Die Gründerzeit um die vorletzte Jahrhundertwende herum: was für eine euphorische Zeit, als alles im Aufschwung war, als es noch Entdeckungen (hic sunt dracones!) zu machen gab, als neue Technologien noch sichtbar, hörbar, fühlbar und riechbar waren! Dampfeisenbahn, Unterseekabel für Telegrafie, große Fabrikationsanlagen, mechanische Wunderwerke! Wieviel schöner ist es, Technologie anfassen zu können, sie mit allen Sinnen zu erleben, als vor einer Kiste voller Elektronik zu sitzen, unsinnige Zeichenkombinationen hineinzuhacken und völlig abstrakte Ergebnisse herauszubekommen.
Zwei Welten prallen hier aufeinander, erbarmungslos
Elektrischer Strom kann zwar eine saubere Energie sein, aber ihn erleben möchte man lieber nicht am eigenen Leib - eine Gefahr, die man nicht sehen kann... Moderne Elektronik, Nanopartikel, Cloud-Datenspeicher, Alexa, Autofokus, vernetzte Haustechnik - das ist uns so unheimlich wie es einst schon Ray Bradbury empfand. Was er als Science Fiktion erdachte, ist heute Wirklichkeit, aber wir fühlen uns unbehaglich darin. Völlig unverständliche Vorgänge sind dadurch so selbstverständlich, daß wir sie nicht wahrnehmen, nicht „begreifen“ und nachvollziehen können. Als wieviel schöner empfinden wir es, wenn eine Maschine rattert, dampft und ächzt und gelegentlich nach einem Tropfen Öl verlangt! Sie wirkt lebendig, bringt nicht nur Resultate, sondern führt ein Eigenleben, das unsere Aufmerksamkeit braucht. Wir müssen sie wahrnehmen und pflegen, damit sie funktioniert.
Industrie 4.0 - nein Danke!
Und so setzt Steampunk ein entschiedenes Gegengewicht zu Industrie 4.0, eine Weiterentwicklung nicht zurück in die Zukunft, sondern vorwärts in das längst vergangene glorreiche Erfinderzeitalter. Steampunk bezeichnet eine Mode, bei der man sich kleidet wie im viktorianischen Zeitalter, so eben wie das Personal in all den heißgeliebten Jules-Verne-Romanen herumläuft. Dazu sind Accessoires wie komplizierte Brillengestelle mit verstellbaren Linsen und unzähligen Stellschrauben, Dampfarmbanduhren, mechanische Raddeldaddelchen hier und da, Nonsensmeßgeräte und Zahnrädchen, Pleuelstängelchen, Greifzangen und viel verschnalltes und verschnürtes Leder unbedingt erforderlich. Nichts davon funktioniert elektrisch oder elektronisch, denn es heißt ja STEAMpunk. Ein bißchen erinnert das an die Anderswelt-Trilogie „der goldene Kompaß“ von Philipp Pullman, wo das Exotischste, was sich die Figuren vorstellen konnten, anbarische Energie war, also drucklose Energie, sprich elektrischer Strom.
Alltagsleben als Steampunk - nein Danke!
Aber natürlich ist die Steampunk-Subkultur eklektizistisch, das heißt sie wählt nur das aus, was ihr genehm ist. Sterben an einer Blindarmentzündung, wochenlanges Warten auf ein Telegramm, Bibliographieren!!!...
(so ging Google und Wikipedia vor 40 Jahren: man ging an einen Bibliothekskatalog, ein gigantisches Werk aus Karteikästen, und suchte sich mühselig die gewünschten Informationen aus hunderten von Querverweisen zusammen, um dann vier Wochen auf das gewünschte Druckwerk zu warten bis es über Fernleihe beschafft war..., und man lief immer Gefahr, genau das eine Druckwerk übersehen zu haben, das die aktuellste Information enthielt!)
..., Reisen mit Pferdekutsche auf unbefestigten Straßen, Sechstage-Arbeitswoche und Kinderarbeit - nein, diese Dinge wollen Steampunker heutzutage nicht. Aber fünf Minuten Gedenkzeit bis das „Magische Auge“ im Radio endlich empfangsbereit ist, um dann festzustellen, daß man moderne Sender nicht ohne weiteres reinbekommt, das hat schon was Romantisches... Laßt uns den Brockhaus* wälzen, in einem Almanach** blättern! Mit allerfeinsten Gewichten abmessen, in Skrupel und Gran***, laßt uns den Zerknalltreibling**** anwerfen und eine Spritztour in die Sommerfrische machen! In diesem Sinne: laßt uns das nutzen was uns hilft, und Spaß an dem haben, was uns gefällt. Aber sagt niemals, daß früher alles besser war...
* DER?Brockhaus: das deutsche Universallexikon oder Enzyklopädie genannt, in mehreren schweren Bänden. Erste Vorläufer erschienen im 18. Jahrhundert, später bis 2009 von F. A. Brockhaus bzw. vom Bibliographischen Institut & F. A. Brockhaus AG herausgegeben. Die 21. Auflage erschien 2005, und 2013 verkündete der neue Verleger Bertelsmann, daß die Brockhaus Enzyklopädie nur noch als Onlineausgabe erscheinen soll. Der letzte Herausgeber Wissen Media Verlag schloß sein Buchhandelsgeschäft 2014, die gedruckte Brockhaus Enzyklopädie wurde nicht mehr vertrieben. Und jetzt wollen Sie gerne ein Wort im Online-Brockhaus nachschlagen? Nach ein paar Klicks kommt man zu dieser nützlichen Information:„Tauchen Sie ein in die Welt des Wissens. Zugang zu unseren Produkten erhalten Sie über Bibliotheken, Schulen, Institutionen sowie Unternehmen. Aktuell können wir Ihnen die Brockhaus Online-Enzyklopädie sowie unsere Junior-Nachschlagewerke nicht zum privaten Erwerb anbieten.“ https://brockhaus.de/info/privatpersonen/
** Almanach von lat. almanachus = astronomisches Jahrbuch, arabische Wurzel mana?a: periodische, meist jährlich erscheinende Schrift zu einem bestimmten Thema
*** lat. scrupulus = spitzes Steinchen (was uns ängstliche Zurückhaltung abfordert, denn wer wollte es gern im Schuh haben?) Ein Skrupel wiegt 1/288 lb, 1/24 oz, 20 Gran, 1,25 Gramm (Nürnberger Apothekergewicht), 1,296 Gramm (britisches Apothekergewicht ab 1958)
***Zerknalltreibling = Verbrennungsmotor. Leider geht die Verwendung solcher sogenannter „Starckdeutscher“ Ausdrücke gar nicht, da sie an gewisse Bestrebungen aus dem dritten Reich erinnern, als alles - aber auch wirklich alles deutsch zu sein hatte - in einem Land das zu allen Zeiten ein Schmelztiegel von Menschen aus aller Herren Länder war.
M. Hiller, Januar 2018