Begeben Sie sich auf Zeitreise mit mir: es geht etwa 89 bis 77 Jahre in die Vergangenheit. Wer rechnen kann merkt: es geht um die Zeit zwischen 1933 und 1945, das tausendjährige Reich, Nationalschande oder wie auch immer wir aus heutiger Perspektive die Zeit nennen mögen. Sie wirklich zu beurteilen ist schwer. "Wie würde ich mich verhalten?" - diese Frage kann niemand von uns Heutigen wahrheitsgetreu beantworten.
Interessante Details entdeckt man beispielsweise, wenn man ein bißchen nachbohrt: so wurde die Neutscher Chronik von 1956 geschrieben von einem Mann, der 1933 in die NSDAP eintrat, 1937 ein Buch mit dem Titel "Zur Geschichte der Juden" veröffentlichte, extrem judenfeindlich und antisemitisch war. Dr. Adolf Müller (1890-1956), Leiter des Städtischen Archivs, der Stadtbibliothek und des Museums in Darmstadt. Nach 1945 wurde er nicht mehr in den städtischen Dienst übernommen. https://dfg-vk-darmstadt.de/Lexikon_Auflage_2/MuellerAdolf.htm
Müller lebte eine Zeitlang in Neutsch und schrieb dort die Geschichte des Dorfes auf. Einer seiner Vorfahren war aus Neutsch, einer der acht Neusiedler nach dem 30-jährigen Krieg, als das Dorf "bis auf einen Mann" ausgestorben war. Seine Sprache im Jahr 1949 ist - wie die vieler Zeitgenossen - noch stark geprägt vom nationalsozialistischen Geist: "Es lag nahe, daß der Historiker (=Müller) sich der Geschichte dieser Sippenheimat zuwandte, handelt sie doch vom Leid und der Freude der Menschen meines Blutes." Lesen Sie zur Geschichte Neutschs auch: Neutsch: Höhendorf an der Hutzelstraße
Das deutsche Erbübel der Untertänigkeit: Leitmotiv in Dr. Müllers Betrachtungen
Schon in der Überschrift des ersten Kapitels nach der kurzen erdgeschichtlichen Betrachtung lautet "Vom Schicksalskampf unserer Ahnen und dem deutschen Erbübel der Untertänigkeit". An mehreren Stellen zeigt sich Müllers Eskapismus in Mentalitäten außerhalb seines eigenen Landes, das ihm ganz offensichtlich zu eng war nach 1945. Er spricht vom "Grenzergeist" als ewigem Jungbrunnen der amerikanischen Nation: "Die Männer und Frauen der amerikanischen Grenze seien, wenn sie nicht hätten untergehen wollen, gezwungen gewesen, Fesseln überkommener Gewohnheiten und Gedanken zu zerbrechen und mutig, auch geistig, in unbekanntes Neuland vorzustoßen." Er bezieht sich dabei auf eine Vorlesung von Professor Frederik Jackson aus dem Jahr 1893.
Dr. Müller 1949: "Jahrhundertelang litten wir (die Deutschen) darunter, daß unsere Grenzen in Ost und West von unruhigen Nachbarn immer wieder bedroht wurden, weil das Reich im Innern zu viele Grenzen besaß. Die Vielzahl der Fürsten und Herren, die das Deutsche Folk mästete, schuf keinen Grenzergeist, sondern jene Untertänigkeit, an der das Reich schließlich zerbrach."
und: "Wie anders der amerikanische Pionier, der in den unermeßlichen Weiten der Prärie in einem elenden aus Rasenstücken erbauten Unterstand kampierend, trotz der ständigen Gefahr, von Indianern erschlagen zu werden, dennoch erfüllt sein durfte von dem köstlichen Gefühl, frei schalten und walten zu können, ein freier Herr auf freiem Grund, der nichts mehr wußte von Hypothek und Regreß und von Hochwohlgeborenen gnädigen Herren, denen man nur in submissester Untertänigkeit nahen durfte, weil sie sonst ungnädig wurden."
To boldly go where no man has gone before
Dieser Traum der Übriggebliebenen wurde - aus einer ganz anderen Richtung - geprägt in das Motto "to boldly go where no man has gone before" aus Star Trek (Raumschiff Enterprise). Man darf sich die Serie ruhig anschauen, sie spiegelt in märchenhafter Weise (nach langer langer Zeit, an einem Ort weit weg) die immerwährenden menschlichen Bestrebungen, die mit neuen Entdeckungen stets einhergehen: Expansion und Kolonisation, Versklavung und Deportation der jeweils anderen.
Der Bauer der Steinzeit: ein Leben in Freiheit?
Als die Jäger und Sammler seßhaft wurden, erbauten sie feste Häuser. Dr. Müller: "Der Bauer der Steinzeit lernte zuerst den Segen der Arbeit kennen. Er mußte planen. Sein Werk zwang ihn vorauszudenken. Der Boden, den er im Schweiße seines Angesichts urbar machte, lohnte die Mühe. Der Bauer hinterließ, wenn er starb, das feste Haus, die gerodeten Äcker, das gezähmte Vieh. So erwuchs allmählich aus der Arbeit die Freude am Besitz, am Boden, der Nahrung schenkte, wenn man nur treu seine Pflicht erfüllte. So erwuchs die Liebe zu diesem Boden, die köstlichste Frucht der Zeit, die Heimatliebe." Diese glücklichen germanischen Bauern erlebten dann mit der Invasion der Römer ihre erste Unterdrückung, wenn man Dr. Müller glaubt. Und so lautet die nächste Kapitelüberschrift "Wie die Bauern unfrei wurden".
Römische Besatzungszeit, die Zeit unter dem Kloster Lorsch und das Mittelalter
"König und Berufsheer entfernten sich innerlich (im 5. Jahrhundert) immer mehr von der tragenden Masse des Staates, dem bäuerlichen Volke. Anstatt Ackerland im Osten zu erobern, anstatt zu kolonisieren, was einem Bauernkönig mit Bauernsoldaten hätte gelingen können, zogen unsere Kaiser und ihre adeligen Reiter, die den Pflug verachteten, in das Zauberland Italia und verspielten in dem Kampfe mit dem Papsttum königliche Macht und deutsche Zukunft; denn in Italien wurde die deutsche Zersplitterung geboren, an der das erste Reich - und nicht nur das erste Reich - zerbrach."
Und wieder: "Wir erkannten in der Untertänigkeit, in der deutschen Knechtsseligkeit ein verhängnisvolles Erbübel." Dr. Müller sah den alten starken Uradel ehe- und kinderlos in den Klöstern verschwinden, und der neue Adel "erwuchs aus Dienern (Ministerialen) der hohen weltlichen und geistlichen Fürsten und ließ die alte germanische Freiheitsliebe vermissen."
„Die Herren raubten das Land, weil auch damals Gewalt vor Recht ging. Die Hagen-Münzenberg,..., die Rohrbach, Ruckershusen, Rabenolt von Tannenberg und Walbrunn, die nacheinander als Herren unserer Heimat auftraten, gehören allesamt entweder durch Verwandtschaft oder Lehensabhängigkeit zu den mit den Grafen von Katzenelnbogen versippten Herren von Bickenbach."
Neutsch gehörte vermutlich bis 874 zum Fronhof des Königs in Seeheim, kam dann zum Kloster Lorsch und wurde im 12. Jahrhundert an die Herren von Bickenbach bzw. Seeheim gegeben.
Die mittelalterlichen Weistümer (= verbindliche Rechtsüberlieferung, die mündlich bei regelmäßigen Zusammenkünften gepflegt wurde) beinhalteten lange Zeit eine wichtige Klausel, um Machtübernahmen zu verhindern: "Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist." Dr. Müller: "Da ich, gewitzigt durch eigene Lebenserfahrung, besonders die Entstehung der deutschen Knechtsseligkeit untersuchen will, verfolgte ich das Geschick gerade dieses Artikels." Der Satz "Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist" verschwand demnach zur Zeit des Schöffen Mathis von Nitz (Neutsch), Keller zu Lichtenberg. Dieser Mathis konnte sich nach Dr. Müller nicht gegen den gräflichen Diener und Keller zu Lichtenberg Hans Kulemann durchsetzen, und so verschwand der Satz nach 1474 aus dem Weistum. "Nun die Bremse des 2. Artikels (meint den Satz Es soll alles so bleiben, wie es altes Herkommen ist) dank der Gefügigkeit des untertänigen Mathis von Neutsch und seiner Genossen gefallen war, konnten ungestraft neue Herrenrechte, die kein altes Herkommen waren, verkündet werden. Wir werden sehen, daß die landgräfliche Regierung die Möglichkeit sofort ausnutzte."
Im Salbuch Starkenburg aus den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts fand Dr. Müller ein Ortsverzeichnis der Zugehörigkeit zu den Dannbergischen Herren (Tannenberg/Seeheim): neben Seeheim, Bickenbach auf dem Sande, Malchen, zum Henchen (Hähnlein) und Gogenheym (Jugenheim) gehörten auch Beedenkirchen und Neutsch dazu, ebenso Kreidach, Auerbach und Pfungstadt. Darin heißt es, daß die Herren jederzeit ihren Knecht zum Eintreiben von Zins und Gült zu den drei ungebotenen Dingen von Neutsch ("kommen zu Nitz zu den drien ungeboden Dingen" = die für alle Zeiten festgesetzten drei Gerichtsversammlungen) entsenden dürfen. Diese Dinge - Thingversammlungen - fanden in Neutsch also auch in der hohen Gerichtsbarkeit (Gericht über Leib und Leben) vor Ort statt, obwohl dies dem Landgericht Ober-Ramstadt vorbehalten war. Dr. Müller verordnet diese Thingstätte dort, wo noch heute die Flurnamen "an der Pein" und "Galgenäcker" darauf hinweisen. Auch den Diebspfad, der zum Rämschter (Hügel bei Neutsch) führt, ordnet er hier ein und vermutet als Ort für die Thingstätte die flache Hügelkuppe des Rämschder. Dieser liegt direkt am Weinweg, der in Ost-West-Richtung Groß-Bieberau mit Lorsch, Gernsheim und Stockstadt verbindet. Weinweg kommt von Wagenweg, es war eine Fernstraße für den Handel und den Verkehr zwischen den verstreut liegenden Klosterbesitztümern. Um Neutsch herum hieß der Weinweg Gotteshäuschenweg. Ein weiterer Weg zum Rämschter war der Hasellauf, der vom Modautal herauf führte. Damit ist Neutsch als Gerichtsstätte nach Dr. Müller älter als Ober-Ramstadt. Der kleine Ort hatte eine gute Verkehrslage, die Fernstraße Weinweg führte direkt zum mittelalterlichen Rheinhafen, die Hutzelstraße bis Dieburg. Zudem wird der Rämschter im Dreieicher Weistum für den Bannforst Dreieich als Grenzpunkt genannt, wobei dort er dort Ramisberg heißt. Dr. Müller sieht in Ramis einen sehr alten Verweis auf die heiligen Vögel, die Raben.
Die Gerichtsbücher überliefern selten reizvolle menschliche Einzelheiten des bäuerlichen Lebens, da man auch damals schon beim Schriftverkehr mit der Herrschaft über einen Anwalt ging. "Die Schöffen, die in der Frühzeit Volksvertreter gewesen waren, wurden immer mehr Polizeiorgane des werdenden Absolutismus", so Müller. Die Schöffen verdienten nicht schlecht an den zur Anzeige gebrachten Vergehen, so daß wohl oft üble Nachrede im Spiel war. Abschließend konstatiert Dr. Müller: "Das altdeutsche Gerichtswesen kannte viele altüberlieferte Formeln und Symbole. Schlimm war, daß der Inhalt der Formeln und Sinnbilder sich immer mehr verflüchtigte. Bald war das alte Brauchtum nur noch Tarnung der Unfreiheit."
Im Kapitel des Bauernkrieges schreibt Dr. Müller zur darauf folgenden Gesetzeslage: "Es war alles beim alten geblieben... Das einzige Ergebnis des blutigen Bauernaufstandes 1524/25 war: das Ackerland, auf dem Untertanen gezüchtet wurden, war gejätet worden, rücksichtslos hatte der fürstliche Gärtner, unterstützt von der Kirche, das 'Unkraut', das noch genug Widerstandswillen gezeigt hatte, sich aufzulehnen gegen unbillige Willkür, ausgerauft. Dreihundert Jahre herrschte die ersehnte Kirchhofsruhe, dann empörte sich das Volk wiederum. Wir Neutscher sind stolz darauf, daß unsere Ahnen auch bei dem zweiten Aufstand in der vordersten Front standen." Mit dem zweiten Aufstand ist die Revolution 1848 gemeint.
Im Nachgang zum 30jährigen Krieg, der Pest und der Otzberger Fremdherrschaft durch die Franzosen schreibt Dr. Müller: "Wenn wir von hochgelegenen Neutscher Äckern den Otzberg in der Ferne ragen sehen, sei er uns eine Mahnung, auf der Hut zu sein. Trau, schau wem! Auch aus einfältiger Treue, aus Untertänigkeit gegen ein Fürstenhaus, gegen eine Kirche, gegen eine Partei, gegen einen Stand oder eine Klasse kann man seinem Volke zum Unheil werden, selbst wenn man aus den edelsten Beweggründen handelt." Der Satz vor diesem lautet jedoch wie folgt (über die Herrschaft auf dem Otzberg Mitte des 17. Jahrhunderts): "... Joachim Henning, der erste Zwingherr im Solde Frankreichs war ein Deutscher, sein Oberst ein Prinz Wittgenstein. Deutsche im fremden Sold! Deutsche als gefügiges Werkzeug fremder Machthaber..."
Der Herausgeber der Chronik: "Heimat schaffen in dieser verwirrten Zeit"...
Die Niederschrift des Dr. Müller, maschinenschriftlich in den Unterlagen des Neutscher Bürgermeisters vorhanden, wurde 1956 von Wilhelm E. Zinsel veröffentlicht: "Neutsch - aus seiner Geschichte". Pfarrer Wilhelm Emanuel Zinsel (*27.01.1901 +03.06.1977), Sohn von Eduard Zinsel, dem großherzoglichen Hoffotografen (siehe Zufallsfund: Fotos des Schönberger Fürstenhauses, „Aus der Zeit des Ausbruchs des Weltkriegs: Die großherzogliche Familie kommt am 2. August 1914 von der Abholung der Standarte und der Verabschiedung des 23. Garde-Dragonerregiments zurück", aufgenommen im Residenzschloß zu Darmstadt von Hofphotograph Ed. Zinsel. Dieser war Großherzoglich Hessischer Hofphotograph in der Riedeselstaße 39 in Darmstadt. https://www.ev-gemeindenetz-nb.de/home/ober-beerbach/neutscher-kapelle/
Zinsel war Mitinitiator der Gedenkstätte in Brandau in seiner Funktion als Geschäftsführer des Kreisverbandes Darmstadt im Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Gemeinsam mit dem Landrat des Landkreises Darmstadt Georg Wink wurde die Kriegsgräberstätte geplant, 1964-1966 unter Leitung des Architekten Dipl.-Ing. Heinz Dieffenbach errichtet und am 25.09.1966 eingeweiht. Am Volkstrauertag organisiert der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Kreisverband Darmstadt-Dieburg hier die Gedenkfeier für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.
Pikantes Detail dabei ist, daß auch diese Organisation nach 1945 zunächst entnazifiziert werden mußte. Wikipedia berichtet von der Lobbyarbeit des Volksbundes 1933. Man wollte die Blutzeugen des Nationalsozialismus in die Arbeit des Volksbundes integrieren. Während die DDR eine Neugründung nach 1945 verbot, entstand die Organisation in Westdeutschland neu und wurde in der politischen Landschaft der BRD fest verankert. Nach der Wiedervereinigung wurden auch in den ehemaligen DDR-Bundesländern Landes- und Kreisverbände gegründet.
Zinsel ließ 1954 "dem Gedächtnis meiner toten und der Gefallenen des Dorfes eine Kapelle "zum Gedächtnis meiner Toten und der Gefallenen des Dorfes" erbauen. "Die Drucklegung der Geschichte des Dorfes möchte das Werk fortführen, Heimat zu schaffen in dieser verwirrten Zeit..."
Eine kritische Auseinandersetzung des Pfarrers Zinsel mit der von Dr. Müller gepflegten Sprache erfolgt nicht. Diese weist an vielen Stellen Anklänge an verinnerlichtes nationalsozialistisches Gedankengut auf, das nur oberflächlich durch reumütige Phrasen geschminkt wurde. Daß dieser Sprachduktus noch 1949 "normal" und "üblich" war, zeigt sich in zeitgenössischen Dokumenten (Kino, Rundfunk). Auch die Aliierten befleißigten sich einer aufgeregten Sprache, in der die Begriffe "Volk" und "Vaterland" häufig vorkommen. Aber sieben Jahre später, als Wilhelm E. Zinsel Müllers Manuskript unkommentiert veröffentlichte, hätte man eine inhaltliche Einordnung erwarten können. "Heimat zu schaffen in dieser verwirrten Zeit..." ist vielleicht nicht ganz die richtige Einordnung, vielmehr ist es die berühmte Schere im Kopf.
Nur der Gefallenen des Dorfes zu gedenken, ist nicht ausreichend. Zukünftige Gefallene zu vermeiden wäre eher angeraten. Dazu sind jedoch sämtliche Kräfte zu 100% erforderlich, um an diesem Ziel zu arbeiten. Die aktuelle weltpolitische Landschaft "verspricht" zahlreiche zukünftige Gefallenen, deren dann wieder gedacht werden kann.
Weiteres aus der Neutscher Chronik lesen Sie hier: Neutsch: Höhendorf an der Hutzelstraße
Marieta Hiller, Februar 2022