Hic sunt Dracones: warum Landkarten früher weiße Flecken hatten

Alte Karten sind faszinierend: was entdeckt man nicht alles darauf! Früher richteten die Kupferstecher, die die Vorlage für den Kartendruck herstellten, ihre Platten nach Osten aus: Jerusalem lag am oberen Kartenrand, die Karte war „orientiert“. Der Begriff kommt von Orient = Osten. Später erst drehte der Wind und die Karten wurden nach Norden ausgerichtet, wo der Polarstern steht. Die Kupferstecher hatten ihre ganz besondere Signatur für ihre Platten, verschnörkelte Kartuschen, die zwangsläufig eine Region auf der Landkarte verdeckten. Wie bei einem Vortrag von Johann Heinrich Kumpf über Bernhard Cantzlers Karten von 1623 und ihr Fortleben bei der letzten Neustädter Tagung des Breuberg-Bundes zu sehen war, blieben in späteren Kartendrucken oftmals dort weiße Flecken, wo auf dem Original diese kunstvolle Kar-tusche erschien. So ist in der Cantzler-Karte von 1623 die Region zwischen Darmstadt, Arheiligen, Nierstein, Erfelden, Stockstadt, Griesheim und Gräfenhausen fast leer. Ob es dort wohl auch Drachen gab? „Hic sunt dracones“ - hier gibt es Drachen - wurde in alten Karten überall dort vermerkt, wo der Erforscher entweder aus Faulheit oder aus Feigheit nicht hingekommen war, oder aber wo es etwas gab, was andere nicht finden sollten. Wahlweise konnte auch mit „hic sunt leones“ gewarnt werden, auf Meeresflächen mit Seeungeheuern. Solche leeren Räume faszinierten durch die Jahrhunderte und fanden sogar Eingang in Frank Schätzings Werk: im Zukunftsroman Limit schreibt er vom „unprogrammierten Raum“. Der Der Chaos Computer Club machte das Motto „here be dragons“ zum Kongressmotto des 26. Chaos Communication Congress. Die Server von OpenStreetMap haben literarische Drachennamen und Captain Picard (star treck) sagt in bezug auf das kommende Unbekannte: „Beyond this place there be dragons“ (Das nächste Jahrhundert, Folge 28). Videospiele werden spannend durch alte Pergamente, auf denen „Hic sunt Dracones“ zu lesen steht (Divinity 2: Ego Draconis und Eternal Darkness). „Hic sunt leones“ sagt William von Baskerville in Umberto Ecos „Name der Rose“ am „finis africae“. Um Drachen geht es auch auf diesen Seiten: hier finden Sie eine Zusammenstellung mit dem Wenigen, was die Welt über Drachen weiß - und was sie bisher noch nicht wußte... Viel Vergnügen beim Stöbern,

Marieta Hiller - im Dezember 2014

Das geheimnisvolle Leben der Drachen

Überall um uns her sind Drachen. Wir müssen nur unsere Sinne schärfen, dann können wir sie sehen... Hic sunt dracones - hier sind Drachen - das trugen die Entdecker vergangener Jahrhunderte mit feiner Feder in ihre wunderschön gezeichneten Landkarten ein, wenn sie nicht zugeben wollten, daß sie eine unentdeckt gebliebene Landschaft nicht besuchen konnten oder wollten. So "reservierten" sie sozusagen diese Option für sich, ohne daß sich andere Entdecker dorthin wagten. Erfolgreich waren sie damit nicht, denn heute gibt es auf der Welt keine unentdeckten Landstriche mehr. Selbst die unendlichen Weiten des Weltalls, "die nie zuvor ein Mensch..." wurden zwischenzeitlich durch zahllose Science-Fiction-Autoren erforscht. Oft genug holte die Realität ihre spannenden Romane ein... Drachen findet man nicht mit Entdecker-Expeditionen. Drachen findet man, wenn man auf sie achtet. Denn nichts grämt einen Drachen mehr, als wenn niemand mehr an ihn glaubt - und so wird er schließlich unsichtbar. Aber sie sind da...

Drachen in der Geschichte der Menschen

Hildegard von Bingen vermerkte in ihrer Physica (um 1150) über die Heilkräfte der Natur zum Thema Drachen:

„Mit Ausnahme seines Fettes ist nichts von seinem Fleische und den Knochen für Heilzwecke verwendbar …“

Eigentlich schade, denn Drachen können so wohl tun... Im Mittelalter waren die Menschen überzeugt, daß es Drachen gibt. So sind auf der Carta Marina von 1539 weiße Flecken, die einfach noch nicht erforscht waren. Die großen Abenteurer konnten das natürlich nicht zugeben und schrieben in ihre Karten einfach "hic sunt dracones" - Hier gibt es Drachen! Selbst noch bis in die Neuzeit hielt man Drachen für real existierende Wesen: 1837 schrieb Samuel Schilling, deutscher Entomologe, in seiner "Ausführliche Naturgeschichte des Thier-, Pflanzen- und Mineralreichs" in einem Extra Kapitel über die Drachen, eingepaßt zwischen Basilisken und Leguan:

"Die Drachen sind eidechsenartige Thiere, deren Körper allenthalben mit dachziegelförmig liegenden Schuppen bedeckt ist, von welchen diejenigen am Schwanze und an den Gliedern gekielt [..] sind; die Zunge ist fleischig, aber wenig ausdehnbar. [..] Die Drachen sind kleine, unschädliche Thiere, welche sich auf Bäumen aufhalten und von Insekten leben. Sie finden sich in Ostindien und auf den Inseln der Südsee."

Seltsam, daß Drachen kleine Tiere sein sollten, die auf Bäumen leben! Zum Glück wissen wir das heute besser... Für Schilling waren die realen Drachen keine Fabelwesen:

"Von dem Drachen, wie wir ihn in der Naturgeschichte kennen lernen, müssen wir den Drachen der Fabelwelt unterscheiden; [..] Da dieser Drache nichts weiter als ein Hirngespinst war, so mußte natürlicherweise die Beschreibung von seiner Gestalt und Lebensart sehr verschieden ausfallen."

Man brauchte starke Zaubersprüche, um Kontakt zu einem Drachen aufzunehmen. Solche Zaubersprüche kommen von ganz innen aus unserer Seele, wo es sehr wohl Drachen gibt! Deshalb begegnen wir den Drachen auch oft in Zaubermärchen. Das sind die ältesten Märchen die wir haben. Hatte man den richtigen Zauberspruch, oder ein Wünschelding, so konnte man jederzeit mit seinem Drachen sprechen und er beschützte uns! Zaubersprüche gehören zu unseren ältesten Ritualen, so gibt es die Merseburger Zaubersprüche aus dem 8. Jahrhundert, aber auch aus der Antike schon gibt es Zaubersprüche von Plinius d.Ä., von Marcellus und Pelagonius.

Alles über Drachen: die Sprachecke von Heinrich Tischner!

Im Jahr 2022 schickte mir der Bensheimer Pfarrer i.R. Heinrich Tischner seinen Beitrag zum Thema Drachen. Lange Jahre unterhielt Tischner die Leserinnen und Leser des Darmstädter Echo mit seiner Sprachecke, bis diese 2018 vom Echo eingestellt wurde. Viel Interessantes las ich dort über die Jahre, Tischners Sprachecke war eines der Highlights dieser Zeitung - schade!

Für meine Drachenseiten bekam ich also Folgendes:

Herbstzeit ist Drachenzeit. Die frischen Winde fordern geradezu auf, einen Drachen steigen zu lassen. Früher hat man diese "Windvögel" selbst gebastelt aus kreuzförmig verbundenen Stäben, speziellem Drachenpapier und viel Schnur. Außer den üblichen rautenförmigen Fliegern gab es aufwändiger gebaute Kastendrachen, die sogar kleine Lasten transportieren konnten. Nicht nur das Bauen, auch das Fliegenlassen ist eine Kunst, die nicht jedem gelingt.

Wir unterscheiden zwischen Drachen 'Windvogel' und Drache 'ein Fabeltier', aber eigentlich ist es dasselbe Wort. Das Fluggerät stammt aus China und hatte die Gestalt des Fabelwesens. Als Spielzeug kam es in Europa zu Beginn der Neuzeit auf, soll aber schon vor tausend Jahren für militärische Zwecke verwendet worden sein. Im spätrömischen Heer diente der Drache an einer Stange als Feldzeichen. Er war gebaut wie ein Windsack und flatterte und wand sich im Wind. Die Römer hatten ihn von den iranischen Parthern übernommen und nannten ihn draco, wie das Ungeheuer. Geschnitzte Drachenköpfe hatten die Wikinger auf den Vordersteven ihrer Schiffe. Die sollten die Feinde abschrecken und mussten abgenommen werden, wenn man sich der Heimat näherte. An diese Köpfe erinnert altnordisch dreki, schwedisch draka, das nicht nur 'Drache' bedeutet, sondern auch 'Kriegsschiff'.

Wenn Blicke töten könnten, würden viele Menschen nicht mehr leben. Die Römer und die Nordleute glaubten, dass der Anblick eines Drachens Verderben bringt. Diese Vorstellung steckt anscheinend schon hinter dem Namen: Der kommt von griechisch δράκων drákōn 'Drache', abgeleitet von δέρκεσθαι dérkesthai 'scharf anblicken'. Auch einem schlangenähnlichen Monster, dem Basilisken, schrieb man einen tödlichen Blick zu. Heute trägt eine harmlose Leguanart diesen Namen. Der griechische Name βασιλίσκος basilískos bedeutet eigentlich 'kleiner König', auch den Zaunkönig hat man so genannt. Vielleicht dachte man ursprünglich an die "Königsschlange", die Kobra, welche die Krone der Pharaonen zierte. Von Perseus wird erzählt, er habe einem Scheusal namens Medusa das Haupt abgeschlagen, dessen Haare aus Schlangen bestanden. Wer diesen Kopf anblickte, erstarrte zu Stein. Medusen nennen wir heute quallenartige Tiere, deren Arme sich mit Schlangen vergleichen lassen.

Ein Leguan ist kein Drache, eine Qualle kein Monster und eine Fledermaus kein Vampir. Wir haben die Welt entzaubert. Die Ungeheuer, Ausgeburten der Angst, wurden zu normalen Lebewesen. Das fing im Altertum schon an: In der Bibel ist der Drache Leviathan ein Krokodil. Aus dem Seeungeheuer Tannin wurde später der Thunfisch. Und nach Reinhold Messner ist der sagenhafte Yeti im Himalaja ein Bär, kein "Schneemensch".

Heinrich Tischner, Sprachecke Echo-Zeitungen 02.10.2006. Viele weitere Beiträge sind in Tischners Sammlung, und ich glaube, ich werde sie in einem meiner künftigen Jahrbücher verwenden - schauen Sie gelegentlich mal hier rein, wann es erscheint!

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Und jetzt lest ihr noch einiges Interessante von Kobold Kieselbart, der sich noch immer im Felsenmeer herumtreibt, aber als Menschenbeauftragter des Kleinen Volkes im Jahr 2021 in Ruhestand gegangen ist.

Wie soll der kleine Drachen heißen, der kürzlich aus dem Ei geschlüpft ist?

Bei meinen Kindergeburtstagen im Felsenmeer, die ich auf Drachenschatzsuche schickte, mußte immer auch dem kleinen Drachen, der in diesem Jahr aus dem Ei schlüpft, ein Name gegeben werden. Roni und ihre Geburtstagsgesellschaft schlug vor: Judith Sofia Spiro Dominik Riesenfeuerdrachen Feuerpfeil Merker Nebelnacht Feuervogel
Die Geburtstagsgesellschaft von Anna Maria entschied: Herr Igor Spy Numal Bingo Ringo Flingo Dingo Flong

Der Große Rat des Kleinen Volkes berät jedes Jahr am Heiligabend darüber und dann hat wieder ein junger Drache seinen Namen.

Warum Drachen so traurig sind

das erfährt man in dieser Geschichte: Glückssteine und Sternenstaub...  und in dieser hier...

Daß Drachen überhaupt nicht fürchterlich und gräßlich sind, beweist dieses Buch: Gerard Moncomble / Michel Tarride: Ferdinand, der Drache. Es ist im Eichborn-Verlag erschienen, hat aber schon ein paar drachenschuppige Jährchen auf dem Buckel (1994) und darf seitdem in meinem Bücherregal gleich neben dem Bett schlafen. Ihr seht also: vor Drachen - und gar vor Büchern über Drachen - muß man sich nicht fürchten, man schläft sogar viel besser, wenn ein Drache über dem Bett wacht...

Eigentlich hieß Ferdinand "Chalumeau le Dragon", und eigentlich ist seine Geschichte eine ganz alltägliche Geschichte von den alltäglichen Problemen, die auch einen Drachen nicht verschonen: Verdauung, Arbeitslosigkeit, der Schatz wird einem gestohlen - ach was erzähle ich euch das, ihr wißt es schon selber. Am Ende aber wird alles gut und Ferdinand wird das Maskottchen der Gilde der Feuerspucker. Schaut mal rein: das Buch erschien beim Eichborn Verlag in Frankfurt (ISBN 3-8218-3655-5) - und vergeßt nicht: Bücher bestellt man beim örtlichen Buchhändler und nicht im fernen fernen Buchhändlerfresserland! Ich fürchte, den Eichborn Verlag gibt es gar nicht mehr: er wurde 2011 an die Bastei Lübbe GmbH & Co. KG verkauft. Und "Ferdinand den Drachen" gibt es nur noch antiquarisch für Drachenfreunde. Falls ihr das Buch haben wollt, dann denkt aber immer dran: jede Buchhandlung in eurer Nachbarschaft kann alle die Dienstleistungen erbringen, die auch die ganz Großen, Ungerechten bringen. Und die Buchhandlung in der Nachbarschaft kann euch noch viel mehr bieten: sie riecht nach Büchern! Und man kann die Bücher wispern hören. Das muß das Internet erstmal nachmachen...

Lindenfelser Drachenbuch "Der Drache Eujeujeu"

Am internationalen Museumstag 2014 hatte das Deutsche Drachenmuseum Kinder und Erwachsene zum Schreiben einer eigenen Drachengeschichte aufgerufen. Das Ziel war, die Beiträge in einem Buch zusammen zu führen. Erfreulich viele schriftstellerische Talente aus der Region haben ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, Drachengeschichten aufgeschrieben und sie dem Drachenmuseum zur Verfügung gestellt. Rechtzeitig zum 5-jährigen Bestehen des Drachenmuseums im März 2015 ist das Buch fertig gestellt. Der Verein wird das Buch und seine Autoren nun vorstellen und sich bei allen Einsendern bedanken. Am 6. März 2015 um 17.00 Uhr wird es präsentiert: im Deutschen Drachenmuseum in Lindenfels, In der Stadt 2. Die Drachen-Geschichten sind nun alle im Buch „Der Drache Eujeujeu“ versammelt: auch von Marieta Hiller sind zwei Geschichten und eine Zeichnung darin. Das Buch mit der ISBN-978-3-86386-818-5 ist bei Ihrer Buchhandlung oder im Deutschen Drachenmuseum Lindenfels erhältlich. Im Buch sind zwei kurze Geschichten über Drachen von Marieta Hiller zu lesen:
"Wie das früher mit den Drachen gewesen ist..." und "Ein ganz kurzes Drachenmärchen ohne Gezicke und Feuergespucke" - die zweite Geschichte war exklusiv im "Drachen Eujeujeu" zu lesen und sonst nirgends zu finden - noch nicht mal hier! Erst jetzt - zu Weihnachten 2022 - dürft ihr sie auch hier lesen!

Warum der kleine Feuerdrache versteinert ist...

Schaut euch das »Krokodil« im Felsenmeer einmal genau an! Erkennt ihr, was es in Wahrheit darstellt? Einen Drachen!

In Wahrheit ist es allerdings kein echter Drache, dazu ist er viel zu klein.
Es handelt sich um ein Abbild von Lakrimeo zu Wüstenbrand, der einst für die alte Hutzel im Zauberwald die Kristalltränen weinte. Diese benötigte sie um daraus die Zukunft der Wesen im Zauberwald zu lesen. Denn immer am Heiligen Abend, der auch schon vor sagenhaften Zeiten hier von allen Zauberwaldbewohnern gefeiert wurde, immer am Heiligen Abend gleich nach dem gemeinsamen Essen holte die alte Hutzel ihre Alabasterschale hervor, in der sie die kostbaren Kristalltränen der Drachen aufbewahrte. Daraus las sie einem jeden Wesen die Zukunft des kommenden Jahres: den Kobolden, den Elfen, den Zwergen, dem Waldschrat, der Eule Schuhuuu und der Schneckenpost von Huiiiii und Husch. Auch die Eichhörnchen, die Buchfinken und die Regenwürmer bekamen zu hören, was ihnen bevorstand.

Doch die Kristalltränen wurden immer seltener, denn die Drachen wurden immer übermütiger. Fröhlich spuckten sie Feuer, schlugen in der Luft Purzelbäume und ließen den einen oder anderen Berg in Stücke zerstieben. Das Weinen von Kristalltränen aber ist eine ernste Angelegenheit, zu der man sämtliche Konzentration zusammen nehmen mußte.

Schließlich hatte die alte Hutzel nur noch sieben Kristalltränen in ihrer Schale, und es waren noch acht Zauberwaldbewohner ohne Zukunft übrig. Da nahm die alte Hutzel den rubinroten Lakrimeo zu Wüstenbrand zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Niemand vom Kleinen Volk konnte hören, was es war, aber Lakrimeo wurde sehr nachdenklich. Still und schweigsam verkroch er sich in seiner Höhle und kam erst zum Mitternachtsimbiß wieder heraus. Rot waren seine Augen und aus den Nüstern kam nur ein klägliches Wölkchen aus Rauch. Aber Lakrimeo hatte das allernetteste Drachenlächeln aufgesetzt, zu dem ein Drache nur fähig war - denn er war glücklich: er überreichte der alten Hutzel die achte Kristallträne, ohne daß das Kleine Volk etwas bemerkte.

Und so konnte die alte Hutzel einem jedem von ihnen die nächste Zukunft voraussagen, und kaum war alles ausgesprochen, da zerstoben die acht Kristalltränen zu buntem Staub. Aber als die Kobolde, die Zwerge, die Elfen und der Waldschrat am Weihnachtstag durch den Zauberwald streiften, da war etwas Neues zu entdecken: mitten im Felsenmeer war ein steinernes Bild von Lakrimeo entstanden - nur viel kleiner.

Alle staunten, und auch die albernen Drachen, die nur Unfug trieben, kamen vorbeigeflattert und schauten sich das steinerne Bild von Lakrimeo an. Nun wollte ein jeder ein solches wunderschönes Steinbild von sich haben, die Drachen übten die akrobatischsten Posen und umschwänzelten die alte Hutzel drei Tage lang. Doch die wichtige Aufgabe des Kristalltränen Weinens durfte fortan nur Lakrimeo übernehmen, und jeden Abend brachte er der alten Hutzel treu und zuverlässig eine neue vorbei. Das steinerne Bild des rubinroten Feuerschweifs Lakrimeo aber steht noch bis zum heutigen Tag im Felsenmeer, auch wenn es in den vielen Tausenden von Jahren inzwischen grau geworden ist. Aber das ist auch Lakrimeo geworten: alt und grau, und noch immer weint er jeden Abend eine neue Kristallträne - und ist dabei doch der glücklichste Drachen des Zauberwaldes.

Marieta Hiller, Dezember 2015

Der Osterdrache vom Felsenmeer: neue Geschichte!

Es trug sich aber vor vielen vielen Jahrhunderten zu - mitten im Felsenmeer - wo eine alte Eiche stand. Viel hatte die Eiche schon gesehen in ihrem Leben, und viel könnte sie uns heute erzählen - wenn es sie noch gäbe... Doch ach, schon lange steht sie nicht mehr. Selbst die Großmutter konnte sich nur noch ganz schwach an Frühlingstage der Kinderzeit erinnern, als das Sonnenlicht zwischen den grünen Blättern flirrend umherirrte.

Stünde sie noch, so könnte die Eiche uns diese Geschichte selbst erzählen. So aber muß ich ein bißchen aushelfen. Längst sprießen schon wieder viele kleine Eichen an ihrem Ort, doch die sind des Erzählens noch nicht so mächtig, und ich bin nicht sicher, ob ihr alle die Eichen-Babysprache verstehen könnt!
Nun denn, so will ich mit der Geschichte beginnen: einst, vor vielen vielen Jahrhunderten - das sagte ich ja bereits - trug es sich zu, daß ein junger Drache aus seinem Ei schlüpfte, gerade als der Ostermond voll wurde.

Ihr müßt wissen, daß Drachen in den allermeisten Fällen zum Ostervollmond schlüpfen. Jedenfalls taten sie das in früheren Zeiten. Heutigentags schlüpft kein Drache mehr, nicht zum Ostervollmond und auch nicht in anderen Nächten, und schon gar nicht am hellichten Tag! Und das kam so: unser Drache, nennen wir ihn Estra, denn er war ein Mädchen, und Estra bedeutet Ostern. Unsere Estra also war emsig beschäftigt, die Eierschale aufzubrechen und sich Stück für Stück herauszuarbeiten. Gerade als sie ihren linken Flügel ausstreckte, damit die Falten sich glätten sollten, da drang ein übles Geschimpfe an ihr Ohr:

„Du stacheliges Vieh, schon wieder hast du mich überlistet! Na warte!“ Und als Estra ihren schuppigen Hals hinter den Felsen hervorstreckte, da sah sie unten auf der Wiese einen erbosten Hasen, der fäusteschwingend auf einen Igel einschimpfte.
Der Igel aber lachte den Hasen aus.

Dann stapfte der Hase davon, hocherhobenen Hauptes, bog um die nächste steinerne Ecke und ward für ein paar Tage nicht gesehen. Doch kaum war der Mond vom Nachthimmel verschluckt und kam schon als sich rundender Mond wieder, da tauchte der Hase wieder auf.

Estra reckte verwundert den Hals, denn er kam nicht allein. Hatte er am Ende vom Igel gelernt, wie man zu zweit eine Aufgabe zu seinem Vorteil erledigen konnte? Doch nein, nicht zu zweit kam der Hase! Sieben junge Häschen hoppelten hinter ihm her! Das gefiel dem Igel und seiner Frau natürlich überhaupt nicht, denn die kleinen Häschen sahen zwar niedlich aus, waren aber auch verdammt schnell. Und nachdem sich der Igel und seine Frau fünfmal zur Vollmondzeit abgehetzt hatten, um als erster am Ziel zu sein, wie die Wette galt, da wurde es dem Igel zu bunt.

„Du dämliches Langohr - du schummelst ja!“ Doch da hatten die sieben jungen Hasen ihrerseits schon sieben mal sieben kleine Häschen dabei, und dem Igel wurde angst und bang.
Da half keine List mehr, die Hasen waren einfach in der Überzahl. Wurde einer mal müde vom schnellen Laufen, schwupps so sprang schon der nächste ein. Auf diese Weise haben übrigens die Hasen einst den Staffellauf erfunden, der heute eine olympische Disziplin ist.

Dem Igel taten die Füße weh, und seine Frau lag ihm in den Ohren: „ich kann nicht ständig wegen deiner blöden Wette draußen rumlaufen, da ist auch noch die Küche, und die Wäsche, und die Kinder, und weißt du wann ich das letzte Mal shoppen war?!“ Da erdachte sich der Igel abermals eine List, aber es war keine nette! Er nahm seine Stacheln ab und steckte sie in die Ackerfurche, gerade dort, wo Familie Hase emsig mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war. Bald schon hörte man die ersten Schmerzensrufe, als das eine oder andere Häschen einen Stachel in der Pfote hatte. Und schon waren alle sieben mal sieben plus Chefhase mit Stacheln lahmgelegt.

Der Igel rieb sich die Hände und sprach zu seiner Frau: „du kannst dir Zeit lassen, aber tu mir den Gefallen und geh noch ein einziges Mal ans Ende der Furche, tu es weil du mein treusorgendes Weib bist.“ Da ließ sich die Igelin erweichen und stapfte zum Ende der Furche, wo sie ihren langgeübten Spruch aufsagte: „ich bin schon da!“

Woraufhin - der Ostervollmond jährte sich - ein ohrenbetäubendes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter anhob. Sieben mal Sieben plus ein Hase hatten ein ganz ansehnliches Repertoire an Schimpfwörtern, ihr glaubt es nicht! Und diese Schimpfkanonade ging nun auf Familie Igel nieder, und dabei blieb es nicht: schon flogen die ersten Hasenköttel Richtung Igelhausen, und Igelstachel wurden aus Armbrüsten gen Hasendorf geschossen.

All dies betrachtete sich Estra ungläubig, denn sie war ja noch jung. So ein Drache ist sieben mal sieben plus ein Jahrhundert ein Kleinkind, das die Welt aus großen Augen bestaunt, und es dauert meist weitere sieben mal sieben plus ein Jahrhundert, bis sie ins Grundschulalter kommen und die einfachsten Dinge der Welt begreifen. Vielleicht sind Drachen aus diesem Grunde einfach zu langsam für unsere schnelle Welt.

Doch Estra, so jung sie auch noch war, begriff eines ganz klar: dort entbrannte ein Krieg, und Krieg war nicht gut.
Denn die Weisheit wird den Drachen in die Wiege gelegt, und schon als Babydrachen sind sie fähig, salomonisch kluge Sprüche zu tun.
Und deshalb beschloß Estra, diesen Krieg zu beenden. Sie verkroch sich in ihr Drachenei, weinte ein paar große salzige Drachentränen, die sogleich tief in die Erde sanken, wo sie zu funkelnden Kristallen wurden.

Aus ihrem Ei heraus grollte Estra heraus: „ihr streitendes Wiesenpack! Ihr seid schuld, daß ich weinen muß! Deshalb bleibe ich jetzt hier in meinem Ei, bis die Welt ein friedlicher Ort geworden ist, und niemand, nicht Hase, nicht Igel und nicht Mensch (was Estra eigentlich mit uns Menschen hatte, weiß ich nicht...) soll mich vorher wieder zu Gesicht bekommen!
Ihr beiden aber, ihr sollt verwunschen sein, bis ihr Frieden schließt: dir Igel und deiner Frau sollen die Beine krumm und kurz werden, so daß du mühsam deinen dicken Bauch über den Boden schieben mußt. Und du Hase sollst voller Furcht leben, dich ständig umschauen und auf der Flucht sein, und auch die Deinen!“

Nach dieser langen Rede schlief Estra erschöpft in ihrem Ei ein, und dort ruht sie noch heute, und wir dürfen sie nicht wecken.

Diese Geschichte habe ich am Ostervollmond 2013 zum ersten Mal erzählt und zu Ostern 2016 ein bißchen umgeschrieben, denn natürlich gibt es sowohl auf der Burg in Lindenfels als auch im Felsenmeer Drachen, und einer von den Drachen im Felsenmeer heißt sicherlich auch Estra... Ich werde Kobold Kieselbart bei Gelegenheit danach fragen, versprochen! Marieta Hiller