Im hohen Wald, zwischen starken Buchenstämmen und im Holunder, im Haselbusch und zwischen den Brennesseln - da huschen in der lauen Johannisnacht die G’hannsfinkelchen durchs dunkle Blau. Sogleich wenn die Dämmerung sich in Schwaden von Feenhaar dunkler und dunkler über den Wald senkt, entzünden sie ihre grünen Laternchen und schweben zauberhaft durch die Luft.
Doch bevor es so weit ist, ist einiges zu tun: der Bergkristall muß in dieser Nacht blinken und glänzen!
Denn leider ist es so, daß die Spinne Krikkelkrakkel und all ihre achtbeinigen Verwandten mit ihren acht schmutzigen Füßen überall auf den klaren Kristallen im Zauberwald Spuren hinterlassen haben. Im Winter, wenn sich die Krikkelkrakkel-Sippschaft in die tiefen Hohlräume in diesem granitenen Berg verkriecht, weil es draußen zu kalt ist und es auch gar nichts zu essen gibt, da treiben sie ein wildes Spiel tief drinnen in der Erde, wo es auch im Winter warm und trocken ist. Kleine Krikkelkrakkelchen verstecken sich hinter den Bergkristallen, wie kichern sie und freuen sich, wenn ein anderes Krikkelkrakkelchen meint, es hätte sie gefunden und dabei doch nur ein Trugbild im durchscheinenden Kristall erhaschen konnten!
Klar, daß die kleinen Krikkelkrakkelspinnchen nicht ihre vielen Füße abputzen, wenn sie von draußen herein kommen! Und klar auch, daß sie nicht nur über die Kristalle am Boden trampeln, sondern auch über Wände und Decke, denn schließlich können Spinnen auch kopfüber laufen!
Die Johannisfee, die in der Tiefe dieser Felsen lebt, verborgen unter Sternchenmoos und Mondscheinfarn, ist davon nicht gerade entzückt. Freut sie sich doch jeden Tag am Geglitzer und Geblinke der Bergkristalle! Doch ach und weh: wie sehen die Edelsteine dann im Frühjahr aus! Spinnenfüßchen allüberall, Schmutz und stumpfe Glanzlosigkeit auf allen Flächen!
Seufzend nimmt daher die Johannisfee am Frühjahrstag, dem 21. März, ihr Staubtuch, gewoben aus einem Nebelfetzen des Novembers, denn dann ist es besonders saugfähig.
Gründlich beginnt sie, alle Kristalle sauberzuwischen, kein Stäubchen entgeht ihrem Blick. Die Krikkelkrakkelchen aber bekommen rote Söckchen gestrickt, acht Stück für ein jedes von ihnen.
Dies muß die alte Hutzel übernehmen, denn nur sie vermag es, aus Nebelfäden zu stricken, und das sogar in rot! Natürlich stehen der alten Hutzel für diese Arbeit sämtliche Jungfeen aus dem Zauberwald zur Seite, und allabendlich in den heimlichen Verstecken des Kleinen Volkes hört man fröhliches Stricknadelgeklapper. Pünktlich zum Frühjahrsfest sind alle Söckchen fertig, und die alte Hutzel legt sie heimlich - denn sie will ja nicht gesehen werden - vor die Türe der Johannisfee.
Von jenem Tag an tragen die Angehörigen der Krikkelkrakkel-Sippschaft an jedem ihrer acht Füße rote Söckchen, sobald sie in die Höhlen und Ritzen des Kristallberges hineinhuschen, und die Edelsteine bleiben rein und klar - nachdem die Johannisfee sie auf Hochglanz poliert hatte. So rein und klar, wie es nur ein Bergkristall sein kann! Die vielen vielen Jungfeen aber, die mitgeholfen haben beim Söckchenstricken, die freuen sich auch am Geblinke und am Schimmer in den blankgeputzten Kristallhöhlen, lachend huschen sie darin umher, und jedesmal wenn eine durch die Kristalle hindurchschaut, wird ihr Lämpchen ein bißchen heller. Das ist die Kraft der Bergkristalle!
Einst entstanden die Kristalle in tiefsten Tiefen der Erde, unter großem Druck, wenn glutflüssige Magma aus dem Erdinnern nach oben drang und dabei wilde Blasen bildete. Doch oft blieb die Magma stecken, das Erdreich ließ sie nicht bis hinauf an die Luft. Sie wurde kalt und immer kälter, und in ihren Blasen entstanden wunderhübsche Kristalle. Die alten Griechen nannten sie „Eis“, denn man findet den Bergkristall nur dort wo es schön kalt ist. Und so ist es kein Zufall, daß die Schneekönigin in einem Kristallpalast aus jenem klaren reinen Edelstein lebt, und daß seit alters her Elfen und Feen besonders gerne im Innern von kristallenen Bergen wohnen!
Von Glasbergen hören wir in den Märchen, die der mutige Held erklimmen muß, um einen bösen Zauber zu brechen! Und wo sollte dieser Glasberg wohl sein, wenn nicht hier. Die alten Menschen hier nennen ihr Dorf „Glashütt“, und ein jeder denkt, das habe etwas mit der Glashütte zu tun, die im vorvorletzten Jahrhundert (1782) hier gegründet wurde. Doch nur 18 Jahre lang war sie in Betrieb - kaum Grund genug, ein ganzes Dorf und den dazugehörigen Berg nach ihr zu benennen! Nein, viel älter ist der Name - und er rührt aus uraltem Wissen, daß dies hier der märchenhafte Glasberg ist. Doch wo es hineingeht in den Glasberg - wo der verborgene Eingang in die Zauberglitzerwelt der Elfen und Feen zu finden ist, das erfährt nur der, der einmal mit eigenen Augen die alte Hutzel sehen konnte!
Ihr werdet es wohl niemals erfahren - aber den Abglanz all der wunderschönen Steine, den könnt ihr heute abend sehen! Sobald die Kandsfinkelchen ihre Laternchen entzünden, verstrahlen sie nämlich hell leuchtend die Kraft der Bergkristalle.
In jedem Jahr am Johannisabend wanderten einst die Menschen aus den Dörfern hinauf zum Glasberg, strichen mit den Händen zart über das Sternchenmoos der Felsen und benetzten es mit taufrischem Johanniswasser. Dieses Wasser mußte von einer Jungfrau „unbeschrien“ - also in tiefem Schweigen und mit großer Ernsthaftigkeit - in den frühesten Morgenstunden aus einem klaren Quell geschöpft und ebenso schweigend ins Haus gebracht werden. Nur so konnte das Johanniswasser dem Haushalt und seinen Bewohnern - den menschlichen, den tierischen und den Zauberwesen wie Kobolde und Hausgeister - ein ganzes Jahr lang zu Glück und Zufriedenheit verhelfen.
Ein paar Tropfen von diesem Johanniswasser also mußten am Abend bei Sonnenuntergang auf das Sternchenmoos geträufelt werden, auch dies in tiefem Schweigen und mit großer Ernsthaftigkeit. Dann begann der Mondscheinfarn alsbald zu blühen, mit einem purpurfarbenen Schimmer überzogen sich alle die feinen Spitzen der Farnkräuter. Lichter blitzten auf, erst eines, dann noch eines, und immer mehr. Feine grüne Laternchen wurden entzündet und schwebten durch die laue Dämmerung hinein in die samtblaue Nacht.
Zarte Nebelfäden strichen aus den Felsenspalten empor, fächelten durch das Sternchenmoos und umspielten die blühenden Farnwedel. Weiter empor zu den glühenden Laternchen in der lauen blauen Nacht stiegen sie auf und sammelten sich.
So war es in früheren Zeiten, als die Menschen noch an Zauberwesen und Märchen glaubten, als das Kleine Volk noch mitten unter den Menschen lebte, und als die Steine besondere Kräfte hatten.
Denn das Johanniswasser der Menschen drang durch Sternchenmoos und Mondscheinfarn bis hinab zu den Kristallen, und wer einen fand, dem ward Weisheit, Mut und Treue geschenkt. Denn der Bergkristall vermag vieles, und er stärkt die Kraft aller anderen Steine. Im Sonnenlicht sammelt er seine Kräfte, und immer, wenn er seine Feen und Elfen aussendet, um als Kandsfinkelchen durch die Nacht zu leuchten, dann ist der Tag gekommen, an dem die Kraft des Tages hinab in die Tiefe gebracht werden muß: denn die Kandsfinkelchen dürfen zwar des Nachts hell leuchten, doch am Tag müssen sie Sonnenstrahlen einfangen, so wie Marienkäfer Tautropfen trinken. Alle Sonnenstrahlen müssen sie des Abends flugs hinab in die Kristallhöhle bringen, wo alsbald ein neuerwachtes Gefunkel und Geglitzer beginnt, daß es zuweilen ganz hell aus den Ritzen zwischen den Felsen scheint! Dann glüht der Glasberg, und die Kristalle bewahren die Sonne in sich für ein ganzes Jahr.
Seither aber kam es immer mehr außer Mode, am Johannismorgen das klare Wasser unbeschrien zu sammeln, auch gibt es immer weniger Jungfrauen! Und so kommt es, daß am Johannisabend auch selten noch ein Mensch sich auf den Glasberg verirrt, um Sternchenmoos und Mondscheinfarn mit dem Zauberwasser zu benetzen. Ohne das wunderkräftige Wasser aber geht es nicht nur den Menschen heute schlechter, ihre Herzen wie ihre Wohnungen sind nicht mehr voll Glück und Zufriedenheit, und das Kleine Volk hat sich von ihnen zurückgezogen. Kein Mensch findet im Glasberg noch einen Bergkristall, denn keiner weiß mehr um die alten Märchen, um die zauberhaften Bräuche und um die Kraft, die aus dem Berg strömt.
Deshalb habe ich euch einen kleinen Bergkristall für euer Glück und eure Zufriedenheit mitgebracht, bewahrt ihn gut! Und dankt den Kandsfinkelchen in jeder Johannisnacht, denn ihnen ist es zu danken, daß der Kristall im Glasberg noch immer sein Leuchten, Glitzern und Funkeln bewahrt - ihnen und der Johannisfee, und natürlich auch der alten Hutzel!
Marieta Hiller - als ich dieses Märchen bei der spätabendlichen Kandsfinkelschentour 2013 erzählte, fragte mich ein Teilnehmer, ob ich eine Erdmutter sei. Meine Antwort darauf: "nein, mit Esoterik habe ich es nicht so..." - wie schnell man doch in eine Schublade gesteckt wird, nur weil man Märchen erzählt!