Ein faszinierendes Fenster in die Vergangenheit öffnete sich bei Bauarbeiten am Bensheimer Marktplatz. Bensheim ist seit 765 urkundlich bekannt als Basinsheim und erhielt 956 das Marktrecht. Zur Stadt wurde es spätestens 1320. Als 1979 beim Bau des "Hauses am Markt" in der östlichen Marktplatzecke Gebäudereste entdeckt wurden, versäumte man es, dies archäologisch zu dokumentieren. Man arbeitete mit schwerem Gerät und zerstörte vermutlich zahlreiche Funde. Was gerettet wurde, konnte - aus dem historischen Befund herausgelöst - nicht zuverlässig interpretiert werden.
2016 traten wiederum Funde zutage: mittelalterliche (11. Jh.) und gotische (15. Jh.) Relikte wurden entdeckt: ein Keller mit bis zu 10 m starken Grundmauern, mit Bodenfliesen ausgelegt, eine massive Mauer quer über den Marktplatz und der wichtigste Fund: eine Kloakengrube auf der Westseite des Platzes. Und diesmal wurde alles sorgfältig erfaßt und ausgewertet.
"Normale" Menschen können einer Kloakengrube wenig abgewinnen, aber für Archäologen eröffnen sie intensive Einblicke in das frühere Leben.
Die Müllentsorgung war für Städte zu allen Zeiten ein großes Problem. Fäkalien, Unrat, Tierkadaver - alles wurde im Mittelalter einfach auf die Straße geworfen, weshalb die Bürger auf hohen Holzklötzchen unter ihren Schuhen durch die Straßen waten mußten. Siehe auch den Fund in Miltenberg. Übler Gestank und Krankheiten aufgrund mangelnder Hygiene waren allgegenwärtig.
Hochmittelalterliche Städte legten daher öffentliche Abzugsgräben und Kloaken an, in die sämtliche Abfälle nach ihrer Zwischenlagerung auf dem eigenen Hof entsorgt werden mußten. Man hatte Knechte, später Mistrichter, die vor allem auf den Marktplätzen dafür sorgten, daß die Müllentsorgungsgebote eingehalten wurden. In München zahlte man bei Verstoß 36 Pfennige an die Stadtkasse, 7 Pfennige an den Richter und 12 Pfennige an den Gerichtsdiener.
Die Kloakengrube, auch Ehgraben genannt, auf dem Bensheimer Marktplatz war am östlichen Ende 1,5m tief, am westlichen Ende 3 m. So konnte Unrat durch das Gefälle vom Regen weggespült werden. Man fand in dieser Kloakengrube Münzen, Nägel, Bronzeteile und Keramikscherben, die ältesten Scherben aus dem 14. Jahrhundert. Der Kloakengraben gab außerdem Tonrohre von Wasserleitungen preis.
Was aber viel spannender war, waren die Tierknochen. Diese wiesen Hack- und Schnittspuren auf und lieferten einen Beleg für die mittelalterliche Fleischerschranne am Marktplatz (jetzt Haus Fleck). Durch Staunässe unter einer Steinsetzung in der Kloake konnten sich organische Materialien wie Leder und Holz erhalten. Pflanzenteile und Samen lieferten bei der archäobotanischen Großrestuntersuchung sowie der C-14-Datierung aufschlußreiche Erkenntnisse.
Solche Funde sind recht selten, oft wird versäumt, solche Bestandteile für die wissenschaftliche Auswertung zu sichern. Es gibt für die Region Bergstraße nur zwei wissenschaftliche Auswertungen solcher spätmittelalterlicher Pflanzenbefunde. Aus der Bensheimer Grube konnten über 1000 Pflanzenreste sowie Holzteile gesichert werden.
der älteste Weintraubenkern Südhessens
Die Knochen aus der Metzgerschranne erzählen über die mittelalterliche Fleischhauerzunft: nach dem Schlachten und fachgerechten Zerteilen wurde das Fleisch in der Schranne verkauft. Das war eine offene Halle. Der Schlachter handelte zudem mit Vieh, er erhilet sein Schlachtvieh entweder direkt vom Bauern oder kaufte es auf Viehmärkten. Diese Schlachterzunft entstand im 12. Jahrhundert als selbständiges Handwerk.
Vorher schlachteten die Knechte auf Gutshöfen oder in Klöstern. Schon im 14. Jahrhundert konnten die städtischen Metzger die Nachfrage nicht mehr abdecken, es mußte Vieh aus anderen Regionen zugekauft werden. Man schlachtete zwischen Oktober und Dezember, verarbeitete Blut, Fleisch und Därme und lieferte Haut und Hörner an die Gerberei bzw. an Kamm- und Knopfmacher. Die Knochen warf man in die Kloake, sie stammen von Rind, Schaf, Ziege, Schwein, Huhn, man fand auch Fischschuppen. Ebenso wie die Knochen entsorgte man in der Kloake den Darminhalt der Schlachttiere, der heute so interessante Hinweise auf die mitelalterliche Pflanzenwelt liefert. Die Früchte und Samen sind meist zerdrückt, hieraus schließt man, daß sie aus Tierdärmen stammen. Etwa achtzig Pflanzenarten konnten daraus bestimmt werden: Weizen, Dinkel, Spelz, Roggen, Hirse, Linsen, Lein, Sellerie, Walnuß, Kirschen, Birnen, Weinrauben, Brombeeren, Wald-Erdbeeren, Hasel und Holunder, außerdem zahlreiche Wildpflanzen und Baumsamen. Der älteste Traubenkern der Region wurde hier gefunden: mittels C-14 Methode konnte er auf 1034-1156 datiert werden. Dies ist der älteste Nachweis für Weinbau in Südhessen.
Das Mittelalter war in vielerlei Hinsicht anders als unsere Zeit: Fleisch und Wurst stand nicht oft auf dem Küchenzettel der einfachen Bevölkerung, wurden aber wie Fisch oft auch als Bezahlung durch den Landesherrn ausgegeben. Schenk Erasmus zu Erbach zahlte seinen Knechten, Tagelöhnern und Mägden 1483 täglich zweimal Fleisch mit einem halben Krug Wein!
Wasser und Müll: zwei Seiten mittelalterlichen Wohnens...
Neben der Müllentsorgung war die Wasserversorgung das wichtigste Grundproblem. Brunnen lieferten den mittelalterlichen Ortschaften Wasser, es gab Zieh- oder Laufbrunnen. Ziehbrunnen zapften über einen tiefen Schacht das Grundwasser an, Laufbrunnen faßten das Hangwasser. Brunnen waren auch als Löschwasserspeicher wichtig.
Sie mußten stets rein gehalten werden, ihre Wartung verursachte oft hohe Kosten.Hierfür hatten die Grundherrschaften oder die Städte zu sorgen. Kleidung, Windeln, Schuhe, Gemüse durfte nicht im Brunnen gewaschen werden, Müll und Hausrat durfte auf keinen Fall hineingeworfen werden. Doch was würden unsere Archäologen heute erforschen, gäbe es nicht zahllose tiefe Brunnen voller spannender Funde!
Jedoch baute man oft Aborte und Kloaken in direkter Brunnennähe, da man über die Wege des Wassers im Untergrund nichts wußte. So entstanden gefährliche Infektionskreisläufe.
Ein alter Ziehbrunnen aus Holz wurde an der Nordostecke des Bensheimer Marktplatzes im Jahr 1887 gefunden. Dieser Brunnen war bis 1528 in Betrieb, die Ersterwähnung stammt aus dem Jahr 1487 als "neuer Brunnen", was auf einen Vorgängerbrunnen an dieser Stelle schließen läßt. 1528 wurde der Holzbrunnen durch einen Röhrenbrunnen aus Stein ersetzt. Aus dem Ziehbrunnen war ein Laufbrunnen geworden.
Der Handel in einer mittelalterlichen Stadt
Die Kloakenfunde liefern wichtige Hinweise auf den Warenhandel im mittelalterlichen Bensheim. Als im 12. und 13. Jahrhundert die Städte wuchsen, entwickelte sich auch der Handel zu Land und auf dem Wasser, wobei Städte an Flüssen und Küsten die bessere Position hatten, denn Straßen waren schlecht ausgebaut und Warentransporte durch Plünderungen und Wegelagerer bedroht. Waren aus dem Fernhandel mußten mit Geld bezahlt werden, während Grundmittel oft durch Tausch erworben werden konnten. Man fand in der Bensheimer Kloake Silber- und Bronzemünzen aus dem 13./14. Jahrhundert.
Die gastronomische Situation anno 900-1300
Handelsreisende und andere Weggenossen wurden bis ins 10. Jahrhundert in den Städten unentgeltlich aufgenommen und verpflegt. Erst im 11. Jahrhundert entwickelten sich Gaststätten und Tavernen, wo man Speisen und Getränke kaufen konnte. Zu den neu entstehenden Herbergen mußte man seine eigene Verpflegung mitbringen.
Um 1300 entstanden die bekannten drei Kategorien der Gastwirtshäuser: für Reisende zu Pferd, für Fuhrleute und für Fußvolk wie Pilger. Letztere mußten in Sälen mit bis zu 50 Betten übernachten, die Gaststube war der einzige beheizte Raum.
Doch nur von den Durchreisenden konnten die neu entstandenen Gasthäuser nicht existieren: auch die einheimische Bevölkerung wurde gern gesehen, das Gasthaus entwickelte sich zum Kommunikationsplatz, wobei meist weder Glücksspiel noch Frauen zugelassen waren.
Übrigens war das gesellschaftliche Trinken von Alkohol nicht auf Gaststätten beschränkt: da das Wasserso stark verkeimt war, konnte man den täglichen Flüssigkeitsbedarf nur mit Molke decken, oder mit Haferbier. Oder mit Bier und Wein, das man dem Wasser beimischte. Viele hochmittelalterliche Menschen waren daher Spiegeltrinker, mittags waren Große wie Kleine meist schon betrunken. So erklärt sich, warum die Menschen ihre schlechten Lebensbedingungen ertragen konnten.
M. Hiller, Februar 2018