutlich bis 874 zum Fronhof des Königs in Seeheim, kam dann zum Kloster Lorsch und wurde im 12. Jahrhundert an die Herren von Bickenbach bzw. Seeheim gegeben.

Die mittelalterlichen Weistümer (= verbindliche Rechtsüberlieferung, die mündlich bei regelmäßigen Zusammenkünften gepflegt wurde) beinhalteten lange Zeit eine wichtige Klausel, um Machtübernahmen zu verhindern: "Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist." Dr. Müller: "Da ich, gewitzigt durch eigene Lebenserfahrung, besonders die Entstehung der deutschen Knechtsseligkeit untersuchen will, verfolgte ich das Geschick gerade dieses Artikels." Der Satz "Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist" verschwand demnach zur Zeit des Schöffen Mathis von Nitz (Neutsch), Keller zu Lichtenberg. Dieser Mathis konnte sich nach Dr. Müller nicht gegen den gräflichen Diener und Keller zu Lichtenberg Hans Kulemann durchsetzen, und so verschwand der Satz nach 1474 aus dem Weistum. "Nun die Bremse des 2. Artikels (meint den Satz Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist) dank der Gefügigkeit des untertänigen Mathis von Neutsch und seiner Genossen gefallen war, konnten ungestraft neue Herrenrechte, die kein altes Herkommen waren, verkündet werden. Wir werden sehen, daß die landgräfliche Regierung die Möglichkeit sofort ausnutzte."

Im Salbuch Starkenburg aus den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts fand Dr. Müller ein Ortsverzeichnis der Zugehörigkeit zu den Dannbergischen Herren (Tannenberg/Seeheim): neben Seeheim, Bickenbach auf dem Sande, Malchen, zum Henchen (Hähnlein) und Gogenheym (Jugenheim) gehörten auch Beedenkirchen und Neutsch dazu, ebenso Kreidach, Auerbach und Pfungstadt. Darin heißt es, daß die Herren jederzeit ihren Knecht zum Eintreiben von Zins und Gült zu den drei ungebotenen Dingen von Neutsch ("kommen zu Nitz zu den drien ungeboden Dingen" = die für alle Zeiten festgesetzten drei Gerichtsversammlungen) entsenden dürfen. Diese Dinge - Thingversammlungen - fanden in Neutsch also auch in der hohen Gerichtsbarkeit (Gericht über Leib und Leben) vor Ort statt, obwohl dies dem Landgericht Ober-Ramstadt vorbehalten war. Dr. Müller verordnet diese Thingstätte dort, wo noch heute die Flurnamen "an der Pein" und "Galgenäcker" darauf hinweisen. Auch den Diebspfad, der zum Rämschter (Hügel bei Neutsch) führt, ordnet er hier ein und vermutet als Ort für die Thingstätte die flache Hügelkuppe des Rämschder. Dieser liegt direkt am Weinweg, der in Ost-West-Richtung Groß-Bieberau mit Lorsch, Gernsheim und Stockstadt verbindet. Weinweg kommt von Wagenweg, es war eine Fernstraße für den Handel und den Verkehr zwischen den verstreut liegenden Klosterbesitztümern. Um Neutsch herum hieß der Weinweg Gotteshäuschenweg. Ein weiterer Weg zum Rämschter war der Hasellauf, der vom Modautal herauf führte. Damit ist Neutsch als Gerichtsstätte nach Dr. Müller älter als Ober-Ramstadt. Der kleine Ort hatte eine gute Verkehrslage, die Fernstraße Weinweg führte direkt zum mittelalterlichen Rheinhafen, die Hutzelstraße bis Dieburg. Zudem wird der Rämschter im Dreieicher Weistum für den Bannforst Dreieich als Grenzpunkt genannt, wobei dort er dort Ramisberg heißt. Dr. Müller sieht in Ramis einen sehr alten Verweis auf die heiligen Vögel, die Raben.

Die Gerichtsbücher überliefern selten reizvolle menschliche Einzelheiten des bäuerlichen Lebens, da man auch damals schon beim Schriftverkehr mit der Herrschaft über einen Anwalt ging. "Die Schöffen, die in der Frühzeit Volksvertreter gewesen waren, wurden immer mehr Polizeiorgane des werdenden Absolutismus", so Müller. Die Schöffen verdienten nicht schlecht an den zur Anzeige gebrachten Vergehen, so daß wohl oft üble Nachrede im Spiel war. Abschließend konstatiert Dr. Müller: "Das altdeutsche Gerichtswesen kannte viele altüberlieferte Formeln und Symbole. Schlimm war, daß der Inhalt der Formeln und Sinnbilder sich immer mehr verflüchtigte. Bald war das alte Brauchtum nur noch Tarnung der Unfreiheit."

Im Kapitel des Bauernkrieges schreibt Dr. Müller zur darauf folgenden Gesetzeslage: "Es war alles beim alten geblieben... Das einzige Ergebnis des blutigen Bauernaufstandes 1524/25 war: das Ackerland, auf dem Untertanen gezüchtet wurden, war gejätet worden, rücksichtslos hatte der fürstliche Gärtner, unterstützt von der Kirche, das 'Unkraut', das noch genug Widerstandswillen gezeigt hatte, sich aufzulehnen gegen unbillige Willkür, ausgerauft. Dreihundert Jahre herrschte die ersehnte Kirchhofsruhe, dann empörte sich das Volk wiederum. Wir Neutscher sind stolz darauf, daß unsere Ahnen auch bei dem zweiten Aufstand in der vordersten Front standen." Mit dem zweiten Aufstand ist die Revolution 1848 gemeint.

Im Nachgang zum 30jährigen Krieg, der Pest und der Otzberger Fremdherrschaft durch die Franzosen schreibt Dr. Müller: "Wenn wir von hochgelegenen Neutscher Äckern den Otzberg in der Ferne ragen sehen, sei er uns eine Mahnung, auf der Hut zu sein. Trau, schau wem! Auch aus einfältiger Treue, aus Untertänigkeit gegen ein Fürstenhaus, gegen eine Kirche, gegen eine Partei, gegen einen Stand oder eine Klasse kann man seinem Volke zum Unheil werden, selbst wenn man aus den edelsten Beweggründen handelt." Der Satz vor diesem lautet jedoch wie folgt (über die Herrschaft auf dem Otzberg Mitte des 17. Jahrhunderts): "... Joachim Henning, der erste Zwingherr im Solde Frankreichs war ein Deutscher, sein Oberst ein Prinz Wittgenstein. Deutsche im fremden Sold! Deutsche als gefügiges Werkzeug fremder Machthaber..."

Der Herausgeber der Chronik: "Heimat schaffen in dieser verwirrten Zeit"...

Die Niederschrift des Dr. Müller, maschinenschriftlich in den Unterlagen des Neutscher Bürgermeisters vorhanden, wurde 1956 von Wilhelm E. Zinsel veröffentlicht: "Neutsch - aus seiner Geschichte". Pfarrer Wilhelm Emanuel Zinsel (*27.01.1901 +03.06.1977), Sohn von Eduard Zinsel, dem großherzoglichen Hoffotografen (siehe Zufallsfund: Fotos des Schönberger Fürstenhauses, „Aus der Zeit des Ausbruchs des Weltkriegs: Die großherzogliche Familie kommt am 2. August 1914 von der Abholung der Standarte und der Verabschiedung des 23. Garde-Dragonerregiments zurück", aufgenommen im Residenzschloß zu Darmstadt von Hofphotograph Ed. Zinsel. Dieser war Großherzoglich Hessischer Hofphotograph in der Riedeselstaße 39 in Darmstadt. https://www.ev-gemeindenetz-nb.de/home/ober-beerbach/neutscher-kapelle/

Zinsel war Mitinitiator der Gedenkstätte in Brandau in seiner Funktion als Geschäftsführer des Kreisverbandes Darmstadt im Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Gemeinsam mit dem Landrat des Landkreises Darmstadt Georg Wink wurde die Kriegsgräberstätte geplant, 1964-1966 unter Leitung des Architekten Dipl.-Ing. Heinz Dieffenbach errichtet und am 25.09.1966 eingeweiht. Am Volkstrauertag organisiert der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Kreisverband Darmstadt-Dieburg hier die Gedenkfeier für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Pikantes Detail dabei ist, daß auch diese Organisation nach 1945 zunächst entnazifiziert werden mußte. Wikipedia berichtet von der Lobbyarbeit des Volksbundes 1933. Man wollte die Blutzeugen des Nationalsozialismus in die Arbeit des Volksbundes integrieren. Während die DDR eine Neugründung nach 1945 verbot, entstand die Organisation in Westdeutschland neu und wurde in der politischen Landschaft der BRD fest verankert. Nach der Wiedervereinigung wurden auch in den ehemaligen DDR-Bundesländern Landes- und Kreisverbände gegründet.

Zinsel ließ 1954 "dem Gedächtnis meiner toten und der Gefallenen des Dorfes eine Kapelle "zum Gedächtnis meiner Toten und der Gefallenen des Dorfes" erbauen. "Die Drucklegung der Geschichte des Dorfes möchte das Werk fortführen, Heimat zu schaffen in dieser verwirrten Zeit..."

Eine kritische Auseinandersetzung des Pfarrers Zinsel mit der von Dr. Müller gepflegten Sprache erfolgt nicht. Diese weist an vielen Stellen Anklänge an verinnerlichtes nationalsozialistisches Gedankengut auf, das nur oberflächlich durch reumütige Phrasen geschminkt wurde. Daß dieser Sprachduktus noch 1949 "normal" und "üblich" war, zeigt sich in zeitgenössischen Dokumenten (Kino, Rundfunk). Auch die Aliierten befleißigten sich einer aufgeregten Sprache, in der die Begriffe "Volk" und "Vaterland" häufig vorkommen. Aber sieben Jahre später, als Wilhelm E. Zinsel Müllers Manuskript unkommentiert veröffentlichte, hätte man eine inhaltliche Einordnung erwarten können. "Heimat zu schaffen in dieser verwirrten Zeit..." ist vielleicht nicht ganz die richtige Einordnung, vielmehr ist es die berühmte Schere im Kopf.

Nur der Gefallenen des Dorfes zu gedenken, ist nicht ausreichend. Zukünftige Gefallene zu vermeiden wäre eher angeraten. Dazu sind jedoch sämtliche Kräfte zu 100% erforderlich, um an diesem Ziel zu arbeiten. Die aktuelle weltpolitische Landschaft "verspricht" zahlreiche zukünftige Gefallenen, deren dann wieder gedacht werden kann.

Weiteres aus der Neutscher Chronik lesen Sie hier:  Neutsch: Höhendorf an der Hutzelstraße

Marieta Hiller, Februar 2022

Als ich mich mit verschiedenen Menschen unterhielt auf der Suche nach Hintergrund-Infos zur Blaufarbenfabrik Lautern, zum Kupferbergwerk Reichenbach oder zum Modautal-Eisenbahnbau, war ich auch zu Gast bei einer 94 Jahre alten Dame, die aus Raidelbach stammt. Sie hat ein Familienbuch, in das sie alle Geburten und Sterbefälle einträgt. So konnte sie mir über ihren Urgroßvater Heinrich Mink (*um 1850) berichten, der ab 1880 als Aufseher in der Blaufarbenfabrik tätig war. Das hatte ihr eine Großtante erzählt, die Direktorin der Bensheimer Post war und nach der Devise lebte „Wenn man so [vornehm] nicht essen will, kann man ja gleich zu den Kühen im Stall gehen“. Sie war recht vornehm, täglich kam das gute Geschirr auf den Tisch, sie trug immer gepflegte Kleidung, und die Schürze wurde nicht angezogen, sondern vorgelegt.
Heinrich Mink ist verwandt mit den Reichenbacher Minks, die nach den Erinnerungen der alten Dame einst von drei Russen abstammten, die im 18. Jahrhundert nach dem Krieg in Reichenbach blieben und ihren Namen in Mink änderten.

„Man kann ja keins mehr fragen“

Da die alte Dame gerne ohne Namensnennung bleiben möchte, nenne ich sie K.
Ihre Mutter Margarethe stammt aus Gadernheim und ist als uneheliches Kind in der Villa der Blaufarbenfabrik Lautern geboren. Später heirateten die Großeltern von K. aber doch noch, obwohl der Philipp dem Urgroßvater Heinrich Mink nicht gut genut war. Margarethe und Philipp hatten viele Kinder. Philipp stammt aus Bayern, war orthopädischer Schuhmacherr und starb 1935. Drei Jahre später starb seine Schwiegermutter, die Urgroßmutter von K. und Ehefrau von Heinrich Mink.

Vor dem 1. Weltkrieg kamen viele Steinhauer aus Bayern, weil dort große Arbeitslosigkeit herrschte, so weiß K. zu erzählen.

K. brachte als Zehnjährige, also um 1937, dem Vater jeden Tag das Mittagessen zum Hohenstein. Der Vater arbeitete drei Jahre „am Kunkelmann“ und brachte den Kindern immer grüne und blaue Steine mit. K.s Bruder war der in den 1980er Jahren bei uns Jugendlichen sehr beliebte Dreschers Adam, wo wir am Wochenende immer Ebbelwoi und Flaschenbier getrunken haben. Eine Schwester von K. lebt noch, sie ist 97 Jahre alt.

K.s erster Mann war ein Götzinger, er war 35 Jahre älter als sie und während des Krieges Ortsbauernführer in Raidelbach. Sein Hof hatte 94 Morgen Feld. Im Krieg war er lange inhaftiert: beim Fliegerabschuß am Hohberg Elmshausen landete ein junger Soldat mit dem Fallschirm auf dem Heidenberg, Götzinger und sein Nachbar brachten ihn zur Verwaltung im Rathaus Gadernheim. Da der Soldat aber Blut im Schuh hatte, wurde Mißhandlung durch die beiden Raidelbächer unterstellt. Erst nach 28 Monaten wurden die beiden durch den jungen Soldaten entlastet und entlassen. Da war seine 1. Frau schon ein Jahr tot, und er selber verstarb nicht lange nach der Heirat mit K. 1954.

1960 zog K. nach Brandau und heiratete erneut, einen Flüchtling aus dem Böhmerwald. Er starb mit 53 Jahren.

K. war Zeit ihres Lebens arm und sagt nun mit 94 Jahren doch von sich, daß es ihr nie so gut gegangen ist wie jetzt. Sie ist rüstig, putzt und kocht selbst, strickt wunderschöne gemusterte Sachen, und ißt sehr viele gekochte Eier. Sie hatte in ihrem Leben 26 Putzstellen, ließ sich aber nicht selbst zum Putzlumpen machen, das ließ ihr Stolz nicht zu.

„Der Wohlstand hat uns Haß Neid und Streit gebracht...“

Unser Wort Haus kommt von Hube, ebenso wie das Wort Hof. Ein Hof konnte im Lauf der Geschichte verschiedene Ausprägung haben: im Amorbacher Urbar (1395/97) werden als Klosterbesitz curiae et areae genannt. Areae bezeichnete Fronhöfe.
Sogar das Wort Hafen kommt ursprünglich von Hube. Hube (ahd huoba, mhd huobe) bezeichnete das für die Ernährung einer Familie erforderliche Flächenmaß an Acker- und Weideflächen. Unser Wort Nachbar kommt von 'der nahe Bauer'.

Und mit Haus und Hof sind wir auch schon bei unseren - mehr oder weniger - beliebten Mitbewohnern: Hunde und Katzen wurden im Zuge der Seßhaftwerdung zu unseren geschätzten Haustieren, ebenso wie Rinder, Schafe, Schweine, Ziegen, Hühner, Gänse.

Wen wir nicht so gerne mögen, sind Ratten und Mäuse. Aber die es fanden damals ganz paradiesisch, als wir anfingen Getreide und Kohl anzubauen und über Winter zu lagern.
So trug es sich zu, daß anno 1284 zu Hameln eine große Rattenplage herrschte, weil die Bewohner nachlässig mit ihren Kornspeichern geworden waren. Nachlässig waren sie dann auch mit der Bezahlung für den dämonischen Pfeifer, der ihnen versprach für ein paar Goldstücke die Ratten aus der Stadt zu führen. 1816 wurde die Rattenfängersage als Nr. 244 in Grimms Sagen aufgenommen. 10 Quellen gaben die Brüder Grimm an, meist aus dem 16. + 17. Jahrhundert. In der Sage entführte der unbezahlt gebliebene Rattenfänger aus Rache die Kinder, angeblich seien diese in einem Berg verschwunden und erst in Siebenbürgen wieder herausgekommen sein.

Für diese Entführung gibt es verschiedene Erklärungsversuche: die Kinder wurden zur Ostkolonisation verschleppt nach Pommern, Masuren oder Siebenbürgen. Oder sie wurden für einen Kinderkreuzzug rekrutiert. Eine weitere Erklärung wäre ein Ausbruch der Pest. Dafür spricht die Flöte des Rattenfängers (= Pestnase) und die bunten Kleider bis zum Boden (= Fetzen zum Schutz vor Kontakt zu Erkrankten), dagegen spricht, daß die Ratten als Erzählmotiv erst im 16. Jahrhundert in die Sage kamen. Ob die Pest schon Jahrzehnte vor der großen Pandemie 1349 in Hameln war, ist unklar. Laut neuesten Forschungen kam der 1349er Erreger schon im 13. Jahrhundert aus Ostasien nach Europa.  

Die Brüder Grimm haben übrigens nicht nur Märchen gesammelt, sondern auch Volksüberlieferungen. Auch aus dem Odenwald wurden einige Figuren bei ihnen verewigt: der Rodensteiner (Hans von Rodenstein 1418-1500) oder der Krischer (Amt Reichenberg:  er erschreckte des Nachts die Leute die im Wald arbeiten mußten; Köhler, Viehhüter, Betreiber von Wässerwiesen) oder die feurigen Wagen (Gammelsbach). Spannende Details dazu berichtet Heidi Banse im Beitrag "Odenwälder als Hauptpersonen in den Sagen der Brüder Grimm"
in: Gelurt Band 14. M. Hiller

Nach dem 30jährigen Krieg baute Pfarrer Widerholt dieses Fachwerkhaus mit zahlreichen Bibelsprüchen in verschiedenen Sprachen und Schriften in der Ortsmitte von Schriesheim auf. Den Angriff der Franzosen 1674, dem viele Gebäude an der Bergstraße zum Opfer fielen, überstand das Widerholtsche Haus.

 

 

Tympanon des Straßburger Münsters

Kaum ein historischer Beruf ist so geheimnisvoll wie die Steinmetzkunst: eigene Sprache, eigene Zeichen, eigene Figuren, die zu lesen sehr spannend ist - wenn man erfährt, wie es geht. An dieser Kunst ließ uns Dietmar Wolf, seines Zeichens Steinhandwerksgeselle in Straßburg und pädagogischer Ausbildungstrainer im europäischen Bildungszentrum für Steinhand-werksgeschichte UFWG, teilhaben. „Mit Gunst und Erlaubnis“ - so lautet die Eingangsformel im Wanderhandwerk der Steinmetzgesellen. Mit Berufsfremden sprachen sie nur das Nötigste, untereinander hatte die Bruderschaft der Straßburger Steinmetze fest definierte Regelzeichen, ihre Symbole.

So war der Novize, der um Aufnahme in die Bruderschaft bat, das Rindvieh. Als Hase lernte der Lehrling, „wie der Hase läuft“, doch zu sagen hatte er noch nichts: „mein Name ist Hase“. Wird er zum Gesellen, beginnt er mit der ältesten Tätigkeit der Welt: er buckelt nach oben und tritt nach unten. Der Fuchs wird fuchsteufelswild, kann aber auch gut ducken und schmeicheln.

Hat ein Geselle kein Geld mehr, dann sagt man, er sein »auf den Hund geraten«. In solch einem Fall kann er vom Meister oder auf der Herberge um Unterstützungsgelder bitten, welche er in der Regel auch erhält. Denn der Hund, das ist der Meister. Treu den Gesetzen der Natur und Gott, überwacht er alle Arbeiten und die Schar der Hasen und Füchse, ist am Abend hundemüde, fühlt sich dann hundsmiserabel und muß dennoch bei jedem Hundewetter hinaus zur Arbeit. Der Fuchs dagegen ist ein falscher Hund, einer der sich die größte Kompetenz anmaßt. Über Hund, Fuchs, Hase und Rindvieh steht der Affe, der Werkmeister. Er gab Begriffen wie Affenschande, dich sollte der Affe lausen, affenstark, affengeil ihren Inhalt.

Berufsfremde, die kein Handwerk ausübten, wurden als Hornickel bezeichnet, hinzu kamen die „unehrlichen“ Gewerke: Müller, Gerber, Prostitution. Die Steinhandwerksbruderschaften (11.-15. Jh.) grenzen sich gegen die unfreien Maurerzünfte aus weltlichen städtischen Steinhandwerkern ab als Freie-Maurer und Steinmetze, ihr Werkmeister war immer zugleich auch Kleriker. Bauwissen war ein wohlgehütetes Gut, es wurde in der Loggia, der Bauhütte, gelehrt und durfte weder schriftlich noch mündlich an Nichthandwerker weitergegeben werden, Wandergesellen hießen daher „diskret“. Man sprach „kochemer loschen“, die geheime Sprache, die noch heute von Wandergesellen gesprochen wird und aus dem 11. Jahrhundert stammt. Später nimmt diese Sprache Elemente aus dem Jiddischen, Rätoromanischen, Französischen und Intalienischen auf und wird unter anderem auch zum Rotwelsch oder Jenisch der Räuberbanden um 1800. Zinken, Kluft, Stenz, Walz, Beiz, Kohldampf, Penne, Kaff und Hornickel sind solche uralten Begriffe.

Gesellen erhielten keinen Gesellenbrief, sondern ihr persönliches Steinmetzzeichen. In der Freisprechungszeremonie mußte er schwören, alles was man ihm anvertraute bezüglich seines Handwerkes, „als nemlich der steinmetzehaimlichkeit, grueß und schenck sampt anderen was darzue gehörig“ niemals einem anderen zu erzählen oder niederzuschreiben.

Schaut man genau hin, so entdeckt man an den wundervoll ornamentierten Fassaden vieler großer Kirchen besondere Figuren, die sich oftmals hoch oben am Turmgesims oder versteckt in opulenten Tympanons oder Innenfriesen zeigen: Rindvieh, Hase, Fuchs, Hund und Affe. Betrachten Sie die nächste Kirche mal daraufhin, es ist erstaunlich! Nach Abschluß der fünfjährigen Lehrzeit durfte der Steinmetzgeselle ein eigenes Zeichen entwickeln, und diese Zeichen ziehen sich durch ganz Europa. Fast jeder Stein an jeder Kathedrale, jedem Münster, zeigt ein solches Zeichen. Daran läßt sich die Walz, die Wanderschaft des Gesellen termingenau nachvollziehen, denn die Bauzeiten der Gebäude sind dokumentiert. Und wenn Sie jetzt schon die ganze Zeit an Freimaurerlogen denken, dann haben Sie nicht unrecht, denn diese Logen entwickelten sich aus den Loggien, den Bauhütten. Aus der Zeit der Bruderschaften haben sie als ethische Prinzipien die Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität übernommen. Kommt Ihnen 1-3 auch bekannt vor?

Freimaurer übten die sogenannte Königliche Kunst aus und verstanden sich daher als ethischen Bund freier Menschen. Ihre Überzeugung besagte, daß man durch ständige Arbeit an sich selbst zu menschlicherem Verhalten kommen kann. Unser Begriff Loge bedeutete im Ursprung Fremdenzimmer.

Noch heute ziehen Wandergesellen auf die Walz, ohne Bankkarte, Handy, Schlüssel, sie unterwerfen sich nur den Regeln ihrer Zunft und bleiben über (2-3) Jahr und Tag außerhalb der Bannmeile ihrer Heimat.
Und noch heute tragen Angehörige der Freimaurerlogen ein Vergißmeinnicht im Knopfloch, als Erinnerung an die Zeit des Dritten Reiches, als die Freimaurer verboten waren und im Untergrund lebten. Hase, Fuchs, Hund und Affe sitzen in Stein gemeißelt auf den Zinnen des Straßburger Münsters und künden von den strengen Regeln der Steinmetzbruderschaft. Etwas abseits ist auch ein steinerner Rindvieh-Kopf zu sehen. Er stellt eines der ursprünglichsten Steinmetzzeichen dar. Unzählige Steinmetzzeichen aus ganz Europa und aus vielen Jahrhunderten sind seit ein paar Monaten auf dem großen Platz im Süden des Münsters zu sehen, und beim nächsten Ausflug nach Straßburg lohnt sich die Ausschau, ob vielleicht auch das moderne Innungszeichen des Steinmetzhandwerks dort zu finden ist. Marieta Hiller - im Februar 2018

Interessanter Ausflugstipp zur Tag-Nacht-Gleiche: 19.-22. März - der grüne Lichtstrahl im Straßburger Münster!

Während der Tag- und Nachtgleiche vom 19.-22. März zeigt sich im Münster zu Straßburg ein interessantes Phänomen: ein grüner Lichtstrahl, durch eines der Hochfenster im Mittelschiff der Kathedralensüdseite fallendes Sonnenlicht, berührt fünf Figuren auf der Nordseite. Um ca. 11.38 Uhr scheint die Sonne im grünen Licht auf Jesus am Kreuz
um 11.40 Uhr auf Johannes den Evangelisten
um 11.43 Uhr auf Simon Petrus mit Schlüssel
um 11.45 Uhr auf Andreas mit Kreuz
um 11.45 Uhr auf einen schlafenden Pilger

Das Sonnenlicht fällt durch das grüne Glas im Fensterbild mit der Ahnenreihe Jesu. Genauer durch den linken Fuß des Judah, Gründungsvater des Israelitischen Volksstamms Judah oder Jehudah. Die angestrahlten Figuren sind auf der spätgotischen Meyger-Kanzel zu sehen. Hans Meyger war vorsitzführender Stuhl-Meister der Bruderschaft der Steinmetzen und Maurer zu Straßburg 1485-1490 und 1510-1519. An den genannten Tagen findet eine Erklärung der Symbolik statt in der deutschen Handwerkssprache Kochemer Loschen. Informationen gibt es beim Europäischen Bildungszentrum für Steinhandwerksgeschichte, 0033-388356398.

Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts...

Warum eigentlich weiß der Hase von nichts? Wenigstens zu Ostern sollte man sich einmal auf diese Frage einlassen.

Die Erklärung ist simpel, auch wenn sie überraschend klingt und kaum jemandem bekannt ist: landläufig glaubt man, daß die Redensart von dem Studenten Victor von Hase stammt, der 1855 einem Freund, der sich duelliert hatte, seinen Ausweis gab, damit er über die Grenze nach Straßburg fliehen konnte. Als die Sache aufflog, wurde Victor von Hase vorgeladen und vernommen. Dabei sagte er "Mein Name ist Hase, ich verneine alle Fragen, ich weiß von nichts". Allerdings findet man in Straßburg noch eine andere Erklärung: auf den Zinnen der Pfeiler sind steinerne Figuren von Hase, Fuchs, Hund und Affe zu sehen. Bei einer Münsterführung unter Steinmetz-Blickwinkel erfährt man, daß diese Figuren eine ganz weltliche Bedeutung haben und keineswegs verborgene religiöse Hintergründe. Handwerks-Kulturführer Dietmar Wolf erklärte, daß es in den Bruderschaften der Wandergesellen, die von Dombauhütte zu Dombauhütte unterwegs waren und dort zusammenarbeiteten, auch ohne daß alle die gleiche Sprache sprachen, eine klare und einheitliche Terminologie gab: die „koschemer Loschen“ - zu deutsch „die kluge Sprache“. 

Seit Menschen seßhaft wurden, läßt sich das Wohnen - und damit verbunden das Bauen - nicht mehr aus ihrem Alltag wegdenken. Am Beginn stand das Feuer am Lager; es bot Sicherheit, Wärme und Behaglichkeit. Das Feuer bildete die Mitte der Gemeinschaft, die umgeben war von einer schützenden Wand aus Dunkelheit, undurchdringlich für gefährliche Tiere oder Geister. Lebte man in einer Höhle, so vermittelte gerade das

„Aus-der-Höhle-Herausschauen“

ein besonderes Behaglichkeitsgefühl. Wer in die Höhle hineinschaute, der sah bestenfalls nichts. Das Wort Behaglichkeit ist für uns moderne Menschen untrennbar mit einer wohligen Heizquelle verbunden, der Wortstamm kommt jedoch von Hag, der Hecke. Mit Hecken - ganz ähnliches Wort wie Hege - umgaben wir unseren allerersten Besitz.

Auf Höhle, Feuer und Hecke folgte der Herd in der Hütte, wir waren inzwischen vom Jäger und Sammler zum Bauern geworden. Noch heute klingt im Wort für Hütte das Hüten mit.

Hütte aus dem Histotainment Park Adventon

Älteste Wohnformen wie Flecht-Lehm-Bauweise schufen für uns ein trockenes Dach über dem Kopf, schützende Wände - und eine Türschwelle, die fortan von großer Symbolkraft für uns wurde. Ebenso die Fenster: Friedensreich Hundertwasser sagte einmal „die einen behaupten, Häuser bestehen aus Mauern. Ich sage, Häuser bestehen aus Fenstern“.

Denn aus Fenstern schauen wir hinaus (siehe aus-der-Höhle-schauen!) und zugleich schützen sie unseren privaten Raum.

So schön können Fenster sein: historisch in Büdingen und modern in Gelnhausen...

 

Schilf oder Schieferplatten dienten als Dach, das Regen und Kälte abhielt, jedoch zu Beginn noch einen offenen Rauchabzug hatte. Schilfdächer müssen sehr steil sein, damit das Regenwasser gut abläuft, so daß nur die oberste Schicht von etwa 3 Zentimeter feucht ist. Stein- oder Ziegeldächer dagegen sind flacher, damit die Deckung keine abwärtsgehende Eigendynamik entwickelt. Ziegel lassen sich einfach herstellen, sofern man Ton in der Nähe hat. Das Wort Ziegel kommt von lateinisch tegula, was in unserem „Deckel“ nachklingt. Wer kein Geld für ein Dach hatte, der machte sich Holzschindeln.

Inzwischen ist aus unserer einfachen Hütte ein ordentliches Haus mit Schornstein geworden, in der Stube wärmt uns vom Kanonenofen bis zum zimmergroßen Kaminofen alles, was feuerfest ist und abstrahlt, auf dem Herd wird die Suppe niemals kalt.

Aus drei vier Hütten wurden Dörfer und Städte. Ihre Herkunft läßt sich oftmals aus den Namen der Vorstädte erkennen: der äußere Ring um eine große alte Stadt hat oftmals Namen, die auf -rod enden, der innere Ring dagegen hat „Gries“ oder „Ried“ im Namen. Rod klingt durch in Haurod, Herchenrode, Rodau, Riedrode, Rodgau, Hummetroth, Bayreuth, Reutte in Tirol...

Die unzähligen „Griesheims“ in Deutschland weisen auf eine sandige Fläche mit Gewässer hin, und Ried zeigt feuchte Wiesen an, wie sie oftmals am Siedlungsrand auf Rodungen entstanden sind. Hier weidete das Vieh, später betrieb man Landwirtschaft rings um die neu entstandenen Städte. Die Dörfer der Gürtel wuchsen mit der Kernstadt zusammen, es bildeten sich Ballungsräume wie das Rhein-Main-Gebiet oder das Ruhrgebiet. Die Industrie verlagert sich an die Peripherie der Städte, es entstanden Industriegebiete abseits der reinen Wohnviertel.

Doch die Geschichte des Wohnens geht noch etwas weiter: wo eine Industriebrache entsteht, wo also Fabriken schließen, dort stirbt auch das Leben der Dörfer. Historische Dampfzugfahrten durch manche Gegenden führen uns durch ein surreales Märchen: die industrielle Revolution ist hier längst Geschichte, der Zug rattert durch einen flächendeckenden Friedhof aus vor 30 Jahren stillgelegten Fabrikanlagen.

Hat uns die Geschichte des Wohnens nun von der Höhle bis zur Industrieruine geführt? Mitnichten! Verlagert hat sich die Art der Erwerbstätigkeit - wieder einmal. Vom Sammeln und Jagen über das Hüten und Ackern zu den Gilden und Zünften bis in den schwärzesten Industriekapitalismus und weiter in das digitale Zeitalter, in dem mit Information gehandelt wird.

Mitentwickelt haben sich auch unsere Häuser: auch sie vernetzen sich, versenden Informationen, kommunizieren mit uns wenn wir nicht zuhause sind. Gesundes Raumklima, klimaneutrale Heizung, intelligente Haustechnik, smart home.

Aber wenn mein Kühlschrank mich unterwegs über mein Handy anplärrt, daß ich gefälligst Bier mitbringen soll, dann ist es mit der Behaglichkeit schnell vorbei...

Marieta Hiller, im Februar 2018

 

HS.Briefe: Beiträge von Hans Seeger zu Themen der Zeit

Der Beedenkirchener Altunternehmer Hans Seeger (*1929, gest. 2019) hat sechs „Denkschriften“ herausgegeben: 1. Vom Felisberg zum Felsberg im Odenwald
2. Steinbrüche am Felsberg - Felsberg-Granit = Melaquarzdiorit
3. Im Wandel der Zeit - Auf und Nieder der Grabstein-Industrie
4. Geschichte - Zeitgedanken - Frieden in der Welt
5. Beedenkirchner und Odenwälder Geschichten, überwiegend in Mundart
6. Ich bin ein Odenwälder Der vordere Odenwald und speziell der Felsberg war für gut 100 Jahre Schauplatz zahlreicher Steinbrucharbeiten. Es gab etliche Betriebe, die hier Rohblöcke gewannen und sie verkauften oder weiterbearbeiteten. Steinarbeiter waren gläubige Menschen, doch waren sie auch von einem gewissen Trotz beseelt:

Zu Ehren der Steinbrucharbeiter:
hart ist der Stein,
schwer war die Arbeit,
rau unser Leben.
Hatten andere Leut auch leichteres Brot,
er mußte es uns  doch geben.
Inschrift auf einem Granitstein im Heidenberg bei Gadernheim

Über ihre Arbeit und ihr Leben hat Hans Seeger aus Beedenkirchen zusammengestellt, was er in seinem Leben erfuhr. Sein Credo:

Der Mensch als lebendige Schöpfung ist berufen, sich die Erde untertan zu machen, indem er der Natur gehorcht.

Dieser entscheidende Nebensatz ist gültig nicht nur für Steinarbeiter.

Ein Steinunternehmer im Unruhestand: die HS.Briefe von Hans Seeger, Beedenkirchen

Für 100 Jahre prägte die Steinindustrie das Gesicht der Lautertaler Ortsteile: 1879 bis 1979. Der Odenwald war mit dem Fichtelgebirge und einem kleineren Gebiet in der Oberlausitz bis zur Wende Zentrum der Grabmalherstellung. Heute gibt es nur noch wenige Betriebe in Reichenbach, Beedenkirchen, Elmshausen, Gadernheim, Lindenfels, Rodau, Groß-Bieberau, Heppenheim und Bensheim. Sein Leben lang hat Hans Seeger aus Beedenkirchen in der örtlichen Steinindustrie gearbeitet, nun zieht er Bilanz. Der gelernte Steinmetz - und nebenbei auch Schmied - hat viel erlebt und viel zu sagen.

Sein wichtigstes Anliegen, nach Papst Pius XII: der Mensch soll sich die Erde untertan machen, indem er der Natur gehorcht. Würdiger Umgang mit Natur und Mensch fordert er immer wieder - seine HS.Briefe sind Gelegenheitstexte, die sich immer wieder um dieses Thema bewegen. Daher sind sie - am Stück von 1-6 gelesen - oftmals etwas redundant, aber Wiederholungen tun diesem Thema gut: man kann es nicht oft genug wiederholen, daß z.B. Bildung die Grundlage für ein gutes Leben ist. Brandaktuell wirkt diese Mahnung angesichts von Boko Haram, was nichts anderes heißt als „Bildung ist verboten“. Einiges in den HS.Briefen liest sich etwas sperrig, auch aufgrund der häufigen Wiederholungen, doch auch die Themen sind ja meist sperrig.

Immer wieder setzt er menschliches Verhalten in Relation zur Erdgeschichte - schließlich hat er sich ein Leben lang mit Stein befaßt, und dies läßt ihn - und auch uns - demütig und nachdenklich werden. Um so mehr, als Hans Seegers Hauptgeschäft die Grabmalherstellung war und er ständig Berührung mit Ewigkeit, mit Verstorbenen und Hinterbliebenen hat. Seine Gedanken zur Bestattungskultur faßte er im zweiten HS.Brief zusammen. Dabei setzt er sich an vielen Stellen mit dem christlichen Glauben auseinander, nimmt Bezug auf den kritischen Theologen Hans Küng, der es wagte die päpstliche Unfehlbarkeit in Frage zu stellen und dem daraufhin postwendend die Lehrbefugnis aberkannt wurde.

„Ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden“ - das ist Hans Küngs Credo, und auch das von Hans Seeger. „Wenn ich Energien aus der Erde hole und ohne Kreislauf nutze, entweichen sie in Umwelt und Atmosphäre“: der zweite Satz der Thermodynamik könnte besser nicht formuliert werden. Darin geht es um die Entropie: alles strebt immer zum niedrigeren Energieniveau, oder aber: ich muß viel Energie investieren um auf ein höheres Niveau zu kommen - von nix kommt nix. Den Kreationisten hält Seeger das Bibelzitat Moses Psalm 90 entgegen, wonach sich das Alter der Erde mit gut 2 Mrd. Jahren ansetzen läßt, was nicht ganz dem aktuellen Forschungsstand entspricht, aber weit entfernt ist von den im Kreationismus postulierten 6000 Jahren!

Die Mächtigen dieser Welt, allen voran  Donald Trump und Georg W. Bush, erhalten eine entschiedene Abfuhr, denn für Hans Seeger sollte die Welt - ganz gleich wie alt sie ist - von einer sozialen Gesell-schaft regiert werden, nicht von Kapital und Wirtschaft. Sie sollte sich um die Welternährung kümmern anstatt um Waffen, die „fanatische Weltunordnung“ durch eine freiheitliche Weltordnung ablösen. Spannend liest sich der HS.Brief Nr. 3, in dem es konkret um die Odenwälder Steinindustrie der Region Lautertal geht.

Hier beschreibt Seeger die Ansiedlung der ersten Steinbruchunternehmer, ihre Entwicklung und die seines eigenen Betriebes, den er von Vater und Großvater übernommen hatte. Kurioses berichtet er etwa über den Unternehmer Johann Wilhelm, der in den Jahren 1926-1930  Granitfindlinge für den Tierpark Hagenbeck in Hamburg lieferte und „manchmal .. in der Woche ein(en) Fünfhunderter übrig (hatte)“. Daß dieser oft überraschende Wohlstand vielfach auch noch in den 80er Jahren vorkam, kann ich selbst aus meiner Jugend bestätigen. Ich arbeitete als Kellnerin im Gasthaus „Zum Kaiserturm“ in Winterkasten, in „de Funzel“. Dort trafen sich die „Steinkerle“ Montags und Donnerstags, wenn Hansi aufspielte, und ließen es sich so gut wie richtige Ölbarone gehen. Letztlich hat die Odenwälder Steinindustrie so mein Studium finanziert. In dieser wilden Zeit traf man in der Funzel oft den „Gold-gräber“ und den „dicken Helmut“, aber auch Unternehmer aus Reichenbach. Hans Seeger dagegen war schon immer ein Familienmensch, der sich lieber in der Steinmetzinnung engagierte und sein Geld zusammenhielt. 1953 wurde er Schriftführer der Innung. Gut funktionierende Betriebe konnten damals pro Mitarbeiter einen Jahresumsatz von 100.000 DM erzielen. Das Ende kam mit dem Strukturwandel: mit Urnengräbern und anonymen Bestattungen.  M. Hiller, Nov. 2017

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Ist Magie das Kuriositätenkabinett der Zauberkunst?  Die Schreckenskammer der Kulturgeschichte? Mystisch-hermetische Geheimlehre am Rande legitimer Glaubensbekenntnisse? Wie paßt Magie zu unserer rationalistisch-aufgeklärten Weltsicht? Wunder, Gebete, Beschwörungsformeln? Ist das Aberglaube? Stehen wir auf einer Stufe mit Dr. Faustus, nur weil wir „toi toi toi“ sagen und mit den Knöcheln auf Holz klopfen?

Magie hat eine sehr lange Geschichte: seit der Mensch das Feuer gebändigt hat, wurde er seßhaft, entwickelte Sprache, erschuf sich den geistigen Raum der Religion. Geister oder Götter besaßen Macht über Menschen und forderten ihre Rituale. Daraus entwickelte sich im Laufe der Jahrtausende unsere heute bekannte Religion, sei es Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus oder Judentum*. Rituale begleiten jede Religion, und Rituale sind zugleich auch wichtige Elemente der Magie. Am Beginn standen magische Rituale als Schutz vor böswilligen Göttern. Dazu gehörten die Vampire, Dämonen und die Pest. Rituale dienten der Besänftigung und der Weissagung, denn die Zukunft war und ist etwas, was Menschen naturgemäß stark interessiert. Älteste Quellen aus Mesopotamien und Persien berichten von einem Ritual, das uns heute noch vielfach begegnet: abgeschnittene Haare und Fingernägel dürfen nicht in die Hände der bösen Mächte geraten. Noch heute gilt dieser Brauch in vielen Häusern während der Rauhnächte (25.12.-6.1.). Auf das zoroastrische Persien (7.-4. Jh. v. Chr.) folgte das Judentum. Dessen Hauptwerk, die Bibel, entstand etwa 1200 v. Chr. und sprach von Magie als unzweifelbarer Wirklichkeit. Von Erscheinungen wie dem

Mene mene Tekel - dem Zeichen an der Wand, das dem König Belsazar sagt „gezählt sind deine Tage!“

- ist die Bibel voll. Noch heute gilt die Bibel sowohl Christen als auch Juden als auch Muslimen als Buch der Bücher. Doch wie es scheint, haben wir mit abergläubischen Elementen weniger Probleme als mit der grundlegenden Glaubensbotschaft der Nächstenliebe. Alle Religion ist aber in ihrem Ursprung ein Regelwerk, um die Gemeinschaft zu stärken, um Altruismus zu fördern. Zentrale Botschaft der Christen ist die Bergpredigt, aber der brennende Dornbusch und die Teilung des roten Meeres fasziniert uns viel stärker: DAS wollen wir auch können! Oder jemanden kennen, der das kann... Sehr wichtig war Magie auch den Ägyptern, den Griechen und Römern. Später folgte die Alchemie mit Hermes Trismegistos, dem dreimagischen Meister, der versuchte Gold zu destillieren und Homunculi zu schaffen. Den Höhepunkt fanden Aberglauben und Magie zur Zeit der Hexenverfolgungen: tausende unschuldiger Frauen und Männer wurden zu Tode gefoltert im Auftrag des Herrn. Martin Luther forderte, die Hexen - die ihm zufolge Schäden an Mensch, Vieh und Ernte anrichteten - durch das Feuer zu töten.  Gleichzeitig aber war er überzeugt, daß Schadenszauber durch Hexen von Gott gesandte Prüfungen seien. Er sagte:

„Wehrt euch nicht gegen diesen Schadenszauber. Denn ihr wißt gar nicht, was Gott damit vorhat. Ihr kennt nicht den großen göttlichen Plan, der dahinter steckt.“

Luther führt Hiob an, dem ein Unglück nach dem anderen geschah. Aber Hiob blieb fest in seinem Gottvertrauen, und schließlich belohnte Gott ihn mit Vieh und Kindern. Zu Luthers Zeit kündigte sich bereits die Entstehung von Geheimbünden an: Rosenkreuzer, Templer, Freimaurerlogen. Zunächst aber prophezeite ein Zeitgenosse Luthers, Theophrastus Bombastus von Hohenheim (auch als Paracelsus bekannt), daß

„Gott eine Entdeckung von größter Bedeutung zulassen wird; sie muß aber bis zum Erscheinen des Künstlers Elias verborgen bleiben“.

Wer auch immer der Künstler Elias sei: Luthers Reformation schien Paracelsus kein Wendepunkt, denn seiner Meinung nach befaßte sich Bruder Martin nicht ausreichend mit Magie und Kabbala. Vielmehr erwartete Paracelsus diesen Wendepunkt mit dem Erscheinen des Kometen 1572, einer Supernova, die Tycho Brahe und seine Schrift über den „neuen, nie zuvor gesehenen Stern“ unter Astronomen in ganz Europa berühmt machen sollte. Aus heutiger Sicht war das leider auch kein Wendepunkt, obwohl: das Jahr 1572 brachte mit der Pariser Bartholomäusnacht vom 23./24. August vielen Hugenotten den Tod. Einer der ersten Kriege zwischen Katholiken und Reformierten, der eine lange Reihe weiterer Glaubenskriege nach sich zog. Und so zieht sich die Frage, ob der Mensch frei ist in seiner Entscheidung, durch die Jahrhunderte. Zieht man die Schärfe in Betracht, mit der kanonische Glaubensrichtungen auch nicht vor Mord und Massen-mord zurückschrecken, erscheint ein bißchen Magie doch fast tröstlich. M. Hiller, Oktober 2017

Buchtipp: Kurt Seligmann, Das Weltreich der Magie - 5000 Jahre Geheime Kunst, Bechtermünz Verlag 1988

*Wikipedia nennt:
Die folgenden fünf existierenden Religionen werden im Allgemeinen als Weltreligionen bezeichnet (Anhänger nach Encyclopædia Britannica 2010):

Erdspiegel: magische Formel zum Schatzfinden

Beschwörungsformel mit den magischen Namen wurde in einem Holzkästchen mit Erde angewandt, um z.B. verborgene Schätze zu finden. Dazu mußte man jedoch ganz still sein. Beim ersten Wort - auch einem Überraschungsausruf, wenn tatsächlich ein Schatz auftaucht! - versank dieser und konnte niemals mehr gehoben werden.

Der Erdspiegel aus dem Alten Schloß in Büdiingen hat folgende Erläuterung:

"Vorliegendes Zeichen ist ein Geheimzeichen der Alchimie - ein sog. Erdspiegel - der zur Hebung verborgener Schätze oder Edelmetalle verwendet wurde. Es stammt aus dem 16. Jh. um 1530 und ist in Dr. Faustens Kunst- und Wunderbuch abgedruckt. Auch der schwarze Rabe genannt. Das Zeichen hat nur am Michaelstag Wirkung. Deshalb ein Hinweis .d. Rückseite des Blattes."

Weitere Erdspiegel und das Brauchen und Bannen finden Sie unter der Knodener Kunst

Der Stein der Weisen

Die Alchimisten versuchten, Metalle in andere Metalle umzuwandeln. Vor allem aber wollten sie Gold schaffen. Eine solche "umgekehrte Entropie" war mit mittelalterlichem Kenntnisstand noch vorstellbar. Eine sehr große Energiequelle war erforderlich dazu, und diese ist - nein, nicht das ZPM, sondern der Stein der Weisen. Er vereinigt in sich alle Farben (moderne Farbenlehre: weißes Licht ist die Summe aller Farben!) und kann Metalle verwandeln, Krankheiten heilen, das Leben verlängern.

"Ich könnte ganze Meere verwandeln, wenn es nur so viel Quecksilber gäbe!"
Mare tingerem si Mercurius esset.
Raimundus Lullus (14. Jahrhundert)

Quecksilber ist dem Planeten Merkur zugeordnet, wie Gold der Sonne, Silber dem Mond, Eisen dem Mars, Kupfer der Venus, Blei dem Saturn, Zinn dem Jupiter. Der Stein der Weisen war - wie alle Metalle und Erden - beseelt wie Tiere und Pflanzen. Folglich mußte man den "Samen" der Metalle finden, um eines ins andere verwandeln zu können. Man glaubte, daß alle Metalle Schwefel und Quecksilber enthalten. Schwefel als Symbol für die Hölle und den Teufel, Quecksilber als flüchtiger Bestandteil, der gerne wandert - siehe Hermes, der auch Merkur heißt. Merkurius ist der Name für Quecksilber, es ist bei Zimmertemperatur flüssig. Das mußte den Alchemisten als etwas ganz Besonderes erscheinen. Deshalb waren sie überzeugt, daß man nur die Zusammensetzung der beiden ändern mußte, um ein anderes Metall zu bekommen. So sollte Gold aus einem großen Anteil Quecksilber und wenig Schwefel bestehen. Kupfer beispielsweise sollte beides in gleicher Menge enthalten. Den Philosophen zu Agrippa von Nettesheims Zeit (1486-1535) schien es logisch, daß die Welt und alle Himmelskörper eine Seele und auch Verstand haben müssen. Denn alles folgt einem wohlüberlegten Plan, nichts gleitet ab ins Chaos - es sei denn der Mensch greift allzustark ins Geschehen ein. Die Welt läßt sich berechnen, das stellten die Forscher jener Zeit fest. Die vier Essenzen Feuer Wasser Erde und Luft sowie das fünfte Element, die Quintessenz, spielten in einem fein geregelten Ablauf miteinander. Die Quintessenz (bei Bruce Willis und Milla Jovovich1997 war es schlicht: DIE LIEBE) belebt alle Körper, die Welt-Geistseele, die nie allein für sich existieren kann oder sichtbar wäre. Aber sie ist allgegenwärtig. Heute könnte man sagen, es ist die feinstoffliche Ebene, auf der ganzheitlichen Betrachtungsweisen zufolge alles mit allem in Verbindung steht. Wer aber die Quintessenz von der Materie der vier Essenzen zu lösen vermag, der besitzt die schöpferische Kraft Gottes (!). Dieser Stein der Weisen besitzt Zeugungskraft, und althistorische Göttinnen wie Isis, Demeter (Ceres), Hestia (Vesta) waren seine Sinnbilder. Hier noch ein passender Spruch:

Gott schläft im Stein
träumt im Tier
atmet in der Pflanze
und wacht im Menschen

In diesem Sinne: seid wach und geht sorgsam mit eurer Mitwelt um! Marieta Hiller, Oktober 2017

Zaubersprüche: uralte Magie der Zaubermärchen

Einst brauchte man starke Zaubersprüche, um Kontakt zu einem Drachen aufzunehmen. Solche Zaubersprüche kommen von ganz innen aus unserer Seele, wo es sehr wohl Drachen gibt! Deshalb begegnen wir den Drachen auch oft in Zaubermärchen. Das sind die ältesten Märchen die wir haben. Hatte man den richtigen Zauberspruch, oder ein Wünschelding, so konnte man jederzeit mit seinem Drachen sprechen und er beschützte uns! Zaubersprüche gehören zu unseren ältesten Ritualen, so gibt es die Merseburger Zaubersprüche aus dem 8. Jahrhundert, aber auch aus der Antike schon gibt es Zaubersprüche von Plinius d.Ä., von Marcellus und Pelagonius.

1958 brachte der Hessische Rundfunk eine Hörfunksendung (Fernsehen hatte da noch fast niemand) mit Kindern aus Lindenfels. Die Kinder mit ihrem Lehrer Philipp Bickelhaupt sangen Lieder zum Osterfest. Der Sprecher ließ sich von den Kindern einiges über das Osterfest und die Bräuche, die damit zusammengingen, erklären.

Und völlig unverfälscht sprachen die Kinder, heute alle um die 65 Jahre alt, breiten Odenwälder Dialekt - in der Schule und im Radio. Von Nestern aus Moos, einem Hasengärtchen und dem Nebel über Waldwiesen erzähen sie. Das ist gar kein Nebel, sondern Rauch aus der Werkstatt der Osterhasen. Es müssen nämlich soviele Ostereier bemalt werden, das kann unmöglich nur ein einziger Osterhase schaffen. Seine ganze Familie hat viel zu tun vor Ostern. Man darf ihnen aber nicht zu nahe kommen, sonst sind sie schwupps verschwunden.

"Woher weißte’n des?" fragt eines der Kinder den Sprecher. Der erzählt weiter: Glück und ein gutes Herz für die Tiere muß man haben, dann darf man vielleicht sogar mit in die Osterwerkstatt und alle Geheimnisse erfahren. Aber wer schon dort war, darf niemandem etwas verraten. Ein Häschen habe ihm aber erzählt, daß die Leute im Odenwald immer sehr hilfsbereit und nett sind.

Die Kinder bauten einen Hasenwagen aus Zweigen, der mit Moos gepolstert wird. Der Wagen hat „koa Räädschen“ und den Brauch gab es schon 1500, denn er ist auf einem Bildnis von Lucas Cranach zu sehen. Wagen ohne Räder, Schlitten also, gibt es schon in der Bronzezeit, und wer weiß - vielleicht ist der Brauch des Ostereiersuchens auch schon so alt. Die Kinder suchten Hoasebabbelchen (Waldsimse, auch Hoasebrot genannt) und Moos für den Hasenwagen. Sie glaubten daß der Osterhase das Hoasebabbelchen besonders gern mag.

Aber leider wußten die Kinder auch 1958 schon, wo die Ostereier wirklich herkommen. Färben, mit Speckschwarte einreiben, all das machte die Mutter heimlich - aber eben nicht heimlich genug:

»De Ouschdehaas, des konn uns kaaner weißmache, isch waaß was isch waaß.
Des Hinkel is de Haas, die Modder is de Färweschwanz (Färberschwanz) die läigt die Aaie in die Pann, läigt se dann ins griine Gras un säigt es wär de Ouschdehaas.«

oder wenn die Kinder dem Osterhas „guck dort dort hinten rennt er“ ganz schnell Salz auf den Schwanz streuen sollten, weil er dann stehen bleiben muß:

„Ewwe kriggd häww isch en nie. In dere Zeit wou isch em nochgerennd bin hott die Modder schnell die Aaie ins Gras gläigt.“

Gefärbt hat die Modder die Eier mit Zwiebelschalen (rotbraun), mit Brennessel (gelb), Brombeerblätter (gelbgrün), Korn- oder Grasspitzen (grün), Labkraut (rot). Labkraut heißt in Kreidach oder in Mittershausen auch Osterwurzel.

Die Originalsendung des Hessischen Rundfunks aus dem Jahr 1958 wurde von Fritz Ehmke aus Modautal restauriert und auf ein neues Medium gespeichert. Die CD ist bei ihm erhältlich:  www.gebabbel-suedhessen.de   Telefon 06254 2830

Lehrer Philipp Bickelhaupt schrieb das Manuskript für die Sendung, spielte Zither und übte die Osterlieder mit den Kindern ein. Marieta Hiller, April 2017

Feuerspindel schützt Fachwerk vor Feuer...

Wer in einem Fachwerkhaus lebt, fürchtet vieles: vor allem aber Feuer. Und so ritzte man Schutzzeichen in die Balken, schnitzte in die Eck- und Stützpfosten Schlangen oder Neidköpfe. Die Ecken der Stockwerke oder die Giebel konnten mit dem „Wilden Mann“ gefüllt  werden, Gefache wurden mit Streben in Form des Fünfkreuzes, auch  Bauerntanz oder Türkenkreuz genannt, verziert. Oder auch mit dem gespiegelten U, dessen Form an einen Sitz erinnert, Zeichen für Muße. Zugleich ist es ein Feuerschutz, es stellt die Form der Trageisen zum Feuerholztragen dar. Das Andreaskreuz als Mehrungszeichen ist oftmals unter dem Schlafzimmerfenster zu finden.

Als Feuerschutz galt auch die Feuerspindel, das verzierte S. Auch wenn es in Deutschland noch über 2 Millionen Fachwerkhäuser gibt, gehen doch jährlich hundert verloren, wenn auch nicht alle durch Feuer.

Fachwerkbauweise gibt es seit der Jungsteinzeit, aber wo steht das älteste erhaltene Fachwerkhaus Deutschlands? In Marburg gibt es eines aus dem Jahr 1321, in Limburg gar von 1289. In Esslingen aber gibt es in der Heugasse ein Fachwerkhaus aus dem Jahre 1261. Fachwerkhäuser haben Türschwellen, sie werden wie in der modernen Fertigbauweise aus Rahmen gebaut. Diese Rahmen liegen pro Stockwerk übereinander, deshalb ragen die oberen Geschosse über die unteren in die Straße hinein als neigten sich die Häuser einander zu.

Stockwerk heißt es, weil der Zimmermann mit dem Bauherrn gemeinsam das Stockmaß festgelegt hat, darauf basiert der Aufbau des Rahmenwerks. Zimmerleute wurden übrigens nach Tagwerk bezahlt, Steinmetze nach Stückwerk. Die Abbundzeichen der Zimmerleute im Holz lassen wie bei den Steinmetzzeichen die Reise des jeweiligen Handwerkers von Ort zu Ort nachvollziehen.

Das Holz des Fachwerkrahmens hatte die Stockwerke und den Dachstuhl mit der Deckung zu tragen, plus das Gewicht von Schnee und Wind. Das Holz wurde nur im Winter nach Mondphase gefällt, im Frühjahr gesichtet und dann gleich verbaut. Im Wald wählten Bauherr und Zimmermann die Stämme aus; es gab jedoch immer weniger Eiche, so daß man nur noch die Wetterseite aus Eiche zimmerte und für den Rest auch Nadelholz verwendete.

Bei einer Fachwerkführung in Mosbach (www.mosbach.de) erfährt man, daß in einem einzigen Haus 14 verschiedene Holzarten verbaut sein können, alle frisch und nicht abgelagert. Der Rauch konservierte das Holz und reinigte zugleich die Luft. Ein winziges Fachwerkhaus steht übrigens auch in Mosbach: Haus Kickelhain mit 26 Quadratmetern Grundfläche.

Handwerkerlöhne und Baukosten in früherer Zeit

50 Kreuzer Lohn bekam 1803 ein Zimmermann am Tag. Vier Kreuzer waren ein Batzen, 60 Kreuzer ein Gulden. Laut einer Breuberger Quelle war im Jahr 1807 ein Gulden knapp 13 Euro wert. Der Zimmermann bekam also pro Arbeitstag knapp 11 Euro.

Ein Handlanger im Bauhandwerk verdiente damals 12 Groschen pro Tag (1 Groschen = 3 Kreuzer, ein Kind arbeitete für 1 Groschen. Den Mönchen ging es zu dieser Zeit gerade noch gut, denn sie erhielten den Tagelohn der Bauhandlanger plus 2,3 ltr. Wein pro Tag! Doch 1803 wurden die Klöster aufgelöst, ihr Vermögen der weltlichen Politik zugeschlagen, außer den erforderlichen Budgets für Seelsorge, Caritas und Unterricht.

In der Folge verkauften die säkularisierten (verweltlichten) Klöster ihr „Tafelsilber“: 1850 wurde die Bibliothek des Klosters Schönau für 6000 Gulden an einen Miltenberger Kaufmann verkauft, aus dem Verkauf der Gutenbergbibel konnte das Kloster Melk in Österreich das komplette Dach neu decken lassen.

 

In manchen alten Bauernhäusern, in der Stadt auch - sehr selten! - in historischen Wohnhäusern, entdeckt man zuweilen als unterste Schicht auf dem Wandputz schablonierte Malereien. Diese kunstvollen Wanddekorationen schufen sich die Bewohner in früheren Zeiten, als Tapeten noch etwas für Fürstenhäuser waren.

 

Regionalmuseum Reichelsheim: Malerutensilien

 

Die Wände der Wohnung wurden früher meist mit Musterwalzen verziert, die die Farbe direkt auf den Putz brachten. Erst mit dem Wirtschaftswunder konnten sich die Leute Tapeten leisten, und die Putzkunst geriet in Vergessenheit. Aber in den letzten Jahren kommen kunstvolle Wanddekorationen mit Musterschablonen, Musterwalzen, Schwämmen und Stempeln wieder in Mode, lassen sie doch viel mehr Raum für Kreativität als die schreiend-bunten Tapeten.

Am Anfang war der Stempel. Kinder kennen den Kartoffeldruck, man schnitzt sich eine Form aus einer rohen Kartoffel, die in Farbe getunkt und auf die zu dekorierende Fläche gedrückt wird. Das wirkt auf jeden Fall sehr abwechslungsreich, denn nicht ein Stempelabrdruck gleicht dem anderen aufs Haar.

Regionalmuseum Reichelsheim: Schablonen

 

Aus dem Stempel wurde ein Rollstempel, der über die Fläche gerollt werden konnte und das Muster so in Bahnen vervielfältigte. Die Rollstempel entwickelten sich zu den verschiedenartigsten Musterwalzen. Um eine gleichmäßigere Farbverteilung beim Rollen zu erzielen, bekamen die Walzen integrierte Farbspender, die ein Farbbad füllen, durch das die Walze bei jeder Bewegung fährt. Über ein System aus drei Walzen wird die Farbe aus dem Farbbad auf eine Übertragungswalze gebracht, die wiederum die Musterwalze einfärbt. Später wurde der Farbkasten zusätzlich beweglich angebracht, so daß er bei jeder Bewegung der Musterwalze automatisch senkrecht hing und keine Farbe herauslaufen konnte. Wahre Könner unter den Malern konnten allerdings auch mit dem früheren starren Farbkasten klecksfrei arbeiten.

Als Farbe wurde Leimfarbe verwendet. Diese läßt sich sehr viel klarer aufmustern, da moderne Dispersionsfarben sich am Rand der Musterwalze anlagert und ein unscharfes Musterbild ergibt. Auch läßt sich das Gerät bei Verwendung von Leimfarbe leichter reinigen. Die Farben wurden aus Trockenfarben wie Kreide oder Farbpigmenten mit Wasser teigig gerührt. Wichtig ist daß alle Pulverknöllchen sich auflösen. Danach wird dem dicken Farb-Wasserteig der Leim hinzugegeben, bis eine schöne glatte anschmiegsame Paste entsteht. Als Leim verwendete man Zelluloseleim in einem Verhältnis von 1:25, da man einen fertigen Farbansatz zwar jederzeit verdünnen kann, aber zum Dickermachen wieder Farbe zugesetzt werden muß, so daß man am Ende viel zuviel Farbe erhält.

Auf den Wandputz, der in erster Linie das Baumaterial glatt verdecken soll und zusätzlich auch für Wärmedämmung sorgt, trug man dann zunächst die Grundfarbe auf, die der Raum bekommen sollte. Ist diese trocken, steht dem kreativen Dekorationsvorgang mit der Musterwalze nichts mehr im Wege. Die Kunst besteht darin, die Rolle gleichmäßig von der Decke bis zum Boden zu führen und rechts oder links davon genau die passende Ansatzstelle für die nächste Bahn zu treffen. Bei Hobbydekorateuren kann es deshalb vorkommen, daß ein und derselbe Raum drei Überstriche erhält, bis das Bemustern richtig sitzt. Der Profi machts aus dem Handgelenk.

Ein hübscher Nebeneffekt des Musterrollens ist, daß man mit der Musterwalze nicht bis zur Decke und zum Boden mustern kann. So ist man gezwungen einen umlaufenden Fries zu gestalten, der den Übergang zwischen Decke und Wand dekorativ betont oder auch kaschiert, je nach Geschmack. Der Übergang zwischen Wand und Boden mußte sowieso durch eine hölzerne Lamperie abgedeckt werden, unter der die Kabel verliefen. Beim Abschrauben solcher alten Lamperien (Bodenleisten) entdeckt man viel Interessantes: alte Münzen und Haarnadeln, längst Verlorengeglaubtes, Staubmäuse und zuweilen auch Mäuseknoddelchen.

 

Auch dekorativer Wandputz wurde früher für Innenräume eingesetzt, wo man auf die kunstvolle Malerei verzichten wollte. Im Marmoritwerk in Hochstädten wurde von 1865 bis 2008 Edelputze hergestellt. Der Marmor dafür wurde im Bergbau auf dem Gelände zwischen Bangertshöhe, Hochstädten und Fürstenlager gewonnen und in Hochstädten gemahlen, zu Kalk gebrannt und zu verschiedenen Produkten verarbeitet. Niemand in Hochstädten beklagte sich über die Staubentwicklung, denn der ganze Ort lebte vom Betrieb, ähnlich wie es in Lautern war als die Ciba Geigy Marienberg GmbH (die "Blaufabrik") noch produzierte.

Das "Auerbacher Weiß" war eines der bekannten Fabrikate aus Hochstädten, es wurde für die Betonwerksteinproduktion und in Trinkwasserentsäuerungsanlagen verwendet.

1982 verkaufte der langjährige Firmenchef Dr. Karl Linck im Alter von 78 Jahren das Marmoritwerk an Fa. Knauf GmbH, es wurde noch ein paar Jahre weiter produziert, aber man mußte bereits Marmor aus dem italienischen Carrara importieren, um in Hochstädten Edelputze, Unterputz, Strukturputz, Wärmeschutzputz, Dichtschlämme, Mörtel, Isoliergrund und vieles mehr herstellen zu können. 2008 wurde die Produktion eingestellt und die Betriebsgebäude wurden abgerissen. Sehr schade ist vor allem, daß das Verwaltungsgebäude mit wunderschönen Putzdekorationen in Schutt und Asche aufging. Eine Vorstellung, wie kunstvoll die Fassade einst von Grafiker Reinhold Schön entworfen und von Stukkateur Wilhelm Groen aus Hochstädten realisiert worden war, kann man aber noch heute bekommen, wenn man sich die Königshalle in Lorsch anschaut. Ihre karolingische Fassade diente als Vorbild für den Grafiker. Das Hochstädter Wappen zeigt seit 2007 Schlägel und Eisen, die traditionellen Bergbauwerkzeuge, 143 Jahre lang währte die Bergbauperiode.

Marieta Hiller, Januar 2015

Über einen Ausflug in das Bergwerk in Hochstädten, dessen Eingang heute unzugänglich unter Erdreich verborgen liegt und dessen Stollen voller Grundwasser stehen, finden Sie hier Fotos und Infos!

Literatur zum Marmoritwerk Hochstädten: "Der Bergbau auf Marmor bei Bensheim-Auerbach und Hochstädten" von Michael Vettel ISBN 978-3-926707-15-4, bitte bei Ihrem Buchhändler vor Ort bestellen, nicht über den großen Internetversandhandel. Warum? Lesen Sie hier!

Seien sie vornehm unsichtbar oder auch mollig weich und warm: Kleider braucht jeder Mensch. Warum eigentlich ist der Mensch so nackt und schutzbedürftig? Gab er sein wärmendes Fell auf, als er das Feuer entdeckte? Schien ihm sein haariger Körper zu tierisch, zu unvornehm? Niemand weiß, was zu jenen fernen Zeiten am Höhlenfeuer in den Köpfen der Alten vor sich ging.

Zeichnung: M. Hiller

Auf jeden Fall sind viele Stunden Tag für Tag der mühseligen Arbeit nötig, damit sie sich ihre Kleidung schaffen können. Der Mensch wäre aber nicht der Mensch, würde er nun einfach eine wärmende Hülle herstellen. Nein, da muß schon etwas Würdiges, Kunstvolles gewebt, gewirkt, gestickt oder genäht werden.
Wie lange mußte ein Mädchen in früheren Zeiten an seiner Aussteuer nähen, bevor die Truhe wohlgefüllt und das Mädchen damit heiratsfähig war!
In wieviele Faltenwürfe legten die alten Römer und Griechen ihre Gewänder - Elle um Elle!
Märchenprinzessinnen zogen lange lange Schleppen an ihren kostbaren Kleidern hinter sich her, sofern diese nicht von zahllosen Zofen getragen wurde! Seide! Allein welch märchenhafte Geschichten sich um Seide ranken, um die im Haarknoten einer chinesischen Prinzessin in die westliche Welt geschmuggelten Seidenraupen! Mondsilber mußte in kühles Linnen verwoben, Elfenhaar zu zartem Organza gefügt werden.

Ein weichgepolsterter Pantoffel und etwas Brot und Salz

Schauen wir ins alte Rußland: Ansiedlungen um Ziehbrunnen und uralte Mythen, wo die Dvorovoi, die Hausgeister, über die Gesundheit des Viehs wachten. Ihnen stellte man einen weichgepolsterten Pantoffel zum Wohnen in die Küche, wo es auch Brot und Salz für sie gab. In vielen Generationen drohten Eltern daß die Geister die Kinder mitnehmen und in Rinde verwandeln würden, wenn sie nicht brav wären. Und es wurden Kleider reich bestickt, die den Waldnymphen, den Rusalki, dargebracht wurden. Man erzählte sich, daß die Rusalki im Frühsommer aus den Wassern stiegen und dort wo ihr Fuß die Erde berührte grünes Gras wachsen ließen. Aber sie konnten genausogut einen Menschen zu Tode kitzeln.

Als die Menschen ihre Kleidung noch selber machten...

Das waren jene uralten zauberdurchwirkten Zeiten, als die Menschen ihre Kleidung noch selbst anfertigten. Bald aber war eine neue Zunft geboren: die Gilde der Armen. Wurde zuvor alles - Speis und Trank, Kleidung, Werkzeug, ein Dach über dem Kopf und alles was das Tagwerk so erforderte - in der Familie selbst geschaffen, so gab es in den Dörfern doch immer auch jene, die nichts hatten. Die Taglöhner, das Gesinde: Knechte und Mägde, die Hintersassen und Wandergesellen.

Wer nicht sein eigenes Fleckchen Land zu beackern hatte, mußte sein täglich Brot bei anderen verdienen, und so begann die Gilde der Armen, mit Leineweben, Schafscheren und Flachsspinnen für die Wohlhabenden ihre Töpfe zu füllen. Wieviele Märchen erzählen uns von armen Leinewebern, wie mager erscheint uns das tapfere Schneiderlein! Ganze Landstriche, mit kargen Böden gestraft, versorgten sich fortan durch das Herstellen von Kleidern. Ihre Häuschen wurden um die mächtigen Webstühle herumgebaut, schon die Kinder hockten Stund um Stunde in der Webstube, keine Schule, kein Spiel, keine Kindheit war ihnen vergönnt. Nur die Geschichten, die abends nach getaner Arbeit, bei einem trockenen Kanten Brot und einem Schälchen Ziegenmilch erzählt wurden, die erfreuten die Kleinen.

Die Leineweber und die Tuchhändler: arm und reich

Eine solche Geschichte soll auch hier nun erzählt werden, doch ob sie auch den armen Leineweberkindern gefallen hat, das wissen wir nicht: es ist die Geschichte des Tuchhändlers Jost Linnweber und seiner Gattin Katharina aus der reichen Handelsstadt Gelnhausen, die dort vor vielen hundert Jahren lebten, handelten und - liebten.

Die beiden sollen ja nicht immer einen freundlichen Umgang miteinander gepflegt haben, und ja: oft war der Umgang mit anderen freundlicher! Auch was sich nicht so innig liebt, neckt sich eben, und so gingen beide zwar oft auf Tuchfühlung, aber nicht immer miteinander - besonders dann, wenn Jost auf einer Handelsreise war. Die Via Regia, die königliche Straße mit ihren Umspann-Gasthöfen war dann Josts Zuhause.

Sie verband die beiden großen Messestädte Frankfurt und Leipzig miteinander, Handelsplätze von Rang schon in jenen Zeiten. Tuchballen türmten sich auf Josts Wagen, mühsam zwängte er sich durch das Gelnhauser Nadelöhr, kurz bevor er endlich seine Lagerräume erreichte. Wird das Fuhrwerk wohl hindurchpassen? Sind die Gurte um die kostbaren Seidenballen fest geschnürt?

Die Pfarrgasse in Gelnhausen wird es zeigen: drei Meter breit ist diese Engstelle, und alle Handels- und Fuhrleute haben ihre Ladung nach dieser Breite zu richten. „Von Leipzig an der Pleisse, bis Franckfurtt an den Main, wirds auf der gantzen Strasze die engste Stelle sein.“ so steht dort noch heute an der Hauswand zu lesen. Doch nein! Die Ballen stehen über, es geht nicht durch das Nadelöhr!

Abladen, durchfahren, aufladen - und sogleich sind finstere Gestalten zur Stelle, die für ihre Ladearbeit klingende Münze fordern. Auch im Stadtsäckel  klingelt es, denn die Verzögerung kostet Strafe. Ganz zu schweigen von den Fuhrleuten, die vor und hinter der Engstelle ungeduldig werden. Endlich ist es geschafft!

Jost stößt die Pforte seines Hauses auf, ruft „Katharina! Hier bin ich wieder!“ - und schon erschallt von oben Katharinas Stimme: „Wurde ja auch endlich Zeit! Das Essen ist jetzt kalt und ich gehe zum Konzertsalon.“

Schafhaltung: seit der Mensch seßhaft wurde

Doch mit unserer Erzählung haben wir einen gewaltigen Sprung gemacht: kehren wir zurück zu unseren armen Leinewebern in den abgelegenen Dörfern. Die ganze Familie, vom Kind bis zum Alten, mußte mitarbeiten. Schafe mußten gehütet und geschoren werden. Das übernahmen die Buben, die im Sommer in Hütten bei den Schafen lebten.

Noch heute klingt uns im Wort für Hütte das Hüten nach. Schon bald, nachdem die Menschen in der Steinzeit erkannten, daß man Schafe nicht nur essen, sondern auch ihre warme Wolle nutzen kann, hegte und pflegte man die nützlichen Tiere noch mehr. Eine jener archaischen Schafrassen lebt noch bis zum heutigen Tag: das Soayschaf, fast wild und direkt aus der Steinzeit. Wer eine Herde sehen will, muß sich heute jedoch in die Nutztier-Arche begeben, denn als „Wirtschaftsschaf“ bringen die Soays zu wenig Ertrag.

Soayschafe

 

Anfangs kämmte man die Schafe nur aus, um an Wolle zu kommen. Dann aber begann man sie zu scheren. Im Mittelalter war jede Familie verpflichtet, Schafe zu halten und ihren Anteil für einen gemeinsamen Schäfer beizutragen. So zog der Schäfer mit großen Herden von Weide zu Weide, bis es Zeit war die Einsamkeit zu verlassen und die Schafe  geschoren werden mußten. Im Frühsommer war es soweit: die Schafe wurden in den Fluß getrieben, um sie zu waschen. Waren sie wieder trocken, so scherte sie der Schäfer, oft gemeinsam mit Helfern aus dem Dorf.

Und weil es oft Mitte Juni, wenn die Schafe schon geschoren sind, noch einmal kühles Wetter gibt, spricht der Volksmund von der Schafskälte. Die Lämmer und die Muttertiere wurden deshalb erst nach diesen Tagen geschoren.

Die meisten Schafe gab es vor dem 30jährigen Krieg: da registrierten die Kasseler Ämter 30.000 Tiere. Später wurden nur noch 2000 Schafe gezählt, und als der Krieg vorbei war, herrschte großer Wollmangel.

Die Schafhaltung wurde nie wieder so wichtig wie vor diesem Krieg. Erst heute wissen die Menschen wieder, daß Schafe und Wolle für ein gutes Auskommen sorgen können: aus Italien etwa berichtet der Bauernverband Coldiretti, daß im letzten Jahr 3000 junge Männer den Beruf des Schäfers ergriffen und so lieber auf eigenen Füßen stehen, anstatt daheim der Mamma auf der Tasche zu liegen.

Schäferei heute: nicht einfacher als in historischen Zeiten

Dabei ist die Schäferei heute nicht leichter als vor vielen hundert Jahren: ein fast 80jähriger Schäfer aus Karlstein im Spessart erzählt davon. Adolf Müller war schon als Kind mit den Schafen unterwegs und verbrachte auf den Weiden rund um Babenhausen viele Sommer und Winter unter freiem Himmel. Schon Vater und Großvater waren Schäfer, und mit fünf Jahren mußte auch Adolf mit hinaus. Zuhause faul herumsitzen ist nichts für den Schäfer: noch immer ist er draußen unterwegs, inzwischen nicht mehr mit eigener Herde, sondern im Dienst eines Stockstädter Schafhalters, der ihn morgens hinausbringt und abends in die warme Stube holt. Nun aber sagt er: „einmal muß Schluß sein“, ruft seinen treuen Begleiter Mohr, den schwarzen Hirtenhund, zu sich und wird in diesem Winter endlich am warmen Ofen sitzen.

Die Weber: Stoff für Dramen und Opern - und brisantes Thema auch heute

Doch zurück ins Mittelalter: in den Weberhäuschen wurden die Stoffe nur hergestellt. Dann mußte ein Familienmitglied „den Buckel krumm machen“, wenn die Ballen geschultert wurden, um zum nächsten Handelsplatz gebracht zu werden. Dort gab es wenig für die Weber, der Händler aber sorgte schon dafür daß es ihm selbst gutging.

Bekam der Weber einen Hungerlohn, ebenso wie der Schäfer, der Schneider und der Knopfmacher, so entwickelte sich das Bäuchlein der Handelsherren prächtig. Da war unser Jost nebst Gattin Katharina ja noch ein bescheidenes Licht. Mit erträglichem Gewinn verkaufte er die ringsum erhandelten Ballen in Frankfurt, nachdem er sich durch die Pfarrgasse gequetscht hatte.

Der Ballen aber wurde kostbarer und kostbarer von Händler zu Händler. Bekanntestes Beispiel sind die Fugger aus Augsburg. Mit Baumwolle aus Italien errichteten sie einen mächtigen Familienkonzern und stiegen sogar in den Hochadel auf.

Doch immer und zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten, ist die Geschichte der Kleidung eng mit der Geschichte der Armut verknüpft: die Baumwollpflücker, als Sklaven aus Afrika nach Amerika gebracht, legen in ihren wehmutsvollen Liedern Zeugnis davon ab. Eine ganze Musikrichtung entwickelte sich daraus: der Blues. Ob die Schafhüter im australischen Outback wirklich viel Freiheit und Lagerfeuerromantik erlebten, ist ungewiß. Und was die Kinder in Indien, in Taiwan und Pakistan über ihre Arbeit an unseren modischen Kleidungsstücken denken, das möchte vielleicht niemand so genau wissen.

Vom Schaf zum Menschen im Einklang mit Natur und Wirtschaftlichkeit

Es geht aber auch anders: auf Biohöfen in Deutschland werden Schafe gehalten und ihre Wolle geschoren, denn Schafschurwolle ist inzwischen ein begehrtes weil knappes Handelsgut geworden. Aus einer rebellischen Landkommune jugendlicher Aussteiger entwickelte sich die Schäfereigenossenschaft Finkhof: seit dreißig Jahren gibt es dort eine Näherei, eine Färberei und natürlich eine Weberei, um alle Stationen der Wolle von Anfang auf dem Schaf bis zum fertigen Kleidungsstück selbst zu übernehmen. Der internationale Verband der Naturtextilwirtschaft e.V. nahm die Finkhofleute 2001 auf, denn sie produzieren konsequent ökologisch. Was wie ein Märchen klingt, ist jedoch Wirtschaftsrealität: ein Computer gehört dazu, ein Warenwirtschaftssystem und natürlich auch ein Steuerberater.

Und doch bewahren solche Ausnahmen für uns Märchenfreunde die Hoffnung, daß alles endlich gut werden wird. Wer weiß, vielleicht wird man sich in späteren Zeiten Märchen erzählen nicht nur von den Ehezwistigkeiten der Linnwebers aus Gelnhausen und über den unermeßlichen Reichtum der Augsburger Fugger, sondern auch über moderne Schäfer, die Schäferwagen mit Solarkollektoren haben und ihre Schafe zwischen ICE-Trassen und Autobahn zu einem Kräutlein am Wegrand führen, so köstlich wie im Märchen!

Der rote Faden oder das Knäuel der Ariadne?

Wir spinnen einen Gedankenfaden und das Leben verwebt ihn zu einem Schicksalsteppich, so erklären uns die klugen Leute von Kircher Webgeräte in Driedorf.

Das Weben sei bereits in der Antike das Sinnbild für das Denkvermögen des Menschen, das Muster der Verflechtung offenbart Klugheit. Die Erdenmutter Rhea-Kybele habe den Phrygiern im östlichen Kleinasien das Weben gelehrt, und Göttin Athene ist Beschützerin der webenden Frauen und Weberin zugleich. Die nordischen Nornen spinnen den Gedankenfaden, die Walküren verweben ihn zu menschlichem Geschick.

Die Frauengestalten in Homers Ilias und Odyssee werden meistens webend dargestellt, und in der altgermanischen Edda webt Gudrun Bildteppiche. Ursula und Kersten Kircher haben die Geschichte des Webens durchforstet und Spannendes zutage gefördert. Ihre Firma war 1924 von Schreiner Walter und Kunstgewerblerin Mia Kircher in Marburg gegründet worden. Mit Bandwebgeräten begann alles, es kamen große Webrahmen vor allem auch für Laienweber dazu. Mit Webkursen in Volkshochschulen, Frauenverbänden und anderen Institutionen begannen die beiden Jugendbewegten 1927 ihre Idee der Hausweberei zu verbreiten.

Später, im 2. Weltkrieg, mußten die Kirchers kriegswichtige Teile für Lazarettbetten herstellen, dann fielen Bomben. Man baute das Werk wieder auf und begann mit Webkursen. Inzwischen sorgt die Firma Webgeräte Kircher in der dritten Generation dafür, daß nie vergessen wird, wie man aus Schafwolle Stoffe weben kann. Es wurde unterrichtet, gebaut und geschrieben, und wer’s nicht glauben will, der kann sich selbst überzeugen. Vor einigen Jahren zog das Werk von Marburg ins Westerwalddorf Driedorf, und dort ausgerechnet in den Schneiderstriesch.

Der Straßenname Schneiderstriesch weist in zweifacher Weise auf Textiles hin: als Triesch, Driesche oder auch Dreesch, wurde früher das Land bezeichnet, das gerade nicht ackerbaulich genutzt war. Schafe weideten darauf.

Drieschlandschaft im Kellerwald

 

Und so wird es sich gewiß einst vor langer langer Zeit einmal zugetragen haben, daß ein tapferer Schneider auf seiner großen Stopfnadel dahergeritten kam, die schönen wolligen Schafe sah und beschloß, hier zu bleiben und zu weben. Geschichte und Geschichten der Weberei, sehr unterhaltsam und ausführlich beim Holzkircher zu finden... Marieta Hiller, Herbst 2013

Dieser Beitrag ist umgezogen nach: Ernährung und industrielle Revolution

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