Früher war alles besser - das ist bekannt, und es ist nicht richtig. Denn früher haben die Leute gesagt "früher war alles besser" - also noch früher. Und vor diesem früher gab es ein noch früheres früher - bis in die Steinzeit, als früher die Höhlenbilder noch schöner waren und die Säbelzahntiger noch echte Säbelzahntiger.
Mit der Steinzeit sind Sie dann dort angekommen, wo Sie auch mit einem anderen Problem bald ankommen werden: mit der kulturellen Aneignung.
Aber wir fangen in der Jetztzeit an, beim modernen Menschen, und begrenzen das Ganze auf Deutschland. Deutschland heute: 84 Millionen Einwohner (m/w/d).
DIE deutsche Kultur - was ist das?
Gibt es nicht. Es gibt unzählige kulturelle Ausprägungen bei diesen 84 Millionen, aber sie alle leben unter dem gemeinsamen Dach Deutschland. Welches Deutschland ist gemeint? Ist Soljanka und Broiler kulturelle Aneignung, wenn es von Wessies bestellt wird? Und dürfen Ossis kapitalistisch sein? Diese Frage kann man sich seit 34 Jahren stellen, wenn man unbedingt will. 34 Jahre - gehen wir weiter zurück: dürfen Bayern militaristisch sein und Preußen royalistisch? Dürfen Sachsen katholisch sein und Rheinländer lutherisch-reformiert?
- Dürfen heutige Menschen Fußbodenheizung nutzen? Die haben die alten Römer erfunden - kulturelle Aneignung! Unsere Schrift: lateinisch - unsere Zahlen - arabisch!
- Das Zigeunerschnitzel ist schon seit Jahren unten durch, aber was ist mit Serbischer Bohnensuppe? Die wäre politisch nicht einwandfrei!
- Kaffee to go? Und dürfen Amerikaner "kindergarden" oder Franzosen "le waldsterben" sagen? Dürfen wir Hawaitoast essen?
- Dürfen wir uns in Seide gewanden (wächst in China)? Oder Jeans tragen (Baumwolle wächst in Amerika, Indien oder Ägypten)?
- Darf Turandot von einer deutschen Opernsängerin gesungen werden? Dieser Puccini scheint mir ein kultureller Aneigner erster Güte gewesen zu sein: Madame Butterfly (Japan), La Bohème (Frankreich), Turandot (China)...
- Der Jazz kommt übrigens ursprünglich aus Böhmen, aber die Blasmusikinstrumente gefielen den ehemals in Südamerika versklavten schwarzen Menschen so gut, daß sie daraus DAS Kulturgut von New Orleans machten.
Wir müssen woke sein! Das deutsche AWO-Seniorinnenballett* möchte bei der Bundesgartenschau verschiedene Kulturen darstellen, indem die Tänzerinnen in verschiedene Kostüme schlüpfen: ein Aufschrei! Deutsche Künstler als Japanerin, Mexikanerin, Indianerin verkleidet - das geht gar nicht! Wir müssen woke sein!
Hier wird von Menschen, die in ihrem Leben weder Hunger, noch Krieg oder Flucht, noch Unterdrückung erlebt haben, ein moralischer Anspruch erhoben. Von Menschen, deren schlimmste Heimsuchung vermutlich darin besteht, daß sie irgendwann in ihrem Leben mal nicht die erste Geige spielen durften.
Der Begriff Wokeness ist - im Munde deutscher Wohlstandsmenschen - eine kulturelle Aneignung.
Denn der Begriff wurde in den 1930er Jahren im afroamerikanischen Kulturraum geprägt und bedeutet, daß in der Gesellschaft ein Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus wachsen muß. Geprägt wurde der Begriff von Menschen, die direkt unter Unterdrückung zu leiden hatten.
Es fokussiert anders wenn man direkt konfrontiert ist als wenn man bloß drüber spricht.
Viel einfacher ist es dagegen, lauthals "wokeness" herumzublöken, anstatt etwas gegen den Hunger auf der Welt zu unternehmen, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, die Diskriminierung ganzer Ethnien.
Kulturelle Vielfalt setzt Vernetzung voraus: Vernetzung von Künstlern (m/w/d) aus aller Welt. Denken Sie mal nach, wie unser Leben in Deutschland wohl aussähe, wenn wir alle Einflüsse anderer Kulturen ausblenden würden! Wer wären wir denn ohne all diese Kulturen?
Wer nach wokeness blökt, sollte vorsichtig sein: es ist nur ein ganz kleiner Schritt vom Vorwurf der kulturellen Aneignung bis zur "entarteten Kunst".
Es grüßt aus der Wohlstandsblase - Ihre Nudelholzwoman!
*DPA-Meldung im Darmstädter Echo vom 18. April 2023