In den letzten Tagen des Schuljahres haben sich die Schüler*innen der vierten Klasse in Elmshausen mit dem kurzen Leben von Walter Israel auseinandergesetzt. Walter Israel war Lautertals jüngstes Opfer der Nazizeit. Mit nur 17 Jahren wurde der Elmshäuser Bub 1942 deportiert und sehr schnell im Konzentrationslager Lublin auf polnischem Boden durch die SS ermordet.
Die Schulleiterin der Elmshäuser Grundschule, Claudia Sudheimer hatte hierzu eine Unterrichtseinheit mit den Schülern umgesetzt, welche zuvor von jungen Lehrkräften des Studienseminars Heppenheim mit ihrem Seminarleiter Frank Maus erstellt worden war. Sudheimer berichtete: „Unsere Viertklässler haben sich intensiv mit den Erlebnissen von Walter Israel, der als Kind selbst die Elmshäuser Grundschule besucht hatte, beschäftigt. Durch das Unterrichtsmaterial sowie Unterrichtsgänge konnten die Kinder einen Teil der Lebenswirklichkeit von Walter Israel, der in der direkten Nachbarschaft lebte, nachvollziehen. So wurde seine Lebenssituation in Elmshausen sowie der zunehmende Druck auf die jüdische Bevölkerung deutlich herausgearbeitet, bevor schließlich die Deportation und Ermordung des Jungen erfolgte.“
Die pädagogische Fachkraft Jürgen Borgenheimer war ebenfalls prozessbegleitend aktiv, denn einige Schüler sind auch in der Mittagsbetreuung der Grundschule involviert. Borgenheimer hatte bereits in 2022 mit den Schülern die beiden Bäume am Rathausplatz, welche im Gedenken an die Familie Israel gepflanzt wurden, gehegt und gepflegt, um sie vor allem gesund „über den heißen Sommer zu bekommen“. Gemeinsam mit Sudheimer äußert er bewegt: „Es ist immer wieder erstaunlich wie empathisch Kinder auf das Schicksal anderer schauen und welches Feingefühl sie für deren Situation entwickeln. Zum Abschluss der Unterrichtseinheit haben unsere Kinder sogar fiktive Briefe an Walter Israel und überlebende Nachfahren geschrieben, die wir an die Familienbäume am Rathausplatz gehängt und damit veröffentlicht haben“.
Jeder dieser Briefe zeige das Verständnis der Kinder für den Leidensweg der Familie Israel, gleichzeitig formulierten die Kinder Gedanken an eine friedliche, respektvolle Zukunft. „Alle Elmshäuser sind eingeladen, die Briefe zu lesen, denn es geht um unsere gemeinsame Zukunft. Leben und leben lassen braucht die Fähigkeit gemeinsam nachzudenken, was ein Leben in gegenseitigem Respekt braucht – heute und in Zukunft“.
Beitrag: Frank Maus, Rektor als Ausbildungsleiter am Studienseminar GHRF Heppenheim
Fotos: Jürgen Borgenheimer/Frank Maus
Viertklässler der Elmshäuser Grundschule schrieben fiktive Briefe an den ermordeten Jugendlichen Walter Israel und an überlebende Nachfahren der Familie. Die gewählten Worte sind eine Einladung an alle Elmshäuser Bürger, über eine respekterfüllte Zukunft nachzudenken, sind sich die Lehrkräfte sicher.
November 2020 - Am schicksalhaften 9. November geboren: Walter Israel † 10.7.1942 - Lautertals jüngstes NS-Opfer jüdischen Glaubens
Der 9. November steht im Lautertal in einer interessanten doppelten Verbindung zur Reichenbacher Synagogengemeinde, denn es ist jenseits der Pogromnacht, der Geburtstag eines sehr jungen Lautertaler Gemeindemitgliedes jüdischen Glaubens, Walter Israel. Walter wurde am 9.11.1925 im elterlichen Wohnhaus an der Nibelungenstraße zu Elmshausen geboren.
Der 9. November wird aus guten Gründen der „Schicksalstag der Deutschen“ genannt. An diesem Tag gab es eine Fülle historisch relevanter Ereignisse, welche die Bedeutung in positiver wie negativer Weise darlegen. Daher findet an diesem Datum in Lautertal traditionell eine Gedenkveranstaltung statt, welche sich dem vermutlich dunkelsten Datum in der Reihe der 9. Novembertage widmet, der Pogromnacht 1938 – von den Nationalsozialisten beschönigender Weise „Reichskristallnacht“ genannt. In dieser Nacht ließen die NS-Machthaber deutschlandweit Synagogen in Feuer und Rauch aufgehen und legten damit die jahrhundertealte deutsch-jüdische Geschichte über Nacht sprichwörtlich in Schutt und Asche. Die zerborstenen Fensterscheiben auf den Straßen inspirierten die Nationalsozialisten diese Nacht „Kristallnacht“ zu nennen. Solcherlei Schicksal blieb der Reichenbacher Synagoge erspart, da die jüdische Gemeinde das Gebäude ein halbes Jahr zuvor an die Gemeinde Reichenbach verkaufte.
Eine stolze deutsche Familie
Walter Israels Familie stand in engster Verbindung zur Synagogengemeinde einerseits und zur Lautertaler Heimat andererseits. Seine Mutter war die am 14.9.1892 geborene Elmshäuserin Mina Israel, geb. Oppenheimer. Sein Vater, Theodor Israel, wurde am 17.12. 1891 im polnischen Lubischin geboren. Über Alzenau fand Theodor der Liebe wegen den Weg nach Elmshausen, wo er das Traditionsgeschäft „Oppenheimer“ mit Mina weiterführte. Vater Theodor war stark ehrenamtlich engagiert. So war er beispielsweise Vorsteher der Synagogengemeinde Reichenbach.
Insbesondere durch seine Mutter war Walter mit der Heimat und der Bevölkerung verbunden. Abgesehen vom beliebten und gelobten Kundenbezug im familieneigenen Kolonialwarengeschäft lassen sich zahlreiche menschliche Verbindungen Walters durch Zeitzeugenberichte nachweisen. Gleichaltrige Nachbarn berichteten in Interviews, dass Familie Israel/Oppenheimer große Offenheit gegenüber den anderen Elmshäuser Bürgern lebte: „Die ´Oppenheimers´ (traditioneller Name der Familie in Elmshausen) waren völlig normale Mitbürger. Dass die Juden waren, haben wir eigentlich nur an den Feiertagen gemerkt, wenn sie samstags ihren religiösen Feiertag (Sabbat) hatten. An speziellen jüdischen Festtagen hat Sohn Walter mit seiner Mama und Papa immer Matzen (traditionelles Fladenbrot) an die umliegenden Kinder der Nachbarschaft verteilt. Das war was Besonderes, denn das aus Weißmehl hergestellte Brot kannten wir sonst nicht, mussten wir doch immer das schwere Roggenbrot essen, dass uns längst zu den Ohren rauskam.“ Familie Israel/Oppenheimer verstand sich auch als stolze deutsche Familie. Minnas Brüder Leopold und Max waren im ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich gefallen, Max nur wenige Tage vor Kriegsende.
Walter Israel in Cowboykluft: „Walter Israel liebte es, sich anlässlich Fastnacht/Karneval mit den anderen Dorfkindern in Elmshausen zu verkleiden.“ (Privatarchiv Ryan Lilienthal)
Große Menschlichkeit gepflegt
Besonders die ärmere Bevölkerung Elmshausens profitierte wohl von der Menschlichkeit der Familie Israel/Oppenheimer. Übereinstimmend wird berichtet, dass auch die Familien dort Hausrat einkaufen konnten, die kein Geld mitbringen konnten. Sogenanntes „Anschreiben“ war dort an der Tagesordnung, sodass manch verarmte Hausfrau dort Notwendiges besorgen konnte, auch wenn das Geld erst Wochen später „flüssig“ war. Ein weiteres Beispiel für das große Herz der Familie wird durch Kleidergeschenke berichtet. Eine von der Armut besonders betroffene Familien aus Elmshausens, deren Sohn ein Jahrgangskollege von Walter Israel war, berichtete davon, dass sie für ihren Sohn stets die Kleidung von Walter Israel erhielt, wenn dieser herausgewachsen war und nicht mehr nutzen konnte. „Hier kamen wir – wie andere Familien auch - ab und an in den Genuss, hochwertige Kleidung für unseren kleinen Bruder zu bekommen. Dann hatte der auch mal was Schönes anzuziehen, statt immer nur `Geflicktes´.“
„Walter wurde in ´guter deutscher Manier´ erzogen – erkennbar am wilhelminischen Modeschlager `Matrosenhemd´“ (Privatarchiv Ryan Lilienthal)
Aufgrund der sich für die jüdischen Mitbürger immer weiter anspannenden Lage, entschied sich Familie Israel, Sohn Walter auf eine jüdische Schule nach Frankfurt am Main zu schicken, nachdem unmittelbar nach der „Kristallnacht“ der Besuch staatlicher Schulen für Juden verboten war: Am 15. November 1938 erließ das Reichsministerium für Wissenschaft und Erziehung, dass „es […] keinem deutschen Lehrer und keiner Lehrerin mehr zugemutet werden [kann], an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.“ (Amtsblatt des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltungen der Länder, Band 4 (1938), S. 520
Die Anonymität der Großstadt erlaubte es den jüdischen Bürgern, durch die gegenseitige Hilfe, manche bewusste Schikane des NS-Staates etwas abzufedern. Walter wurde dort speziell auf ein Leben außerhalb von Deutschland vorbereitet. Auch berufspraktischer Unterricht fand dort statt. Speziell Vater Theodor war sich spätestens mit den fürchterlichen Erfahrungen der „Reichskristallnacht“ darüber im Klaren geworden, dass es dringend nötig ist, aus Deutschland auszureisen, wollte man am Leben bleiben.
„In der sogenannten ´Anlernwerkstatt für jüdische Jugendliche´ in der Frankfurter Fischerfeldstraße 13 lernte auch Walter Israel handwerkliche Grundkenntnisse“ (Leo Baeck-Institute New-York, USA)
Unmöglichkeit der Ausreise führt zum Mord im KZ
Mit dem wenige Zeit später beginnenden Zweiten Weltkrieg erschwerte sich die Ausreisesituation allerdings deutlich, da sich das Deutsche Reich mit immer mehr Staaten im Krieg befand und eine Ausreise dorthin folglich unmöglich wurde. Noch mit November 1941 sind durch den Elmshäuser Bürgermeister Scharschmidt intensive Ausreisebemühungen für die Familie belegt. Durch den japanischen Überfall gegen den US-amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbour auf Hawaii am 7.12.1941 war die Ausreise in das Wunschziel USA jedoch ebenfalls unmöglich geworden. Schon am 11.12. erklärte das Deutsche Reich den USA nämlich den Krieg.
„Dieses Passbild sollte in Walters Reisepass zwecks Ausreise verwendet werden. Die GESTAPO zog die Unterlagen jedoch ein.“ (Hessisches Staatsarchiv Darmstadt)
Für Walter Israel und seine Familie zog sich zudem die Schlinge der judenfeindlichen NS-Politik undurchdringlich zu. Am 17. März 1942 wurde schließlich eine Ausgangssperre über die restlichen jüdischen Einwohner des Lautertals und damit auch gegen Familie Israel verhängt. Am Morgen des 18.März wurden sie schließlich über Bensheim nach Darmstadt deportiert. Von dort begannen am 25. März die hessischen Bahndeportationen in das Vernichtungslager Majdanek im besetzten Polen. Walter wurde vermutlich von seiner Frankfurter Schule aus deportiert. Am 10.7.1942 wurde er schließlich von seinen deutschen Landsleuten im KZ Majdanek/Lublin ermordet.
„Familie Israel auf einer Privataufnahme in der ´guten Stube´ um 1940“ (links Theodor Israel, mitte Walter Israel, rechts Mina Israel geb. Oppenheimer) (Privatarchiv Ryan Lilienthal)
Quellenhinweise:
Die Aussagen basieren auf Recherergebnissen in den folgenden Archiven
Deutschland: Gemeinde Lautertal, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt,
Arolsen-Archives Bad Arolsen
USA: Leo Baeck-Institut New-York, US-Holocaust-Museum-Washington D.C.
Israel: Yad Vashem
Pressebericht: Frank Maus - Historiker / Rektor 12.11.2020
„Im häuslichen Hinterhof ließ es sich gut spielen. Walter mit seiner Tante Marianne und Onkel Walter Jablow“ (Privatarchiv Ryan Lilienthal)