Immer wieder spannend ist es, in alten Science fiction Taschenbüchern zu schmökern.

In den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts griffen zahlreiche Wissenschaftler in aller Welt und aus allen Fachrichtungen zum Erzählstift, um Geschichten aufzuschreiben. Geschichten, die zwar etwas mit ihrem Forschungsgebiet zu tun haben, aber in einer erfundenen Welt spielen. Ganz zufällig (ganz zufällig??!) sind diese Geschichten genau wie Märchen strukturiert. An einem wundersamen Ort weit weit weg, vor langer langer Zeit (oder in weiter nebliger Zukunft) da lebte ein Mensch, dem eine unglaubliche Geschichte widerfuhr.

Im Fabulieren konnten Forscher ihr Fachgebiet im Märchenland ausprobieren, lang bevor es Rechenmaschinen gab, die auf Eingabe unterschiedlicher Parameter innerhalb von Sekundenbruchteilen neue Szenarien ausspuckten. So fabulierte der renommierte US-Biochemiker Isaak Asimov 1978 in seiner Geschichte "Der Mann von drüben" über die Erdbevölkerung: das alte New York, eine primitive Bevölkerungsansammlung, die 3000 Jahre existierte.

8 Milliarden Menschen - nicht erst in 3000 Jahren, sondern dieses Jahr noch...

Das neue New York, die seit 300 Jahren erbaute Supercity. Ergibt zusammengerechnet, daß New York (besiedelt 1610 von Niederländern, nachdem gewiß schon vorher Menschen dort gelebt hatten, aber nicht in einer Stadt) sich zum Zeitpunkt von Asimovs Geschichte im Jahre 4910 n. Chr. befindet. Und Asimov schreibt, daß es auf der Erde etwa 800 Superstädte mit jeweils 10 Millionen Bewohnern im Schnitt gibt (auf dem Land arbeiten nur Roboter). Nochmal gerechnet, kommen wir damit auf 8 Milliarden Menschen. Die acht Milliardengrenze werden wir in real jedoch nicht im Jahre 4910 überschreiben, sondern wir sind gerade dabei.

Interessant übrigens: Asimov beschreibt die völlig andersartige Lebensweise der Menschen im Jahr 4910. Überkuppelte Megastädte ohne Kontakt zur frischen Luft oder zur Sonne, mit Transportbändern über die die Menschen von A nach B kommen; Gemeinschaftsküchen und -bäder, automatisch geregelte Wohnräume. Subversive Elemente treffen sich in stillgelegten U-Bahn-Röhren. Man ernährt sich von Hefekulturen, die auf Holz leben, allerdings ist die Menge an verfügbarer Nährhefe begrenzt. Es ist absehbar, wann die Menschen auf der Erde hungern werden: es reicht für 2 Billionen, dann ist Schluß. Außerhalb der Städte leben keine Menschen. Hier wird alles von Robotern erledigt. Kurios: man benutzt noch immer einen Leseapparat für Registratureinträge, der dem Microfiche-Lesegerät ähnelt, den heute in der Realität kaum noch jemand benutzt. Man rechnet mit Rechenschiebern!

Szenarien, Seuchen, Märchen! Nichts für Verschwörungstheoretiker...

Es gibt immer wieder Szenarien, die sich Wissenschaftler ausdenken: wie könnten wir in 100 Jahren, in 1000 Jahren, in noch fernerer Zukunft leben? Bedenkt man die Zeiträume seit Aufkommen des Menschen auf der Erde, seit seiner Seßhaftwerdung, seit Einsetzen der großen Revolutionen, so muß man in großen Schritten denken.

Der Revolution Null 8 Erfindung des Feuers, Folge = soziales Leben, Religion folgte nach etwa 16.500 Jahren die Erste industrielle Revolution: aus Kohle konnte Dampf erzeugt werden, der nie dagewesene Fabrikanlagen antreiben konnte. Zugleich wurde das Druckwesen revolutioniert und arbeitete mit Druckwalzen. So konnte Information sehr viel schneller zu sehr vielen Menschen gebracht werden, die in sehr großen Fabriken sehr viele Produkte erzeugten, die mit der zugleich entstehenden Eisenbahn (Dampf!) in weite Regionen Verbreitung finden konnten. Nachdem es von Null bis Eins besagte 16500 Jahre gedauert hatte, ging es nun plötzlich rasant: die Zweite industrielle Revolution um 1910 brachte Individualverkehr (Auto) und moderne Kommunikation (Telefon), die Dritte um 1980 bescherte uns erneuerbare Energiequellen unt Internet. Vereinfacht kann man das auf die Formel bringen: die Basis (Feuer, Dampf, Auto, regenerative "unerschöpfliche" Energie) verkettete sich mit einem neuen Nervensystem (Religion, Rotationsdruck, Telefon, Internet) und sorgte für eine sprunghafte Entwicklung der Menschheit. Die Sprünge erfolgten in immer kürzeren Abständen (15.000 Jahre v. Chr, 1850 n., 1910, 1980). Wie wird die nächste Revolution aussehen? Darüber sinnierten und sinnieren Science Fiction Autoren ständig nach und schaffen Szenarien - mögliche, unwahrscheinliche, skurrile und solche, die die Realität inzwischen eingeholt haben.

Eines dieser Szenarien schuf Jack London: in "Die Stadt der Verdammten" sind die Londoner Slums des East End beschrieben. Als verdeckter Reporter lebte er 1902 zeitweilig unter Obdachlosen, Hoffnungslosen, Arbeitslosen im Elendsviertel Londons. Seine eindringliche Reportage erschien unter dem Titel "Menschen der Tiefe". Londons Stadt der Verdammten charakterisiert die Kehrseite der Ersten industriellen Revolution. Wer sich der neuen Zeit nicht anpassen konnte, der ging unter.

Auch Charles Dickens befaßte sich zeitlebens mit den Schattenseiten der industriellen Revolution.

Klar ist, daß ebendiese Schattenseiten wesentlich attraktiver sind für einen Schriftsteller. Mögliche Zukünfte in postindustrieller Zeit wie in Mad Max, Maze runner, Cloud atlas zeigen Gesellschaften, die zum Teil auf die Stufe vor der Revolution Null zurückentwickelten. Immer spielt sich ein Teil der Szenen in zerstörten, zerborstenen, verwüsteten Stadtansichten unter einem düsteren unheilvollen Himmel ab. Die Frage ist, ob unsere leichte Gänsehaut, während wir gemütlich mit einem Bier auf dem Sofa sitzen, nicht eigentlich Warnfunktion haben sollte. Aber wie gesagt: dieser Beitrag ist nichts für Verschwörungstheoretiker...

Dystopie nennt der Germanist (also auch ich) solche Szenarien. Dystop = das Gegenteil einer Utopie. U-topos = Nicht-Ort, Dys-topos = Schlechter Ort. Das ist zugleich der Unterschied zum Märchen.
Ein Märchen (hier müßte man vor allem mit dem Kunstmärchen, dem "erdichteten" Märchen vergleichen) erzählt etwas, das sich vor langer langer Zeit an einem Ort weit weit weg zutrug. Niemals werden Ortsnamen oder Jahreszahlen genannt. Damit verleihen sich Märchen etwas Allgemeingültiges. Kunstmärchen sind Geschichten, die ihrer Struktur nach wie Märchen wirken, ihrem Inhalt nach jedoch von einem Menschen erfunden wurden. Im Gegensatz dazu sind Volksmärchen etwas Tradiertes, mündlich von Generation zu Generation Weitererzähltes. Daß viele Volksmärchen von den Brüdern Grimm aufgeschrieben (und verändert!) wurden, ist unser Glück. Denn sonst würde man sich dieses Märchen heutzutage vielleicht ganz anders erzählen:

Der Rattenfänger von Hameln

Die Rattenfängersage mit dem dämonischen Flötenspieler wurde 1816 in Grimms Sagen als Nr. 244 aufgenommen. Die älteste angegebene Quelle stammt vom Ende 16. Jh, die meisten der insgesamt zehn Quellen liegen zwischen 1556 undd 1745. Die Sage - im Unterschied zu einem Märchen hat eine Sage einen realen Ursprung - erzählt ein Geschehen aus dem Jahr 1284. Damals sollen die Hamelner Kinder entführt worden und in Siebenbürgen wieder aus dem Berg herausgekommen sein. Der Germanist und Märchenforscher Hans-Jörg Uther (Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, degruyter.com 2013, ISBN 978-3-11-03743-5) führt für diese Sage verschiedene Erklärungsversuche an:
1. Ostkolonisation - Pommern Masuren Siebenbürgen 2. Katastrophe - Pest Brückeneinsturz Schiffsunglück 3. Kinderkreuzzug 4. soziale und ökonomische Gründe. Für seine Vermutung des vierten Ansatzes spricht der Flötenspieler. Die Flöte könnte die sogenannte Pestnase darstellen, so daß der Rattenfänger (dem Namen nach fängt er RATTEN, mit Flöhen zusammen die Quelle der Pest) mit der Pestnase (= Schutzmaske vor Mund und Nase, in der sich ein in Essig getränkter Lappen befand) die Gesunden (= die Kinder) aus der Stadt führte. Seine bunten Kleider bis zum Boden können Fetzen zum Kontaktschutz sein. Dagegen spricht, daß die Ratten erst im 16. Jh in die Sage gerieten. 
Heute läßt sich nicht mehr sagen, was 1284 tatsächlich geschehen ist. Tatsache ist jedoch, daß wir heute eine ganz andere Geschichte zur Sage werden ließen, würde man uns diese Meldung "vortwittern":

"Hameln. Aus für gewöhnlich gutunterrichteten Quellen stammen Berichte, denen zufolge ein Großteil der noch nicht volljährigen Bevölkerung des Innenstadtgebietes von Hameln (Westfalen) am gestrigen Tage von einem stadtbekannten Influencer und Aluhutträger mit unbekanntem Ziel aus der Stadt gelockt wurden. Über ihren Verbleib liegen keine Informationen vor, es wurde keine Lösegeldforderung gestellt."

Nun können wir beginnen, aus dieser dürren Meldung ein modernes Märchen zu ersinnen. Wichtig ist, daß Corona drin vorkommt, eine habgierige machthungrige Regierung, die ihre Untertanen gängelt wo es nur möglich ist (in Wahrheit will sie ihre Bevölkerung gar austauschen!), außerdem ein Retter aus der Not, der - selbst mit einem Mund-Nasen-Schutz ausgerüstet - die für populistische Agitation Anfälligsten aus der Mitte der Gesellschaft dorthin führt, wo sie frei und glücklich leben können. An jenem dystopischen Ort grüßen sich alle auf der Straße mit "das wird man ja wohl noch sagen dürfen" und der höchste Feiertag ist der Tag, an dem der staatliche Impfterror besiegt wurde. Niemand weiß, wie lange sie dort frei und glücklich leben - denn keiner kam je zurück.

In hundert Jahren könnte aus der Meldung Folgendes geworden sein:

"In jenen Tagen des Jahres 2020 nach Christus (so nannten sie ihren ersten Erlöser) aber trug es sich zu, daß der Oberste Populist seine Getreuen um sich sammelte und zu ihnen sprach: 'ich aber bin euer neuer  Erlöser, denn ich führe euch hinaus aus dem Jammertal ins Paradies'. Seit jener Zeit aber wurde keine Kunde mehr vernommen vom Zug der Getreuen, die ihrem Obersten Populisten ins Paradies gefolgt waren. Die Zurückgebliebenen aber grämten sich sehr, so sehr daß sie bald alle krank wurden. Doch es kam die Zeit, als die klugsten Köpfe ihrer Zeit ein Mittel gegen die Krankheit ersannen, und alle nahmen es gehorsam ein. So wurden sie wieder gesund und lebten bis an ihr Ende zufrieden und glücklich... Nein! Sie lebten unzufrieden bis zur nächsten Krankheit, und wieder konnte ein Mittel ersonnen werden, und wieder folgte eine Krankheit, und wieder... So ging das Jahr um Jahr. Je kränklicher die Menschen wurden, desto wohler erging es ihrem Planeten Erde. Die Luft wurde rein, das Wasser klar. Pflanzen und Tiere erholten sich und wurden wieder stark und kräftig. Die Pole des Planeten bedeckten sich wieder mit Eis, wie sich das gehört. Nun, hochverehrter Rat der Tiere des Planeten Erde, wertgeschätzte Pflanzenwelt, nutzbringende Mikrobioten, so möchten WIR euch hiermit verkündigen, was am heutigen Tag beschlossen werden soll: die Erde soll niemandem mehr zu Eigen gehören und niemandem Untertan sein. Jedenfalls niemandem der dies nicht mit einigem Recht für sich fordern kann. Deshalb verkündigen WIR hiermit und an dieser Stelle, für alle Zeiten und solange die Erde noch um die Sonne kreist: 'WIR sind die Herren des Planeten'. Und auch dies vollzog sich nicht nur einmal. Zu gegebener Zeit folgten andere Wesen, die die Weltherrschaft für sich beanspruchten, aber keines von ihnen konnte sich für lange Zeit halten. Dieses haben schon viele versucht: der Mensch, die Ratten, die Heuschrecken, die Gentechnik, die Viren, Bakterien und sonstige Mikrobioten, die Außerirdischen, und wer weiß - ob auch nach UNS wieder ein anderer kommen wird...

Und in 1000 Jahren:

blrrrpp!? Phfoumppp!! - - - üüüüühhhh*

*Nein, falsch gedacht: keine Außerirdischen! Wer vom outer space würde denn auf einer zerstörten Erde leben wollen? Das - zugegebenermaßen fiktive - Zitat "blrrrpp!? Phfoumppp!! - - - üüüüühhhh" stammt von unseren - fiktiven - Nachfahren. Sprache entwickelt sich weiter, schon innerhalb einer Generation verlieren Ausdrücke wie "knorke", "krass", "geil" u.ä. ihre Relevanz. Und Sprache entwickelt sich nicht immer in Richtung höherer Komplexität. Stellen wir uns vor, unsere Gesellschaft fällt in Zukunft auf einen technologischen Zustand zurück, der dem der Steinzeit ähnelt. Das Bild, das hier entwickelt wurde ist ja eine Dystopie (ein schlechter Ort) in postapokalyptischer Zeit. Dann erfordert der zukünftige Alltag eine andere Sprache. Sehr gut umgesetzt ist eine solche Sprache beispielsweise im cloud atlas im 6. Teil des Sextetts, wo der Ziegenhirte Zachry sich mit Meronym anfreundet, die zum technisierten Volk der „Prescients“ gehört, das dem Niedergang geweiht ist. Leider habe ich noch nicht herausgefunden, ob es schon jemanden gibt, der diese Sprache analysiert hat und ihre besondere Grammatik formuliert hat. Vielleicht werde ich das später mal machen, wenn ich im Ruhestand bin...
Ähnlich ist es mit dem "gobblefunk", der Sprache in BFG - big friendly giant (Disney-Film, Steven Spielberg 2016). Der große freundliche Riese des Films entsprang dem Kinderbuch "Sophiechen und der Riese" von Roald Dahl (1982, Originaltitel "the BFG".
Aber es ist müßig, sich DIE zukünftige Sprache vorstellen zu wollen. Sprachentwicklung hängt von zahlreichen Faktoren ab, die alle chaotisch entstehen oder vergehen. Zukünftige Darstellung von Sprache bleibt immer ein Werk der Phantasie. Aber was gibt es Schöneres als Phantasie! Die nimmt uns keiner, weder Corona, noch Anti-Impfterror-Terroristen, noch Populisten oder Influencer.

In diesem Sinne: bleiben Sie gesund! Marieta Hiller

Ich fürchte, diesen Beitrag muß ich in unregelmäßigen Abständen ergänzen, es gibt so viele spannende Aspekte, die es zu entwickeln gilt...