Der Schnee des letzten Winters (2013) hat alle geschafft. Wer hätte in Zeiten der Klimaerwärmung mit einem solchen Bilderbuchschnee gerechnet, wie ihn manch einer nur noch aus dem Märchen kennt?
Doch welche Lasten bürdete uns dieser Winter auf: eingestürzte Dächer, Staus und Unfälle, der Müll wurde nicht mehr abgeholt, das Streusalz ging vorzeitig zur Neige, wir fühlten uns eingeschränkt in unserer freien Beweglichkeit, mußten stundenlang Schnee schaufeln - kurz: alles war schrecklich.
Doch wer denkt bei all dieser Unbill daran, wie sich wohl die Menschen in früheren Zeiten gefühlt haben müssen, wenn die weißen Flocken vom Himmel rieselten?
Kein Streuauto kam und schob den Schnee von der Straße - ja, es gab noch nicht einmal eine Straße! Keine Zentralheizung sorgte für wohlige Wärme, wenn man von draußen hereinkam und die klammen Finger auftauen sollten. Kein Supermarkt um die Ecke, der notfalls zu Fuß erreichbar war, wenn das Auto nicht ansprang...
Die gute alte Zeit, in unseren Augen oft so verklärt als etwas Romantisches, unwiederbringlich Verlorenes - kaum einer würde wirklich damals leben wollen.
Die Vorratshaltung war darauf eingestellt, daß die Hausgemeinschaft damit mehrere Wochen auskommen konnte. Das hieß aber auch: keine Erdbeeren im Dezember, keinen Gurkensalat und keinen Vanillepudding - es gab Eintöpfe aus eingekellerten Rüben und Kartoffeln, Sauerkraut oder Bohnen aus dem Salzfaß, die Früchte des Sommers standen in Weckgläsern im Regal und ließen als Kompott längst vergangene warme Tage erinnern. In reichen Häusern hingen geräucherte Würste und Schinken in der Kammer, doch in den meisten Dörfern auf dem Lande war der Schmalztopf der Hauptlieferant tierischen Kraftstoffes.
Warm hatte man es nur, wenn man im Sommer und Herbst gut vorgesorgt hatte: meterhohe Holzstöße mußten sich bei Wintereinbruch vor dem Haus stapeln, mit Spinnen so groß wie Untertassen darin...
Übrigens Spinnen: die Wohnhäuser der damaligen Zeit teilte man mit allerlei Getier, das Schutz vor der Kälte suchte. Durch große und kleine Schlupflöcher krochen sie herein, die Mäuse, Spinnen, Käfer. Gemeinsam lebte man warm und gemütlich, und so manch einer schaute lieber nicht allzu genau in die dunklen Winkel im Keller...
Denn die Häuser waren nicht so dicht und sauber wie heute. Aus Holz, Feldstein oder Fachwerk gebaut, mit einem Dach aus Stroh oder Ziegeln, ließ es überall Botschaften der Draußenwelt herein: Kälte, Nässe, Getier. Daher war zu jenen Zeiten auch der Frühjahrsputz ein besonders wichtiger Tag im Jahr.
Schlug man morgens die Augen auf, glitzerte und funkelte es von der Decke: der gefrorene Tau begrüßte die Menschen, die in aller Frühe ihr warmes Bett verlassen mußten. Hinein in die klammen Kleider - nicht selten durften sie deshalb nachts mit unter die Decke!
Es war noch dunkel, und elektrisches Licht gab es nicht. Das kam in die abgelegenen Dörfer erst vor etwa achtzig, neunzig Jahren. Also tappte man im Dunkeln durchs Haus, das Dach ächzte unter der Schneelast, vor den winzigen Fenstern türmte sich der Schnee, und die Scheiben waren von Eisblumen überwuchert.
Hinaus aufs Örtchen - der erste Gang des Morgens, doch ach: die Haustüre auf und herein brachen die weißen Massen. So hieß es zuallererst einmal, einen schmalen Pfad durch den Schnee zum Örtchen über den Hof zu schaufeln. Kalt war es dann nicht mehr...
Eisig überkrustet alles, was man berührte, hui - nichts wie zurück in die warme Stube. Doch je, die mußte zuerst noch geheizt werden! Also wieder hinaus, einen großen Korb Feuerholz (und Spinnen) hereingeschleppt, den Ofen geputzt und dann mit Spänen („Schliwwer“) und - so vorhanden - Papier ein Feuerchen zum Leben erweckt. Ein Scheit daraufgelegt, und siehe da: schon nach zwanzig Minuten wurde es endlich gemütlich warm in der Stube.
Nur in der Stube wohlgemerkt. Es gab die Stube - zugleich Küche, Waschraum und Lebensmittelpunkt der Bewohner, und es gab die gute Stube. Die aber blieb kalt und verschlossen. Dort standen die guten Möbel, die nicht einstauben sollten, und man öffnete sie nur zum Sonntagskaffee, wenn Besuch kam oder wenn ein Feiertag anstand.
In der Küche wummert inzwischen der Herd, die Socken vom Vortag trocknen darüber, einträchtig neben gewaschenen Hemden und dem Handtuch der Familie.
Im Schiff, dem Wasserbehälter des Herdes, siedet das Wasser für die morgendliche Katzenwäsche und für den Kaffee. In einem großen Topf am Rand des Herdes bekommt die Suppe der Woche allmählich Temperatur, und der glasige Quark ist bereit, sich zu Kochkäs rühren zu lassen.
Frische Brötchen aus der Bäckerei um die Ecke? Pustekuchen! Haferbrei gab es zum Frühstück, wer Glück hatte bekam Kompott dazu.
Und dann hinaus in den Schnee! Schlittenfahren, Schneeballschlacht, Schneemann bauen!
Doch kein wasser- und winddichter Schneeanzug, keine Matschhose und Moonboots schützten die kleinen Schneebegeisterten. Streng gebot die Hausfrau über die Kleiderordnung. Da mußten zuerst nach dem Muster der Zwiebel ein kratziges Hemd, zwei bis drei noch kratzigere Wollpullover und ebenso kratzige dicke Socken, mehrere übereinander, angezogen werden. Bis die vielen Schichten endlich angezogen waren, schwitzten die Kinder schon ordentlich. Doch dann ging es hinaus in den Schnee. Eine Schlitterbahn wurde angelegt, besonderes Glück hatte, wer von seinem Vater einen selbstgebauten Holzschlitten bekommen hatte. Auch Schier gab es, hölzern und grob. Und auf dem Dorfteich hatte man seinen Spaß. Gefährlich? Na ja, die Eltern mußten ja nicht alles erfahren...
Zu Mittag kam man dann durchnäßt aber glücklich ins Haus, wo man von einer ungehaltenen Hausfrau aus den Zwiebelschichten geschält wurde, die dann am Herd getrocknet wurden und so gemeinsam mit der ganzen Familie Mittagstisch hielten.
Schule, ach richtig, da war ja auch noch die Schule: die fiel natürlich aus, wenn es so richtig geschneit hatte. Dafür kam zu Mittag der Lehrer, denn er hatte Wandeltisch. Jeden Mittag war er zu Gast in einer anderen Familie seiner Schüler. Und so hatte man nicht einmal an den Schneetagen Ruhe vor ihm.
Was taten eigentlich die Erwachsenen, wenn man so eingeschneit in einem abgelegenen Dorf wohnte?
Werkzeuge und Ackergeräte reparieren, Kleidung flicken und neue Strümpfe stricken, hoffen daß das Dach hält und das Holz reicht, Geschichten erzählen. Der Haushalt in damaliger Zeit war nicht mit einer halben Stunde Aufräumen am Tag erledigt, das war richtig viel Arbeit, und so waren die Großen bei Einbruch der Dunkelheit rechtschaffen müde. Die Kinder natürlich auch, waren sie doch den ganzen Tag draußen im Schnee! Sie wurden bald ins warme Bett gepackt, nicht ohne daß ihnen zuvor die Oma noch ein Märchen erzählt hatte; die Erwachsenen saßen dann noch ein bißchen am Herd beisammen, bei einem Kienspan oder Petroleumlicht. Stinköl-Lampen nannte man die im Odenwald. Vielleicht kamen die Nachbarn noch auf ein Schwätzchen herüber, doch bald schon hieß es „Gut Nacht“, und früh senkte sich die Stille über die verschneiten Häuser.
Marieta Hiller, Dezember 2014