Jetzt hört der Spaß aber auf: dank Klimawandel wäre es heute gar nicht mehr möglich, richtiges Bier zu brauen, wenn nicht...
Ohne die Kältemaschine des Herrn Linde gäbe es heute kein trinkbares Bier.
Doch zuerst: dieser Beitrag entstand bei einer ganz besonderen Gästeführung in Michelstadt: Gästeführerin Antje Vollmer nahm uns mit in die "Michelstädter Unterwelten". Die Keller, die wir besichtigt haben, hat sie eigenhändig für die Führung hergerichtet, die Führung kann natürlich gebucht werden! https://www.michelstadt.de/tourismus-kultur/kulturamt-mit-gaesteinformation/stadtfuehrungen-buchen/unterwelten/
Der deutsche Ingenieur, Erfinder und Firmengründer Carl von Linde entwickelte 1895 das Linde-Verfahren, mit dem sich Kälte erzeugen läßt. Kurz gesagt wird Luft komprimiert, die sich wieder ausdehnen kann und dabei Wärme aufnimmt. So wird die Umgebung automatisch kälter. Beim Komprimieren entsteht Wärme, die abgeführt werden muß. Dieser Austausch funktioniert leider nicht nach dem Perpetuum mobile Prinzip, sondern muß durch Zuführung von Energie in Gang gehalten werden. Die Kältemaschine des Herrn Linde ist dringend erforderlich, um untergäriges Bier brauen zu können. Die spezielle Hefe arbeitet nämlich nur bei 5-10 Grad, während obergärige Bäckerhefe dies auch noch bei über 15 Grad schafft.
Nun ist aber Kölsch und Alt (beides obergärige Biere) nicht unbedingt die erste Wahl für Odenwälder Biertrinker. Aber wie wurde das Brauen im Odenwald vor der Lindes Erfindung bewerkstelligt?
Bei ihrer Kellerführung in Michelstadt erklärte Gästeführerin Antje Vollmer, daß dafür eine Riesenmenge Eis erforderlich war. Man schlug das Eis im Winter von zugefrorenen Teichen und Weihern und lagerte es in Kellern. Für 40.000 Hektoliter Bier, das sind in traditionellen Gebinden 20.000 Fässer, brauchte man 5000 Tonnen Eis. Im Bierkeller durfte es keinen Luftzug geben, der hätte die kalte Eisluft ausgetauscht. Das Eis wurde in den Seen an den Marbachwiesen östlich von Michelstadt gewonnen.
Eiskeller des Gasthauses von Bierbrauer Kilian Spiegel, Bürgermeister in Michelstadt 1823–1831 und 1837–1850. Die Inschrift lautet "Erbaut von K. Spiegel im Monat Januar 1837; in den 1980er Jahren diente der alte Eiskeller als Partykeller, wie die zeittypische Bemalung auf dem rechten Foto noch zeigt. Über dem gemalten Mauerwerk sieht man das Eisloch, durch das die Eisklötze auf die unten lagernden Fässer geschüttet wurden.
Die alten Eiskeller wurden unterschiedlich weitergenutzt:
zwei der Michelstädter Keller wurden als Luftschutzbunker wichtig. In Groß-Umstadt befindet sich heute in einem großen Eiskeller der ehemaligen Ganß'schen Brauerei das Reifelager vom Käse-Wolf. In vielen Eiskellern überwintern heute Fledermäuse, diese kann man nicht besichtigen.
Unter dem historischen Michelstädter Rathaus verbirgt sich ein Versteck: unter der Presse liegt der Eingang zu einem Kellerbecken von ca. 1,50m Tiefe und mehreren Kubikmetern als Ausdehnungsraum für das von Osten her hangabwärts zur Mümling strebende Wasser. So sicherte man sich in der historischen Altstadt (fast) trockene Keller. Hohe Trittsteine auf dem Boden erzählen allerdings eine andere Geschichte...
In Michelstadt gibt es eine geologische Besonderheit, weshalb die Keller alle im 1. Stockwerk liegen. Michelstadt und Erbach liegen in einem Graben im Buntsandstein, wo sich Muschelkalkgestein erhalten hat. Dieser steht westlich und östlich auf dem Buntsandstein, der nur direkt im langgestreckten Tal zu Tage tritt. Muschelkalk wird vom Wasser leicht ausgewaschen, es bilden sich natürliche Höhlen, die man nur noch abmauern mußte. Um Bier aus dem Keller zu holen, mußte man also 'nuff' (bergauf)gehen.
Übrigens: das erste Transportgut überhaupt auf einer deutschen Bahnstrecke waren zwei Fässer Bier! 1836 wurden sie von Nürnberg nach Fürth zur Bahnhofswirtschaft "zur Eisenbahn" geliefert, der Wirt hatte zwei Tickets dritter Klasse dafür lösen müssen.
Weitere Tipps für Michelstadt
Was Sie in Michelstadt erleben können: www.michelstadt.de
Stadtführung "Michelstädter Unterwelten" mit Antje Vollmer: https://www.michelstadt.de/tourismus-kultur/kulturamt-mit-gaesteinformation/stadtfuehrungen-buchen/unterwelten/
Der Michelstädter Weihnachtsmarkt ist sehr stimmungsvoll und findet komplett im Freien statt: www.michelstaedter-weihnachtsmarkt.de
Michelstadt gehört der cittaslow-Bewegung an, Zur cittaslow wird man mit Umweltkonzept, Barrierefreiheit, Regionalität und viel Charme...