Ein Klimaumschwung könnte die Neandertaler gezwungen haben, zu Kannibalen zu werden. In der Eem-Warmzeit (vor etwa 126.000 bis 115.000 Jahren) breiteten sich Wälder aus, wo vorher Grasland war, die Jagd auf Beutetiere wurde unmöglich.
Zuvor, in der Altsteinzeit, hielt der Mensch sich junge Wölfe als Wächter und Jagdhelfer - aufessen ging leider nicht, denn Wölfe fressen mehr als sie liefern und wurden so über viele Generationen schließlich zum Hund. Der machte sich nützlich: um 8000 v.Chr. begann der Mensch Ziegen und Schafe zu halten, später auch Schweine und Rinder, die bewacht werden mußten. Alle heutigen Rinder in Europa und Nahost stammen von einer einzigen Herde im fruchtbaren Halbmond ab. Durch Zähmung und Zucht schrumpfte deren Gehirn um ein Viertel, die Sinne wurden weniger scharf. Und die Viehzucht förderte das Bevölkerungswachstum: die Frauen der Jäger und Sammler wurden erst erneut schwanger wenn das Kind selbst mitwandern konnte, mit 4 Jahren. Seßhafte Frauen wurden alle 2 Jahre schwanger.
Jäger und Sammler dagegen ernährten sich von Fleisch, Obst und Nüssen. Resistenz gegen Seuchen aber konnte nur entwickeln, wer Vieh hielt.
Und Bauern können dem gleichen Stück Land bis zu 100x mehr Erzeugnisse abringen als Jäger und Sammler.
Übrigens wurde die Landwirtschaft unabhängig voneinander an acht Orten der Welt erfunden, zwischen 9000 v.Chr. im fruchtbaren Halbmond und 3000 v. Chr in Zentralafrika. Sie verbreitete sich mit einem Kilometer pro Jahr weiter, verstärkt durch eine kühle trockene Phase um 6000 v. Chr, die zur Wanderung zwang: vor 11.500 Jahren gab es innerhalb eines Menschenlebens (= 40 Jahre) eine Klimaerwärmung von durchschnittlich 6 Grad.
Um ca. 3000 v. Chr wird durch Genmutation Milchzucker für Erwachsene verträglich, der erste Hinweis auf Milchernährung ist jedoch noch viel älter. Man fandeine Scherbe mit Milchfett aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. Heute, 5000 Jahre später, wird Laktoseunverträglichkeit häufiger - oder wurde bislang nur nichts über die Häufigkeit vermerkt?
Dem ausgestorbenen Auerochsen sehr ähnlich: in Lauresham gezüchtete Rinderrasse
Auf 11.000 Generationen Nomaden (Jäger und Sammler) folgen nur 100 Generationen der neolithischen Revolution, wie die Erfindung der Landwirtschaft auch genannt wird. Weitere 100 Generationen später leben wir.
Wir hätten also noch sehr viel Zeit, um uns auf die Seßhaftigkeit einzustellen, und die Unverträglichkeiten der heutigen Zeit sind "Kinderkrankheiten". Vielleicht ist aber auch Fleisch und Milch von gezähmten (= degenerierten) Tieren schlechter verträglich als das von wild lebenden? Oder vielleicht treten immer mehr Unverträglichkeiten und Krankheiten auf, seit die Ernährung von Fleisch in Richtung Vegetarisch / Vegan tendiert (fehlender "Stallgeruch")? Noch ein Gedanke könnte sein: als Generation zählen 25 Jahre, die Lebenserwartung steigt jedoch. So müssen immer mehr Menschen gleichzeitig ernährt werden. Aber die Kriege der letzten Jahrhunderte haben mehr Menschenleben gefordert als Hunger und Krankheit.
So sah es wohl auf einem Karolingischen Herrenhof um 800 n. Chr. aus: Freilichtmuseum Lauresham
Hier jetzt noch ein kleiner Ausflug zum Thema Arbeit:
die Seßhaftwerdung brachte die Notwendigkeit der regelmäßigen Arbeit mit sich. Wer im Frühjahr nicht sät, leidet ein Jahr lang Not.
Heute fahren Traktoren stolz mit dem Spruch "Landwirt: der wichtigste Beruf der Welt - wir machen euch alle satt!" herum, aber immer mehr Landwirte leiden unter Burnout-Syndrom. Obwohl der tägliche Umgang mit Vieh und Erde gesund erhält, machen hohe Belastung und niedrige Wertschätzung krank.
Denn unsere Gesellschaft hat eine perfide Eigenschaft: sie teilt sich auf in überbezahlte administrativ-verwaltende (schwarzer Schimmel, ich weiß) und unterbezahlte betreuend Tätige. Dazwischen versuchen die Produzierenden zu überleben.
Ein wunderbarer Lesetipp dazu: "Bullshit Jobs - vom wahren Sinn der Arbeit". David Gräber beschreibt darin anhand von Beispielen, warum sich Manager, Banker, Vorstände und Aufsichtsräte bei überdurchschnittlicher Bezahlung schlecht fühlen. Auf der anderen Seite gibt es die Pflegeberufe, die Bildungsberufe, die Landwirtschaft: durchweg unterbezahlt und unterbewertet. Je mehr eine Arbeit anderen nützt, desto schlechter wird sie bezahlt. Gräber stellt einen direkten Zusammenhang her zwischen Altruismus / Egoismus und Arbeitslohn.
Er führt als illustrierendes Beispiel eine Petition aus dem Jahre 1837 an, als in Massachusetts ein Gremium von Geschäftsleuten eine Transport-Gesellschaft mit begrenzter Haftung gründen wollte. Reisende Handwerksgesellen klagten dagegen: "sie freuten sich als reisende Gesellen, ihre eigenen Herren zu seien, und sie wollen den von ihnen geschaffenen Wert nicht anderen überlassen. Gesellschaften legen Mittel in die Hände unerfahrener Kapitalisten, mit denen sie uns die Profite unserer Kunst wegnehmen, die zu erwerben uns jahrelange Arbeit gekostet hat..." (Anm. 44, S. 451). Aber es kam anders: über die ehrliche Arbeit siegten Kapitalgesellschaften und Management.
Da bleibt uns doch nur, mit Stolz weiter daran zu arbeiten, daß es anderen besser geht. Wenn der Landwirt uns nicht satt machen würde, wenn die rumänische Pflegekraft uns nicht den ganzen Tag umsorgen würde, wenn Lehrende sich einen feuchten Dreck um unsere Bildung scheren würden, dann würde es irgendwann auch keine "Telefondesinfizierer"* mehr geben. So, wie es heute keine Landwirtschaft gäbe, wenn nicht irgendjemand irgenwann auf die Idee gekommen wäre, statt unverdaulichem Gras (ich weiß, das muß 'statt unverdaulichen Grases' heißen) die schmackhafte Ziege zu essen.
* "Filmproduzenten, Telefondesinfizierer, Frisöre, Unternehmensberater und Versicherungsvertreter" gehören laut 'Anhalter' (siehe Lesetipp) zum als überflüssig erachteten Drittel der Bevölkerung von Golgafrincham, das kurzerhand auf der Erde entsorgt wurde. Und dort haben wir sie jetzt...
Marieta Hiller, Oktober 2019
Info dazu:
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Youtube Videoreihe "Landwirtschaft damals" vom Bundesinformationszentrum Landwirtschaft
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GEO Epoche 'Steinzeit'
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David Gräber, Bullshit Jobs - vom wahren Sinn der Arbeit, 2018 ISBN 978-3-608-98108-7
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Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis - fünfbändige Trilogie 1981-1993
1. Anhalter ISBN 3-453-14697-2
2. Das Restaurant am Ende des Universums ISBN 3-453-14698-0
3. Das Leben, das Universum und der ganze Rest ISBN 3-453-14605-0
4. Macht’s gut, und danke für den Fisch ISBN 3-453-14606-9
5. Einmal Rupert und zurück ISBN 3-453-08230-3
plus Nr. 6 post mortem 2009: "Und übrigens noch was" ISBN 978-3-453-26640-7