Ein Leserbrief zum Thema Frieden:
Ich war gerade von der Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag nach Hause gekommen. Im Redebeitrag auf der Veranstaltung war die Frage aufgeworfen worden, ob angesichts der weltweiten Gewalteskalation der Weg des Friedens noch begehbar sei: „Haben die Menschen nichts gelernt?“ (siehe Gedanken zum Frieden aus Schannenbach)
Zuhause angekommen las ich folgende „Breaking News“-Meldung von NTV auf meinem Handy: Der ukrainische Geheimdienst SBU meldet einen neuen „Weltrekord“: Ein ukrainischer Scharfschütze habe einen Russen aus 3,8 km Entfernung erschossen. Er habe damit den „bisherigen Weltrekord“ eines Kanadiers im Irak von 2017 überboten, der aus 3,5km einen Iraker erschossen hatte.
Die Tötung eines Menschen als sportliche Leistung? Welchen Informationsgehalt will uns die Meldung vermitteln? Zynisch gefragt: Gehört die Meldung nicht eigentlich auf die Sportseite? Was geht im Kopf eines Redakteurs vor, der so eine Meldung als „Breaking News“ im Ukraine-Ticker postet?
Sind wir schon so abgestumpft durch tägliche Berichte über Krieg und Gewalt, tägliche Forderungen nach neuen Waffenlieferungen, tägliche Berichte über „Eliminierung“ von Soldaten, dass wir das Töten als sportliche Disziplin ansehen? Wo bleibt der Aufschrei der Gesellschaft gegen die zunehmende Militarisierung des Denkens und des Handelns? Wo bleibt der Aufschrei, wenn Verteidigungsminister Pistorius „Kriegstüchtigkeit“ einfordert? „Kriegstüchtigkeit“ im Zeitalter der Nuklearwaffen? Ist da nicht eher „Friedenstüchtigkeit“ und „Friedensdiplomatie“ angesagt? „Unsere Waffenlieferungen retten Menschenleben“ meint dagegen unsere oberste Diplomatin, Aussenministerin Baerbock. Und so werden weiter Milliarden für Waffen bereitgestellt. Die Menschen haben offenbar tatsächlich nichts gelernt.
Im eingangs erwähnten Redebeitrag wurde die Frage nach der Möglichkeit eines Weges zum Frieden wie folgt beantwortet:
„Wege zum Frieden sind möglich! Aber diese Wege müssen gepflegt werden. Nationalismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit dürfen nicht die Oberhand gewinnen und dadurch die Wege zum Frieden unbegehbar machen.“
Tötung eines Menschen als Weltrekordleistung zu feiern, ist das nicht in höchsten Maße menschenfeindlich? Die mediale Berichterstattung hat auch eine große ethische Verantwortung. Sensibilität, Achtsamkeit und Respekt vor der Menschenwürde ist erforderlich. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1 Grundgesetz), dies gilt für jeden Menschen ohne Unterschied, ob Russe, Ukrainer, Muslim, Jude, Syrer, Afghane u.a.
Ich habe zu der o.g. Meldung von NTV, die auch von mehreren Presseorganen übernommen wurde, beim Presserat eine Beschwerde eingereicht. Allerdings habe ich angesichts der zunehmenden Gewöhnung an die zunehmende Militarisierung in unserer Gesellschaft wenig Hoffnung, dass ich da überhaupt eine Antwort erhalte.
Wolf Nevermann, Krehbergstr. 537, 64686 Lautertal