Landwirtschaft vor 250 Jahren anhand der Karte des Felsberges von Johann Wilhelm Grimm
Bei einer Führung durch die Gadernheimer Fluren der Neunkircher Höhe im Jahr 2000 erläuterte Georg Grohrock, Geometer aus Gadernheim und inzwischen leider verstorben, interessierten Teilnehmern, welche Flächen vor 250 Jahren noch landwirtschaftlich genutzt wurden, die inzwischen vom Wald zurückerobert worden sind.
Grohrock entdeckte dies anhand der Karte von Johann Wilhelm Grimm: „Gadernheim - Lautern - Raidelbach“ aus dem Jahre 1751 (Joh. Wilhelm Grimm 1703-1778; die Karte „Gadernheim - Lautern - Raidelbach“ wurde 1737-1739 vermessen und angelegt). In dieser Karte ist die exakte Lage von Waldstücken, Wiesen und Feldflur sowie die damalige Bebauung verzeichnet und in der Legende beschrieben. Bei Überprüfung in der Natur kann man ehemalige Ackerflächen daran erkennen, daß sie ohne Steinbrocken sind. Diese finden sich als Lesesteinhaufen am früheren Ackerrain.
Erstmals wurden die Ortschaften Reichenbach, Gadernheim-Lautern-Raidelbach, Seidenbuch und andere im Odenwald exakt vermessen durch den Geometer johann Wilhelm Grimm.
Ausführliche Erläuterungen zu Johann Wilhelm Grimm und seiner Arbeit hat Georg Grohrock im Jahr 2001 in Band 34 der Geschichtsblätter des Kreises Bergstraße veröffentlicht (Georg Grohrock, Der Geometer Johann Wilhelm Grimm (1703-1778) und seine Arbeiten in Reichenbach und Umgebung, Geschichtsblätter des Kreises Bergstraße Band 34, 2001; im Folgenden mit GKB abgekürzt; im Original Rißbuch von Gadernheim, Lautern und Raidelbach aus dem Jahr 1739 finden sich auf einer Kopie des Planes Notizen von Georg Grohrock).
Die Grimmkarte von Reichenbach und Felsberg von 1763
Beginn der geometrischen Kartografie im Odenwald
Wie wichtig Grimms Arbeiten für künftige Besitzklärung und Besteuerung wurde, wird in meinem Aufsatz „Beginn der geometrischen Kartografie im Odenwald“ erläutert: In diesem Aufsatz wird versucht zu ermessen, wieviel Mühe und Sorgfalt Geometer Grimm einst aufwenden mußte, um eine saubere Legende zu seinen akkurat gezeichneten Karten zu schreiben, und wie oft er wohl alles abschreiben mußte bis es seinen Ansprüchen genügte. Auch wie schwierig es war, geeignetes Papier in passendem Format zu bekommen, muß bedacht werden, um Grimms Jahrhundertwerk beurteilen zu können, das bis in die heutige Zeit gültig ist. Eine spätere Neuvermessung wurde in Reichenbach nicht erforderlich, die Grenzen sind anhand der topografischen Karte sehr gut mit Grimms Karte zu vergleichen.
April 2021: Mitarbeiter des Berufsverbandes der Vermesser, Bezirksgruppe Darmstadt waren so freundlich, die beiden Karten übereinanderzulegen: Grimms Karte von 1763 und die aktuelle Katasterkarte (rote Linien = aktuelle Flurgrenzen). Herr Onno Diddens vom Vermesserverband schaltete dazu einen Kollegen im Ruhestand ein. Dieser, Herr Thomas Heinz, leitete die Grimmkarte, wie sie mir in hoher Auflösung des Hessischen Staatsarchives vorliegt, sofort weiter an das Amt für Bodenmanagement Heppenheim, Abteilung Geoinformation. Schon einen Tag später hatte ich von Frau Saskia Wagner vom Amt in Heppenheim die Übereinanderlagerung! Sie schreibt dazu: "Ihre Anfrage bzgl. des Übereinanderlegens der Karte von Grimm und dem aktuellen Kataster ist bei mir gelandet als Mitarbeiterin des Fachbereich GIS und im Anhang schicke ich Ihnen das Ergebnis der Anfrage. Ich muss dazu sagen, eine 100%-ige Übereinstimmung bekommen wir mit unseren Programmen leider nicht hin, das liegt aber auch am evtl. Papierverzug beim Scannen o.ä. Ich habe anstelle der Grenzpunkte die Flurstücke sichtbar gelassen, weil man trotz kleinem Versatz so doch sehr gut erkennen kann, welche Grenzpunkte tatsächlich bis heute noch Bestand zu haben scheinen." Man sieht deutlich auf der Übereinanderlagerung, wie exakt Grimm seine Vermessung in die Karte übertragen hat. Die von ihm genutzte Methode der Dreiecksmessung erzielte mit einfachsten Mitteln die gleichen Daten, die heute mittels moderner Instrumente erreicht wird.
Landwirtschaftliche Flächen vor 250 Jahren und heute
An dieser Stelle soll auf die Tatsache eingegangen werden, daß die landwirtschaftlich genutzten Flächen vor 250 Jahren weiter hinauf auf Felsberg und Neunkircher Höhe ausgedehnt waren, als dies heute der Fall ist. Georg Grohrock brachte mich 2000 auf die Idee, und als ich die Grimm-Karte auf den Seiten des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt (Signatur HLA HStAD P 1 Nr. 685/2, Hessisches Landesarchiv, Abteilung Hessisches Staatsarchiv Darmstadt) entdeckte, begann ich Informationen zum Thema zusammenzutragen.
An Grohrocks Ausführungen von 2000 erinnerte ich mich, als ich die Neuausgabe von A.V. Cohausen durch Günther Dekker las (Oberst a.D. und Conservator der Alterthümer in Wiesbaden August von Cohausen, „Römische Steinbrüche auf dem Felsberg an der Bergstraße in historischer und technischer Beziehung“ - Übertragen aus dem Original von 1876 in einen gut lesbaren modernen Text von Günther Dekker, Lautertal 2020 - im Folgenden Cohausen abgekürzt). Hier wird folgendes erwähnt: die Riesenkiste (römisches Werkstück im Felsberg, auf 350 m Höhe westlich der Brücke etwas oberhalb und verborgen gelegen) „liegt unweit des Ausgangs des Waldes“ (Cohausen S. 28 Nr. 10 Fig. 26, Cohausen bezeichnet die Riesenkiste als „Die Kiste“). Heutzutage liegt die Riesenkiste mitten im Wald, während die Feldflur erst unter 280m Höhe beginnt. Günther Dekker setzte die Grimmsche Felsbergkarte auf die Rückseite des neuen Cohausen-Buches und erwähnte während der Buchvorstellung, daß er gerne Unterstützung bei der Übersetzung von Grimms Kartenlegende annehmen würde.
So kam ich dazu, die Legende zu entziffern und über landwirtschaftliche Flächen nachzudenken. Damit bin ich den Menschen zu Dank verpflichtet, die mich zu diesem Thema anregten: Johann Wilhelm Grimm, Georg Grohrock, August Cohausen und Günther Dekker.
Konkret werden wir im Folgenden sehen, wieviele Landwirtschaftsbetriebe es in Reichenbach, Lautern und Gadernheim im Lauf der Jahrhunderte gab. Dabei muß bedacht werden, daß die Ortschaften ursprünglich in Huben aufgeteilt waren. Von einer Hube lebten im Schnitt 5-6 Ortsbürger (Rudolf Kunz, Rechtsordnungen im erbachischen Amt Schönberg, GKB 10 - in seinen Anmerkungen geht Kunz auf den etwa 20 Zotzenbacher Huben (Hausgesessene) von einer Einwohnerzahl von 100-120 aus) und zahlreiche Beisassen. Wir werden ebenfalls sehen, wie sich das Verhältnis zwischen Produzierenden und Verbrauchern wandelt.
In der althergebrachten Haingerichtsordnung wurde in jährlichen Zusammenkünften nicht nur der Schutz der Gemeinschaft geregelt, sondern auch Fruchtfolge, Aussaat und Ernte in der Dreifelderwirtschaft sowie die Bewässerung von Wiesen und Feldern (Heinz Bormuth, Lautern im Odenwald, Lautertal o. J. (1993) S. 8 - im Folgenden mit Bormuth abgekürzt). Die Haingerichtsordnung wurde im 17. Jahrhundert durch eine genauere Beschreibung abgelöst, da sich Steuerungerechtigkeiten häuften. Hierzu strebte das Amt Schönberg ab 1719 die Schatzungsrevision und Kartierung an, die durch Johann Wilhelm Grimm durchgeführt wurde. Wald, Wiesen, Äcker und Gärten sollten „auf geometrische Art nach der Dreiecksmethode“ erfaßt werden. (Karlheinz Rößling, Frühe Parzellenvermessungen im Odenwald - am Beispiel des Geometers Johann Wilhelm Grimm (1703-1778) in der Grafschaft Erbach, in: Beiträge zur Erforschung des Odenwaldes und seiner Randlandschaften Band V, Breubergbund 1992, S. 287 - im Folgenden mit Rößling abgekürzt, S. 287).
Philipp Buxbaum, Seminarlehrer in Bensheim (1843-1918), hat uns mit "Bilder aus dem Odenwälder Volksleben" (ca. 1906) eine Schilderung der Landwirtschaft hinterlassen, die ich hier zitieren möchte:
"In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (gemeint ist also 1800-1850) war es mit den Lebensverhältnissen der ärmeren Bevölkerung des Odenwaldes gar traurig bestellt. Und auch die Kleinbauern hatten ein hartes Dasein. Die große Ungleichheit des Besitzes, der Mißwachs der Felder, die Nöten des Handels und die erbärmlichen Lohnverhältnisse führten eine zunehmende Verarmung herbei.
In den Hütten ertönte der Notschrei der Hungernden, die bei der wachsenden Teuerung der Nahrungsmittel ihre Lebensbedürfnisse nicht genügend befriedigen konnten." (Nachdruck Neuthor Verlag Michesltadt, 1980)
Reichenbach
Im Einzelnen hat Lehrer Richard Matthes alle Daten für Reichenbach zusammengetragen und im Jahr 1936 veröffentlicht. 1987 wurde alles durch den Jugenheimer Heimatforscher Rudolf Kunz überarbeitet, mit Fotografien von Heinrich Stock und weiteren Dokumenten und Ergänzungen versehen. So bietet uns das Reichenbacher Heimatbuch (Reichenbacher Heimatbuch, Hrsg. Sparkasse Bensheim 1987, in der Folge abgekürzt mit RHB) eine sehr gute Übersicht über die Verhältnisse der letzten Jahrhunderte:
Ersterwähnung „Richinbach“ am 12.5.1012 im Lorscher Kodex. Das Dorf könnte aber schon wesentlich länger existieren. Schließlich mußten die Römer, die in der Zeit zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert nach Chr. im Felsberg Steinbrüche betrieben, ihre Arbeitskräfte aus der direkten Nähe beziehen. In Lehensbriefen und Urkunden werden Höfe in Reichenbach ab 1194 bezeugt. Solche Höfe muß man sich jedoch nicht als einfachen Bauernhof vorstellen, sondern eher als Gut mit vielen Arbeitskräften, die ebenfalls alle vor Ort wohnten. Die Dokumente beziehen sich stets auf Angehörige des Adels. Einer dieser Adelshöfe oder Huben war die im Lorscher Kodex aufgeführte Wildhube, der Grund für die Erwähnung von Reichenbach (RHB S. 21)
1455 bestehen in Reichenbach 11 Huben, drei Hofstätten und ein Erbleih-Hof sowie zehn Häuser inklusive Mühle (RHB S. 31).
Die kleinen Nachbardörfer Grauelbach (hier ist für 1477 noch ein einziges Haus belegt) und Hanrode sind schon um 1400 untergegangen. In Hohenstein existiert heute nur noch das Hofgut, aber noch im Jahr 1736 verzeichnet Grimm im entsprechenden Rißbuch sechs Hofreiten.
Anno 1561 fällt das Dorf durch Tausch von Kurpfalz an Erbach, wie auch Lautern Raidelbach und Gadernheim (RHB S. 30) Im 30jährigen Krieg litten die Dörfer unter marodierenden Soldatenhorden, die Bevölkerung wurde ausgeplündert und ermordet. „Weil keine Lebensmittel mehr auf dem Land waren, wurden alle Dörfer, nicht eines ausgenommen, von den Einwohnern verlassen“ wie Wilhelm Diehl über das Jahr 1634 berichtet (Wilhelm Diehl, der gefangene Pfarrer, eine geschichtliche erzählung aus der Zeit des 30j. Krieges, Darmstadt 1926 - im Folgenden abgekürzt mit Diehl)
Die Pest wütete noch schlimmer als der Krieg: von den ca. 200 Einwohnern starben normalerweise pro Jahr 3, die Pest raffte 1630 innerhalb weniger Tage die Hälfte dahin. Aufzeichnungen für die Zeit zwischen 1634 und 1649 fand bereits Lehrer Matthes leider nicht vor.
Es folgte eine Hungersnot, die Höfe waren niedergebrannt, die Felder verwüstet. Nur wenige Jahre blieben der Landwirtschaft, um sich zu erholen. Es folgte Krieg auf Krieg, und mit ihm Verwüstung und Hunger. 1688 mußten die Bauern des Amtes Schönberg 820 Rationen Fourage (Fourage = Verpflegung für Soldaten und Pferde, für jedes Pferd 75 Pfund Hafer, 15 Pfund Heu, 5 Pfund Stroh - RHB S. 56) nach Worms liefern.
Ein Jahr später plünderten bayrische Fouragiere Elmshausen, Reichenbach und Hohenstein, schleppten Vieh und Lebensmittel mit und brannten alles andere nieder. Für 1696 sind weitere französische Überfälle dokumentiert, und 1704 quartierte sich ein Regiment in Reichenbach, Lautern und Gadernheim ein, das neben Lebensmitteln und Pferdefutter auch Fuhren forderte. Fast drei Generationen nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges ist die Gegend wiederum genauso verarmt und verödet. 1738 wurde wieder einmal ein Frieden geschlossen, aber 1743 hatte das Amt Schönberg 425 Malter Hafer, 850 Rationen Heu und 3000 Bund Stroh an die Franzosen zu liefern. 1758 mußten 106 Pferde mit je 12 Pfund Heu und 6 Pfund Hafer verpflegt werden mußten, die Soldaten waren eine wilde Horde, denen der Kommandeur die Gewehre abnehmen ließ und Alkohol verbot. Die Bauern hatten nun weder Lebensmittel noch Futter abzugeben und mußten daher Fuhrdienste verrichten. Dabei wurde eine Viehseuche aus der Wetterau eingeschleppt, die das noch übrige Vieh vernichtete.
Verhältnisse in benachbarten Dörfern: Hohenstein sowie Gadernheim, Lautern, Raidelbach
Johann Wilhelm Grimm lieferte als Probearbeit die Rißkarte von Hohenstein ab. Der Bruder seines Vorgängers, Johann Nicolaus Frantz, half ihm dabei. Zu vermessen waren mit Auftrag von 1736 die Orte Elmshausen, Gadernheim mit Lautern und Raidelbach, Gronau, Reichenbach und Wilmshausen. 1737 vermaß Grimm Lautern, 1738 Raidelbach und 1739 Gadernheim. Die entsprechende Hohenstein-Karte wurde zufällig entdeckt, befand sich aber in sehr schlechtem Zustand. Georg Grohrock vermerkt, daß sich 100 Jahre nach dem Ende des 30jährigen Krieges die Bevölkerung soweit erholt hatte, daß in Gadernheim „alle Äcker und Wiesen bis auf Höhen von 550m ü. NN am Westergiebel, gegen Neunkirchen sowie zwischen Kaiserturm und der Kolmbacher Grenze wieder in landwirtschaftliche Kultur genommen waren" (GKB 34 S. 93)
Grohrock führt als Beleg für die weitgehende landwirtschaftliche Nutzung der Flächen an, daß Grimm zum Einsatz des Dreiecksnetzes zur Vermessung freie Sicht benötigte, der Baumbestand dürfte danach eher schwach gewesen sein. Mit der Abschaffung der Dreifelderwirtschaft Mitte des 18. Jahrhunderts (Einführung der Kartoffel und weiterer Nutzpflanzen) blieb der größte Teil des offenen Landes noch in der Ackernutzung, Wiese fand sich nur in Bachniederungen, wo man nicht pflügen konnte.
Gadernheim hatte 1439 (kurpfälzische Landschatzung) 19 Steuerpflichtige; 1561 konnte die Zahl der Hofreiten nicht mehr klar festgestellt werden (Rudolf Kunz, kurpfälzische Landschatzung für die Kellerei Lindenfels (1439) GKB 9, 1976) 1619 wurde das Rathaus gebaut, umgeben von sieben Hofstätten. Hinzu kamen noch zwei Mühlen, die Schule und das Hirtenhäuschen. Außerhalb des Ortskernes verzeichnet Grimm zehn abseits gelegene erst später gerodete Höfe, die 1739 keine geschlossenen Huben mehr waren (GKB 34, S. 98).
In Lautern, erstmals beurkundet 1012, konnte aufgrund des schlechten Bodens (Hornblendegranit-Verwitterungsgrus) plus höheren Niederschlägen als ringsum vorwiegend Wiese und Waldwirtschaft betrieben werden, für Ackerbau eigneten sich vor allem die Hochflächen („braad Haad“, breite Heide) (Walter Dörr, Das Dorf Lautern, in Festschrift Freiwillige Feuerwehr Lautern 1963 S. 29 - im Folgenden mit Dörr abgekürzt). Von im Jahr 1439 beurkundeten neun Huben waren 1561 noch fünf verblieben, Heinz Bormuth schätzt das Dorf bis ins 14. Jahrhundert auf 50 Einwohner (Bormuth S 4) Landgraf Wilhelm von Hessen, im Volksmund der „Brandmeister“ genannt, verwüstete 1504 mit seinen Kittelhessen die pfälzischen Dörfer im Lautertal.
Lautern hatte nach Rudolf Kunz (R. Kunz, R. Reutter, die Huben im oberen Lautertal und ihre Abgaben, GKB 16, 1983) 1439 neun Steuerpflichtige, Raidelbach sieben. Die geschätzte Einwohnerzahl liegt bei 90 für Gadernheim, 35 für Lautern und 30 für Raidelbach. Zum Vergleich: Reichenbach hatte 23 Steuerpflichtige und 120 Einwohner.
Für 1369 gab das Schatzungsbuch Lindenfels für Gadernheim, Lautern und Raidelbach zusammen 32 Huben und einen Hof / Mühle an, 1455 war lediglich ein Hof bzw. eine Mühle hinzugekommen. Da es bei der Schatzung um Steuerzahlungen ging, zeigt Rudolf Kunz am Beispiel des Amtes Bickenbach 1415-1434, wie teuer einzelne Dinge waren. Für ein Pferd waren 4-9 Gulden zu zahlen, für eine Kuh 2 Gulden. Ein Schultheißenrock kostete 1,5 Gulden, ein Karch (Karren) 2,5 Gulden. Eine Mahlzeit wurde mit 8 Pfennig angegeben, der Tagelohn eines Zimmermannes mit 30 Heller (Kunz, Landschatzung Lindenfels: 7 lb (Pfund) = 5 Gulden (fl), diese = 7 Pfund Heller; 1 Pfund Heller = 20 Schilling Heller, 1 Gulden also 28 Schilling (sh bzw. ß bzw. Heller). 2 Heller = 1 Pfennig.
Beispiele: 1 Mahlzeit 8 Pfennig, für 1 Gulden bekam man knapp 2 Mahlzeiten
Zimmermannstagelohn 30 Heller = gut 1 Gulden - Der Zimmermann konnte sich also von 30 Hellern zwei Mahlzeiten leisten, aber sonst nichts
Laut Landschatzung von 1439 hatten die Steuerpflichtigen zwischen ein und vier Gulden jährlich zu zahlen.)
Die Steuerlast betrug also den Gegenwert von 2 bis 8 Mahlzeiten oder 1-4 Zimmermanns-Tagelöhnen. Die höchsten Abgaben waren übrigens aus Raidelbach zu zahlen: mit 10 Gulden wurde der Schultheiß Johe (Bormuth schätzt sein Vermögen aufgrund dieser Steuerhöhe auf 200 Gulden: S. 43) veranschlagt, mit 5 Gulden Johann Griff. Hier gab es also die ertragreichsten Landwirtschaften. In Reichenbach zahlte sogar ein Steuerpflichtiger 19 Gulden, fünf zahlten zwischen 6 und 9 Gulden, der größte Teil mit 19 Steuerpflichtigen zahlte zwischen 1 und 5 Gulden als Landschatzung für Kriegszüge und Notzeiten. Dies war jedoch nicht die einzige Steuerlast, es mußte ja zudem die Bede, der große und kleine Zehnt und der Blutzehnt in Naturalien gezahlt werden (Bede: von mhd Bitte = Grundsteuer als dingliche Last auf Urhuben, wurde bei Hubenteilung mitgeteilt. Wiederkehrend: Zins und Volleist, Hubhafer, Rauchhuhn, großer und kleiner Zehnt. Außerdem Haupt- bzw. Totfallsrecht = Erbschaftssteuer, Herdrecht bei eigenem Haushalt, Fräuleinsteuer, Landschatzung in Kriegs- und Notzeiten, Ungeld von verzapftem Wein (Umsatzsteuer). siehe Bormuth S. 41 ff)
Die Landschatzung von 1694 ist für Lautern leider nur indirekt in Form von Notizen von Graf Ludewig von Erbach-Schönberg 1830 überliefert. Der Graf klassifizierte Lautern zur Klasse 3 „die geringsten“ Hubgüter, während er Reichenbach zu Klasse eins, Gadernheim, Raidelbach, Hohenstein und Elmshausen zu Klasse zwei ordnete (Bormuth S. 89)
Die Ortsnamen in Lautern wechseln häufig: zwischen 1682 und 1701 verschwanden alle alten Namen (auch die Familie Grimm, nicht verwandt mit Johann Wilhelm Grimm und offenbar nach dem 30jährigen Krieg ausgestorben), es tauchen neue Familiennamen auf. Von diesen wird 1820 nur noch der Name Horn dokumentiert, und wieder kommen neue Familien dazu (Bormuth S. 29)
Grimm verzeichnet in Lautern zwei Mühlenstandorte: „des Bitschen mühl“ (Bickelhauptsmühle) und „des Arresen mühl“ (Borgersmühle). 1614 erwähnt Bormuth „Das Brotwiegen“: der Preis von Brot als Hauptnahrungsmittel durfte nicht verändert werden, wohl aber das Gewicht. Aufgrund schwankender Getreidepreise wurde das Gewicht jährlich durch den Schultheißen, Gerichtsleute und Bäcker festgelegt und ständig kontrolliert (Bormuth S. 11 zum Brotwiegen; Bormuth S. 110: Graf Ludewig notierte 1856, daß eine Mühle nur dann rentabel arbeiten kann, wenn der Müller der Eigentümer ist. Im Lautertal zwischen Gadernheim und Bensheim gebe es schon 24 Kunden- und Handelsmühlen. Er fand jedoch keinen Käufer und verpachtet wiederum an Heinrich Lampert Reichenbach für dessen Schwiegersohn Georg Borger. Beide wurden vertraglich zur Pflege verpflichtet und zahlten die ersten 12 Jahre nur 25 Gulden Pacht, danach 150 Gulden. Georg Borger kaufte die Mühle 1883 für 8500 Mark).
Die Arbeit des Geometers in Zeiten von Pest und Kriegen
Welche Verhältnisse fand Johann Wilhelm Grimm auf den Ländereien in Reichenbach, Gadernheim und den anderen Dörfern vor?
Wie lebte und arbeitete er, wie existierten die Menschen, die ja alle haupt- oder nebenberuflich von der Landwirtschaft leben mußten? Grimm lebte in Reichenbach mit seiner großen Familie ab ca. 1734. Das Dorf Reichenbach hatte sich von den wenigen Huben und Häusern des Jahres 1455 bis zum Jahr 1700 auf 35 Bauernhofreiten mit 250 Seelen vergrößert. Daß die Häuser allesamt Hofreiten waren, auch das Pfarrhaus, ist zu erkennen auf dem Grimmschen Riß von 1736.
Auch der Pfarrer betrieb also normalerweise Landwirtschaft, konnte dies jedoch aufgrund der Größe seines Kirchspiels nicht mehr leisten. Zu Grimms Zeiten (1741) gehörte die Hube daher zur Hälfte mit Hofreite und 21 Morgen Feld und Wiesen dem Landwirt Johann Georg Scharschmidt (Bormuth S. 56 ff; Eine Hube besteht aus Haus, Hofreite, Äcker, Wiesen und Wald, nicht unbedingt als zusammenhängender Komplex. Mit Zunahme der Bevölkerung im 16. Jh. wurden viele Huben aufgeteilt und zum Teil soweit zersplittert daß die ursprüngliche ganze Hube nicht mehr rekonstruierbar ist. Die ursprünglichen Fachwerkhäuser waren ebenerdige Wohnstallhäuser mit Scheune, Schweinestall und Backofen, im 18. Jh wurden kleinere Häuser mit Stall im Untergeschoß gebaut). Die andere Hälfte mit 22 Morgen teilte sich auf zwischen Andreas Beßinger und Andreas Jährling.
Dem Pfarrer ging aus der Bewirtschaftung der große Zehnte zu (RHB S. 93-97: Der „große Zehnte“ besteht aus Korn, Hafer, Gerste und Spelz (Dinkel) oder Weizen. Bormuth s. 97: Die Bauern mußten ihren Zehnten in die Zehntscheuer einfahren, welche von der Herrschaft unterhalten werden mußte. Der Zehntner begutachtete die Ernte. Kein Bauer durfte seine Frucht heimführen ehe der Zehntner den Herrschaftsanteil bestimmt hatte. In Lautern gab es keine Zehntscheune, so daß von den Bauern Scheunen angemietet werden mußten. Gerechnet wurden 6 Kreuzer je Haufen Frucht (= ca 40 Garben). Nach 1840 wurde der Zehnte nach und nach kapitalisiert und abgelöst).
Der Pfarrer durfte nicht mehr Vieh halten als ihm zustand. Da das Vieh auf Brach- und Waldweide getrieben wurde, hätte er sich durch mehr Vieh einen Vorteil verschafft, denn den Hirten zahlte die Dorfgemeinschaft. Drei Kühe, 1 Stierlein und 1 Kalb, 2 Gayl (Gäule) wurden ihm 1583 zugestanden (RHB S. 94)
Selbst das auf dem Kirchhof wachsende Gras bot Anlaß zu Streitigkeiten, als der Pfarrer dafür Ziegen hielt. Dies sagt einiges über die Knappheit der Futtermittel jener Zeit aus.
Die Hofreiten lagen nahe beieinander um die Kirche gruppiert als Haufendorf. Gärten und Baumgärten (Bangert) umgaben die Häuser, und zu den Feldern hin schützte der Bannzaun, eine lebende Hecke, das ganze Dorf. Dieser war undurchdringlich für Wölfe, Rehe und Wildschweine und mußte von den Besitzern strengstens in Ordnung gehalten werden (RHB S. 43).
In Grimms Zeit fiel auch der Kirchenneubau im Jahre 1747. Somit wurde Grimm bei seinem Tod 1778 auf dem neugestalteten Reichenbacher Friedhof beerdigt. Von seinem Grab ist heute jedoch nichts mehr bekannt.
Wie sah die Entwicklung nach Grimms Tod aus?
Die Zeiten nach Grimms Tod waren weiterhin von Kriegen bestimmt, jedoch wurden die hier beschriebenen Dörfer davon nicht so stark betroffen. Die Entwicklung des Dorfes Reichenbach nach Grimm sieht wie folgt aus (RHB S. 35, 44, 46, 107)
1806: 60 Häuser mit 545 Seelen
1836 (die nächste Kartierung durch Katastergeogmeter Schneider): 122 Häuser, die neu entstandenen Häuser waren keine Bauernhöfe, sondern kleinere Häuser von Handwerkern, Taglöhnern und Händlern
1839 (Ortsbürgerregister): 48 Landwirte, 125 Taglöhner, 18 Schuster, 15 Maurer, 10 Leineweber, 7 Grobschmiede, 3 Nagelschmiede
1840 Bau der Provinzialstraße, neues Rathaus und Schulhaus - Zuzug von auswärts, 110 Seelen
1841 Kupferbergwerk
1852 Blaufabrik
1854 Pappdeckelfabrik
1880 Steinmetze im Felsberg - das Bauerndorf Reichenbach wird endgültig zu einem Industriestandort
1936: 70% Arbeiter 30% Bauern
Die Bevölkerung nahm also bereits während Grimms Lebens- und Arbeitszeit stark zu, es gab immer mehr bäuerliche Kleinbetriebe im Nebenerwerb und wenige Großbauern. Kriege und Hungerjahre führten zu Teuerungen, so daß sich nur noch Großbauern das Saatgut leisten konnten.
Für Lautern fehlen Aufzeichnungen über die Eigentumsverhältnisse der Huben für das 17. und 18. Jahrhundert (Bormuth S. 57). Die Lauterner Bauern mußten in der Zeit zwischen 1734 und 1828 Kredite aufnehmen, bei denen Haus und Hof verpfändet wurden. Wohlhabende Stadtbürger aus Bensheim und Darmstadt gaben die Kredite, aber auch Großbauern aus Lautern, Brandau, Kolmbach und Herchenrode. Durch Zwangsvollstreckung und Notverkäufe verloren in Lautern die Bauern Georg Schmidt und Philipp Seeger, die obere Mühle und etliche Kleinbauern ihr Hab und Gut, die meisten von ihnen sind nach Amerika ausgewandert. Johann Wilhelm Grimm dürfte den Abschied vieler ehemaliger Grundbesitzer miterlebt haben (Bormuth S. 15). 1816 führen die Bevölkerungslisten der Standesherrschaft Erbach-Schönberg neun Ackerleute auf, für 1837 elf und für 1840 noch acht. 1861 lebten von den 191 Einwohnern Lauterns 24 als Selbsttätige mit 104 Angehörigen von der Landwirtschaft, das sind 67% (Bormuth S. 39).
1835 berief man sich bei einer Grenzstreitigkeit zwischen Reichenbach und Lautern auf die Rißkarte von Grimm: Es ging um fast 100 Morgen zwischen Böhl und Knorz (Bormuth S. 91). Anhand der Grenzsteine, die in Grimms Karte eingezeichnet waren und in der Landschaft gesichtet wurden, konnte das Gebiet jedoch eindeutig Lautern zugeschlagen werden, denn die Reichenbacher hatten lediglich ein Weiderecht auf diesem Gelände, die strittigen Steine waren Weidesteine, keine Grenzsteine.
Die Gesamtgemeinde Gadernheim - Lautern - Raidelbach blieb noch bis 1828 bestehen, 1821 stellte die neue Hessische Gemeindeordnung alle Ortsbürger gleich, das bedeutete, daß nicht mehr nur die alteingesessenen Hubenbesitzer - die ja bis dahin auch die Steuerlast alleine trugen - sondern alle Bürger die Allmende nutzen durften und am Holzertrag des gemeinschaftlichen Waldes beteiligt wurden (Bormuth S. 17).
Die Raidelbacher Hubenbauern wollten die Teilung, um nicht an den Kosten der Provinzialstraße (18000 Gulden) (Bormuth S. 124) beteiligt zu werden. Die Gleichstellung wurde noch jahrelang von Gadernheim unterlaufen, und erst 1849 sprachen sich auch alle Lauterner Ortsbürger für die Teilung aus. 1853 wurde die Trennung vom Großherzog genehmigt. Lautern benannte einen eigenen Feldschütz. 1933 wurden in einer Aufstellung der Wasserzapfstellen in Lautern 40 landwirtschaftliche Betriebe genannt, neben 10 Gewerbebetrieben und einem Großabnehmer (Blaufabrik) und 20 Arbeiterhaushalten (Bormuth S. 18-20).
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Erbhofgesetzgebung für die Bauern geändert: Höfe über 30 Morgen durften nicht mehr geteilt werden, sondern mußten an den ältesten Sohn übergeben werden. Das betraf in Lautern sieben Höfe. Im 2. Weltkrieg halfen deutsche Soldaten bei der Feldarbeit, jedoch war diese durch aliierte Tiefflieger kaum möglich (Bormuth S. 24). 1960 ergab eine Bodenerhebung für Lautern 33,2% Wald, 30,6% Ackerland und 27,4% Wiesen und Weiden (Dörr S. 29). Das Bauerndorf Lautern entwickelte sich ab 1852 allmählich zum Industriestandort.
Um 1920: 23 Vollerwerbslandwirte 23 im Nebenerwerb, außer diesen Hofreiten gab es nur sechs andere Häuser.
1954: 15 Vollerwerbsbauern und 31 Nebenerwerbler (Dörr; Bormuth erwähnt für 1954 15 Voll- und 11 Nebenerwerbsbauern).
1962: 5 Vollerwerbsbauern, 12 Landwirte hatten ihre Äcker abgegeben und Arbeit in der Industrie (meist in Lautern-Marienberg, in der 1954 offiziell als Deutsche Advanced Produktion (DAP) gegründeten Chemiefabrik in der ehemaligen Rauschenmühle. Die Fabrik stellte künstliches Ultramarin (Waschblau) her und wurde im Volksmund „Blaufabrik“ oder „Ultra“ genannt. Die weiter bergab liegende Schallermühle in Marienberg, 1850 von August von Ploennies aus Jugenheim erbaut, lieferte anfangs den Drehstrom für die Fabrik. Von Ploennies hatte bereits 1854 die gräfliche Borgersmühle in Lautern für 150 Gulden pro Jahr gepachtet sowie 1854 die Weißmühle am untersten Rand von Marienberg gekauft. Die Schallermühle wurde nach dem Bau der Weißmühle auf Abbruch verkauft. Siehe Bormuth S. 116) gefunden. Die fünf Landwirte hielten jedoch mehr Vieh als 1954 ganze fünfzehn (Dörr S. 45) Hinzu kamen 13 Nebenerwerbslandwirte.
Friedrich Krichbaum schrieb Anfang der 1960er Jahre in seiner Geographie-Examensarbeit:
"Bodennutzung: Von den 785 ha Gesamtfläche sind ca. 417 ha landwirtschaftlich genutzt, das entspricht rund 53%. Dieser Prozentsatz dürfte vor Jahren etwas höher gewesen sein, da einige Bauern Teile ihrer Besitzungen m it Fichtenwald eingepflanzt haben.
Diese landwirtschaftliche Nutzungsfläche gliedert sich wie folgt: Wiese 189 ha = 45,50% | Acker 177 ha = 42,50% |Weide 39 ha = 9,35% | Garten 12 ha = 2,90%. Die tatsächlich zu Weidezwecken genutzte Fläche dürfte höher liegen, da das Vieh zeitweise auf den übrigen Wiesen geweidet wird, die durch leicht transportierbare Elektrozäune zu 'periodischen Weiden' werden im Gegensatz zu den Dauerweiden mit festen Zäunen.
Die Ackerfläche wird in erster Linie zum Anbau von Getreide, Kartoffeln, Rüben und Klee benutzt. Die folgende Aufstellung zeigt das Verhältnis der Anfauflächen für die verschiedenen Pflanzen:
Weizen ca 30 ha = 17% | Roggen ca 25 ha = 14,10% | Hafer ca 25 ha = 14,10% | Gerste ca 18 ha = 10,20% | Rüben ca 30 ha = 17,00% | Klee ca 20 ha = 11,30% | sonstiges ca 9 ha = 5,00% (Angaben der Bürgermeisterei).
Die hohen Werte für Rübenanbau ergeben sich aus dem hohen Futterbedarf bei der steigenden Viehhaltung."
Krichbaum merkt 2021 im Onlinebrief 361 des Verschönerungsvereins Reichenbach an: "[hier] wird die Landwirtschaft, hier die Bodennutzung, vorgestellt. Auch hier findet man gewaltige Unterschiede im Gegensatz zur heutigen Bodennutzung. Wenn heute in der Gemarkung fast überwiegend nur Grünland vorherrscht, Ackerbau gibt es nur noch ganz wenig auf gut zugänglichen Flächen, war vor rund 60 Jahren noch fast die Hälfte der vorhandenen Grundfläche als Ackerland genutzt. Die Äcker zogen sich bis hoch hinauf an den Abhängen. Die folgenden Aufstellungen und Zeichnungen geben Aufschluss über die
damalige Bodennutzung. Vor allem wurden Getreide, Kartoffeln und Rüben angebaut."
Im Onlinebrief 359 (alle Onlinebriefe sind unter dem obigen Link zu finden) findet man Krichbaums Ergebnisse zur Viehwirtschaft:
"Der älteste Erwerbszweig in Reichenbach war die Landwirtschaft. Bis zum Jahre 1800 war Reichenbach ein reines Bauerndorf (Matthes 149). Heute dagegen gibt es nur noch 22 Vollbauernhöfe (1963). Vor allem wurde in früheren Jahrhunderten Wert auf die Viehhaltung gelegt. Die Brachäcker und Wälder dienten als Weide (vor allem der Felsberg).
Auch in der heutigen Zeit wächst das Interesse an der Viehhaltung wieder stark, was an der häufigen Anlage von Weiden zu ersehen ist. Noch vor einigen Jahren konnte man ungehindert über die Wiesen laufen, heute dagegen sind überall Weideflächen durch Stacheldraht- oder Elektrozäune abgegrenzt. Den ganzen Sommer über befinden sich die Rinder draußen, und der Besitzer hat kaum Arbeit mit ihnen. (Diesen Vorteil machen sich auch die sogenannten 'Feierabendbauern' zu nutze). So ist es nicht weiter verwunderlich, daß ein großer Teil der Wiesen als Weide genutzt wird, da bei den hohen Fleischpreisen gut verdient wird.
Die Pferdehaltung ist wie überall durch die Motorisierung in der Landwirtschaft stark zurückgegangen. Die Rinderhaltung (Mast- und Milchvieh) ist im Steigen begriffen. Das laufend eingehende Milchgeld stellt für den Bauern eine sichere Einnahmequelle dar.
Die Schweinehaltung ist durch moderne Zucht- und Ernährungsmethoden ebenfalls zu einer guten Verdienstquelle geworden.
Ferner ist eine ziemlich große Schafherde vorhanden. Die Ziegenhaltung ist in neuerer Zeit stark zurückgegangen. (In den Kriegs- und Nachkriegsjahren gab es viele sogenannte 'Ziegenbauern'). Heute dagegen, wo man alles kaufen kann, ist man nicht mehr auf die sehr nahrhafte Ziegenmilch angewiesen."
Krichbaum verzeichnet nach Angaben der Bürgermeisterei 365 Rinder (50 Halter), 275 Schweine (71 Halter), 98 Schafe (1 Halter, 59 Ziegen (35 Halter) und 19 Pferde (11 Halter). Außerdem 8769 Hühner (183 Halter) sowie 9 Enten (3H) und 7 gänse (2H.).
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1989: 2 Vollerwerbslandwirte 1 Nebenerwerbler, Betriebsgrößen vorwiegend bei 1-5 Hektar. Der Volksmund teilt die Bauern ein in Gaase-, Kieh- un Gailsbauern: Kleinbauern (Parzellenbauer), kleinbäuerliche (2-5 ha), mittelbäuerliche (5-20) und großbäuerliche Betriebe über 20 ha.
In Reichenbach gab es 1987 44% Wald, 29% Acker und Gärten, 18% Wiesen (RHB S. 162) Die Flächenverhältnisse ändern sich wie folgt:
1861 | 1913 | 1927 | 1956 | 1978 | |
Acker | 307 | 306 | 307 | 262 | 243 |
Wiese | 99 | 106 | 107 | 176 | 160 |
Wald | 318 | 307 | 297 | 381 | 388 |
(in Hektar, RHB S. 163) - Aus diesen Angaben erkennt man, daß die Ackerfläche sich nach 1927 stetig verringert hat, während Wald und Wiesen zunahmen.
Lautern:
1821 | 1854 | |
Acker | 410 (102) | 341 (85) |
Wiese | 103 (26) | 127 (32) |
Wald | 107 (27) | 159 (40) |
in Morgen, vier Morgen sind ein Hektar; in Klammern jeweils die Hektarzahl.
Heinz Bormuth führt die schlechte Entwicklung der Landwirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert auf das jahrhundertelang unverändert gebliebene Abgabesystem, das 1827 von der Hessischen Regierung geändert wurde: die Leibeigenschaft wurde abgeschafft, auch die Fronden. Grundzinsen, Pachtansprüche, Schafweiderecht und Zehntanspruch blieben bestehen, bis Graf Ludewig von Erbach-Schönberg 1848 allen Bürgermeistern zusicherte, diese abzulösen. Die Vereinbarung kam jedoch nicht zustande, 1849 übernahm die Staatsschuldentilgungskasse für die Gemeinde Lautern die Ablösung in Höhe von 6564 Gulden 50 Kreuzer 1 Pfennig an das Grafenhaus. Die Gemeinde mußte jährliche Raten mit 4% Zins an die Staatskasse zahlen und legte diese auf die Ortsbürger um. 1902 fielen die letzten Zahlungen an. Der Graf behielt jedoch die Mühle in Lautern und erheblichen Grundbesitz für sich (Bormuth S. 46-47)
Marieta Hiller, im Winter 2020/21