Ganz früh im Jahr: schon kommen die ersten Brennesselblättchen aus dem Boden, Schafgarbe, Wiesenstorchschnabel, Ehrenpreis und Sauerampfer, Löwenzahn und Scharbockskraut zeigen sich.

Vieles, was als „Unkraut“ zwischen Trittsteinen hervorlugt, erweist sich als Heilkraut: das gelb blühende Scharbockskraut, eines der frühesten Blühkräuter, ist sehr vitamin-C-haltig. Die grünen Blätter sind vor der Blüte eßbar, also Ende Januar, Anfang Februar. Zu dieser Zeit war früher kaum an Vitamin C zu kommen, denn es gab nur Eingekochtes.

Nimmt man die letzten Feldsalatherzen und ergänzt sie um eine frische Zwiebel, ein paar Gänseblümchenblätter und Scharbockskraut, erhält man zusammen mit gutem Olivenöl und Essig oder Zitronensaft eine Vitamin-C-Bombe.

Die ersten Löwenzahnknospen schmecken leicht bitter und regen die Verdauung an. Mit Wiesenlabkraut, Spitzwegerich, Wiesenkerbel oder wilder Möhre (Vorsicht, leicht mit Schierling zu verwechseln!), weißer Taubnessel und rotem Wiesenklee kann man den Speisezettel würzig und gesund aufpeppen. Doch nicht zur geschmacklich sind frische Frühjahrs-“Unkräuter“ sehr lecker, sie haben oft auch Heilkräfte, die in der Volksmedizin noch bekannt sind.

Ein ganz besonderes Fachwissen um die Heilkraft der Pflanzen sammelte die Benediktinerin Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert. Noch heute gibt es viele, die ihren Empfehlungen folgen. In ihrer Physica beschreibt Hildegard 257 Pflanzen, etwa die Hälfte davon war in ihrer Umgebung einheimisch, andere wurden als Nutzpflanzen oder in Heilpflanzengärten angebaut.

In vielen Urteilen liegt Hildegard falsch nach heutigem Kenntnisstand, so schreibt sie dem Wermut (Artemisia absinthium) meisterliche Kraft gegen alle Erschöpfungen zu. Aber die Pflanze enthält viel Thujon, einen Giftstoff der in alkoholischem Auszug - als Absinth - zu geistigem und körperlichem Verfall führte. Dem Pastinak, einem wundervollen Wintergemüse, schreibt sie weder Heil- noch Schadenswirkung zu, „aber gegessen füllt er den Bauch“. Dabei läßt er sich - wie wir heute wissen - gegen Blähungen, Fieber, Magenschmerzen oder Schlaflosigkeit einsetzen. Maiglöckchen wiederum empfiehlt Hildegard bei Epilepsie, obwohl die Pflanze stark giftig ist. Wollte sie vielleicht dem Veitstanz, wie die Krankheit im Volksmund hieß, so ein Ende machen?

Zum Dost schrieb sie: „aber wer die rote Lepra hat, der nehme den Saft von Dost. Und wenn er das oft tut, wird er ohne Zweifel gesund werden, wenn es nicht sein Tod ist, oder wenn Gott ihn nicht heilen will“. Das erinnert doch stark an das „Batts nix do schads nix, schads nix do batts nix“ des Bitsche-Nickel aus Knoden (Knodener Kunst). Andererseits kennt man heute den Placebo-Effekt, der völlig ohne wirksame Inhaltsstoffe allein durch das Dran-Glauben des Patienten hilft. Ähnliches läßt sich beim Himmelsschlüssel vermuten: „die Schlüsselblume hat ihre ganze Grünkraft vom Scheitelstand der Sonne. Daher unterdrückt es die Melancholie im Menschen, und die Luftgeister werden aufhören diesen Menschen zu plagen.“ Ganz klar: der erste Frühlingsgruß von der Wiese stimmt jeden fröhlich, da kann man doch gar nicht anders.

Hildegards Gesundheitsverständnis basiert auf ganz anderen Grundlagen als unsere heutige Medizin: sie setzte an die Stelle der bekannten vier Säfte des Dr. Galenus (Schleim, Blut, schwarze und gelbe Galle) ihre eigene Lehre; vier Grundqualitäten hat der Schleim: er kann trocken oder feucht, warm oder kalt sein. Ihre Heilpflanzen setzte sie so ein, daß sie dem jeweiligen Übergewicht einer der vier Qualitäten entgegenwirkten. „Warme“ Pflanzen helfen bei zu kaltem Schleim, „feuchte“ Pflanzen bei zu trockenem Schleim. Gut erkannt hat Hildegard dagegen den Zusammenhang von Körper, Geist und Seele in einem visionären Ausmaß: der Mensch braucht die richtige Einstellung zu Gott, damit sich sein Körper heilen läßt.

Als Kind war Hildegard hellsichtig und hielt sich selbst für verrückt. So konnte sie - ohne es zu wissen - das Kalb in einer Kuh erkennen. Noch heute werden 90 % ihrer Schriften unter Verschluß gehalten. Immer wieder hat sie Visionen, ein Faktum, mit dem die Kirchenoberen schwer umgehen konnten - jedoch wollten sie (speziell Bernhard von Clairvaux) die Äbtissin auch nicht vor den Kopf stoßen.

So bleibt das Leben der Hildegard rätselhaft... M. Hiller