- wie Märchen uns ins Dickicht ziehen...
Märchen leben in einer Symbolwelt, ihre Sprache ist die Sprache der Bilder. Und so ist auch der tiefe undurchdringliche Wald nicht einfach ein tiefer undurchdringlicher Wald, sondern die Prüfung, der wir uns unterziehen müssen. Werden wir es schaffen, auf der anderen Seite des Waldes auf eine lichtdurchflutete Lichtung zu kommen, wo Blumen blühen und Insekten in der Sonne tanzen, wo Menschenkinder sich vergnügen, wo wir uns wohlfühlen werden und zuhause sein werden?
Zaghaft, mit vielen Ängsten und Schwierigkeiten treten wir zuerst aus unserer gewohnten Welt heraus: der Müllerbursche muß in die weite Welt ziehen, weil am Tisch der Eltern kein Platz mehr für ihn ist. Brüderchen und Schwesterchen müssen durch den dunklen Wald, bis sie am Ende glücklich zusammen bis an ihr Ende leben durften. Jorinde und Joringel fliehen in die finsteren Wälder, denn zuhause dürfen sie nicht zusammenkommen. Rotkäppchen gar gerät im Wald vom Weg ab und begegnet dem Wolf! Der Prinz, der sich unsterblich in Rapunzel verliebt hat, irrt gar blind für lange Zeit durch den Wald. Der Wald entreißt uns unserer gewohnten liebgewordenen Umgebung. Ohne Weg und Steg, immer tiefer hinein in das undurchdringliche Dickicht zieht es uns. Bald fällt kein Sonnenstrahl mehr zwischen den schwarzen Tannen hindurch, der weiche Waldboden verschluckt jedes Geräusch, er hüllt sich in dunstiges Zwielicht. Unheimliche Tiere huschen ferne zwischen den Stämmen hindurch. Bald schon kommen sie näher, erschnuppern unsere Angst. Einige neugierig und harmlos, andere hungrig und gierig, wieder andere gar mordlüstern - so starren sie uns aus dem Dämmerlicht an. Frau Amanita* lugt verschmitzt aus Moospolstern zu uns empor: der Fliegenpilz! Mit Flugsalbe lockt sie uns, auf daß wir durch Geisterhand beflügelt dem finsteren Wald entschweben wollen! Doch ach, wo werden wir erwachen? Wir können uns wenden wohin wir wollen, aus jedem Winkel lugt uns schon ein gelbes, rotes, braunes Köpfchen hervor - Pilze, die eigentlichen Herren des Waldes. Nicht die Bäume sind das Wesen des Waldes, die Pilze sind es. Meilenweit reicht das Pilztelefon: unter der Erde, unsichtbar für jedes Auge, verzweigt und abermals verzweigt, so zieht sich ein Netz aus Pilzfäden durch die weiche Waldkrume. Jede Bewegung, jeder Eindringling, jedes neue Wesen im Wald, von unten zwischen den Baumwurzeln hervor, hoch von zerfallenden Baumstämmen herab, hängend von Zweigen, sich emporreckend aus dem Moos - von überall wird beobachtet. Und das Pilztelefon ist schnell: kaum dringt am Waldrand jemand ein, so wissen es bereits alle Pilze an jedem einzelnen Ort des Waldes. Wir aber - wir bemerken es nicht einmal. Lange müssen wir durchs Dickicht streichen, uns zwischen hohen dunklen Stämmen unter dichtem Blätterdach hindurchbewegen, uns auch durch Brombeerranken und Haselstrauchgewirr zwängen, stets aufs Genaueste beobachtet von den Pilzen. Viele Tage, ja Wochen wandern wir mit unseren Märchenhelden, treffen hier auf einen einsamen Köhler, der innen schon so schwarz wie außen scheint. Schweigsam - denn das Reden verlernt man hier schnell - teilt er sein kärgliches Köhlermahl, Kartoffeln mit Salz aber ohne Schmalz, mit uns. Wenn wir Glück haben, gibt er uns etwas Geheimnisvolles mit auf den Weg, das wir später werden brauchen können... Oder aber wir stoßen auf die Räuber: finstere Gesellen, die uns auch noch das Letzte was wir haben, abnehmen und sich hämisch lachend von dannen trollen. Einsame Waldhexen, die aus ihren wunderlichen Kräutern noch wunderlichere Tränke brauen, unter Ausstoßen von allerwunderlichsten Verwünschungen und Bannsprüchen. Knorrige Baumwesen, die sprechen können, aber niemals die ganze Wahrheit sagen. Kichernde Waldwichtel, die zwischen Moos und Wurzelwerk herumspringen und sich über unser Elend lustig machen. Irrlichter, die vor uns her durch die Dunkelheit huschen, uns den Weg weisen wollen, aber plötzlich verlöschen. Elfen, die summend und singend von wundersamen Blüten erzählen, die uns helfen könnten. Helfen wollen aber wiederum nicht, hihihi... Hier treffen wir auf das seltsamste Wesen überhaupt: denn die Waldhexe gräbt etwas aus. Auf einer einsamen Lichtung inmitten hoher Baumriesen lockt sie einen Hund, ein armes entlaufenes verzaubertes Wesen, zu sich. Der Schwanz des Hundes ist an eine Pflanze gebunden, und die Hexe hat sich die Ohren fest verstopft. Was ist das? Bald werden wir es wissen! Doch schon setzt ein ohrenzerfetzendes Geschrei ein, und auf der Lichtung, am Schwanz des Hundes, windet sich eine Wurzel. Schlägt mit den Blättern, schnappt mit den Blüten, strampelt mit Wurzelbeinen und will freikommen. Schnell faßt die Hexe zu und steckt die kreischende Wurzel in einen Sack. Eine Alraune ist es, die hier aus der Erde gezogen wurde. Will die Hexe uns lähmen, uns willenlos und gefügig machen, auf daß wir niemals wieder den Wald verlassen können? Weg, nur weg! So treibt uns der Wald vor sich her, durch sich hindurch. Dort, wo er am finstersten ist, wo kein Sonnenstrahl mehr durch das schwarze Blätterdach dringt, wo Reh und Fuchs nicht hingehen, wo Steine unsere Füße stolpern lassen und Spinnweben uns Gesicht und Hände verkleben - dort ist der Ort, wo sich die Irrwanderung entscheidet. Werden wir auf ewig - unseres Verstandes verlustig, von Pilzen und Alraunen benebelt, herumirren? Oder werden wir hier, an der dichtesten Stelle, entdecken daß unser Weg uns nur noch ins Freie führen kann? Dort wo es am dunkelsten ist, kann es nur noch heller werden. Bald sind wir hindurch, schon lugen Sonnenflecken durch die Blätter, ein Ausblick öffnet sich zwischen zwei Stämmen, Sträucher wippen im luftigen Wind. Der Wald hat ein Ende. Zurück in der Menschenwelt sind wir glücklich angekommen, doch haben wir etwas erworben: wir sind auf magische Weise klüger geworden, haben mehr Vertrauen in uns selbst und in die Welt, nun finden wir alles, was wir brauchen. Ein jeder findet das, wonach er sein Leben lang suchte: Brüderchen und Schwesterchen sich einander, Jorinde und Joringel die Prüfung, die sie zueinanderführt, der blinde Prinz findet Rapunzel, und zwei helle Tränen aus ihren Augen benetzen die seinen, und er wird wieder sehend.
Der dichte Wald leitet uns durch den schlimmsten Alptraum hindurch zu einem besseren Leben. Denn dazu sind die Märchen da, das ist ihre Aufgabe: uns zu geleiten auf unserem Weg zu uns selbst. *nach einer Novelle von Werner Bergengruen: die schöne Frau Amanita - Novellen, Insel Verlag 1996
Anmerkung zur Alraune:
Die Alraune, auch Mandragora oder Mandrake genannt, ist eine Zauberwurzel. Ihren Namen erhielten sie nach den Forschungen der Gebrüder Grimm der altgermanischen Seherin Alruna. Das entstammt den alten Wörtern alb: „Alb, Mahr“ und runa: „raunen“. In manchen Gegenden nennt man sie auch Arun, das Alruneken, die Alruncke, Baaras, Galgenmännchen, Heinzelmännlein, Wurzelknecht, Hexenkraut und Teufelsapfel. Mit der Alraunenwurzel lassen sich Menschen beherrschen, weshalb sie bei Hexen so beliebt ist. Heißbegehrt und zauberkräftig war die Wurzel, Lähmungen bis hin zur Willenlosigkeit kann sie verursachen. So wurde eines ihrer Gifte noch bis in unsere Tage als Wahrheitsserum eingesetzt. Und giftig ist die Alraune: ihre Alkaloide Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin lösen einen gefährlichen Rausch aus und können töten. Mit Bilsenkraut, Tollkirsche, Stechapfel und Engelstrompete gehört die Alraune zu den Nachtschattengewächsen, zu den Pflanzen, aus denen Flugsalbe hergestellt werden konnte, was sie für Hexen sehr begehrenswert machte. Dabei sieht die Alraunwurzel wie ein Mensch aus, und alten Berichten zufolge schreit sie auch wie ein Menschenbaby, sobald sie aus der Erde gezogen wird.
Warum der farbenfroh bunte Herbstwald für unser Wohlbefinden so wichtig ist
Im Oktober beginnt sich der Wald in allen Gelb-, Rot- und Brauntönen zu verwandeln. Damit verpaßt uns die Natur vor dem rauhen Winter noch einmal einen emotionalen Schub an Energie. Diese Farben stimmen frohgemut und zuversichtlich. Ein Herbstspaziergang im stillen Wald, begleitet nur von den Geräuschen der verborgenen Wesen, zwischen den bunten Bäumen von Sonnenflecken betupft oder vom Wind gezupft, ein solcher Spaziergang tut der Seele gut. Die Natur bietet ihre geballte Kraft und Energie auf, um uns Menschenkinder gut durch den Winter zu kriegen - also nichts wie hinaus in die bunte Herbstwelt, draußen sein tut gut! Marieta Hiller
Marieta Hiller