In einem Land weit weit weg, wo die Büttel des Königs keine Steuern eintreiben konnten...
Aber nicht vor langer langer Zeit, sondern genau heutzutage

Ein "Realchen" von Marieta Hiller

Nun, so setzt euch zu mir, ich will euch eine Geschichte erzählen. Welche Lehre ihr daraus zieht, müßt ihr selbst entscheiden. In jenem fernen fernen Land, dessen Name nach Abenteuer, Urwald und Piraten klingt, da lebt ein Flußmonster mit vielen Köpfen, und wann immer ein mutiger Held zu den Ufern seines Heimatstromes aufbrach und ihm einen oder zwei Köpfe abschlug, so wuchsen sofort doppelt so viele nach.

Dieses Monster verkroch sich am liebsten im dunklen undurchdringlichen Wald, wo es weder Finanzamt noch Kartellamt finden konnte. Und was glaubt ihr, was es am liebsten fraß? Buchhändler! Das Monster schnappte sich einen nach dem anderen, bis man in keinem Dorf und in keiner Stadt des Landes mehr einen finden konnte. Denn das Monster hatte sehr lange Klauen! Es mußte seinen finsteren Urwald nicht einmal verlassen, um sich die Buchhändler zu holen. Dazu hatte es nämlich ein Netz - ein Netz, so gewaltig, daß es die gesamte Erde umspannen konnte!

Natürlich merkten die Menschen von alledem nichts, denn längst waren sie dem Monster auf den Leim gegangen. Sein Netz war nämlich mit süßem Leim bestrichen, dem kaum ein Mensch widerstehen konnte.

Bald hatte das Monster alle Geschäfte der gefressenen Buchhändler übernommen, und es gab sich nicht mit Büchern zufrieden! Sein Netz überspannte bald auch Filme, Musik, Essen, Trinken und alles, was Menschen nur haben wollten - sogar die Goldstücke, mit denen alles bezahlt werden mußte.

Es währte nicht lange, da konnte sich kaum ein Ladenbesitzer noch am Leben erhalten, ein Geschäft nach dem anderen mußte schließen. Denn alle wollten nur noch die Dinge aus dem süßen Netz haben.
Bald waren die Einkaufsstraßen ausgestorben, aber das merkte niemand. Denn niemand mußte noch sein Haus verlassen. Das süße Netz brachte ihm alles nach Hause, was das Herz begehrte. Die Menschen saßen vor ihren Babbelkästen, die in Wahrheit die geheime Pforte zum süßen Netz waren. Sie starrten hinein und wurden immer tiefer ins Netz gezogen - jeder Raum hatte wiederum viele Türen, die in neue Räume führten, mit noch viel mehr Türen. Und so fanden die Menschen bald nicht mehr heraus und waren gefangen. Sie gingen nicht mehr an die frische Luft - wozu auch? Es war ja sonst niemand da draußen!

Halt, nicht ganz: ETWAS war noch da draußen! Es brummte und hatte laute Schiebetüren, und ständig sprang ein Sklave heraus und schleppte Pakete zu den Wohnungen der Menschen. Wohl hatten die Pakete ein sehr fröhliches Gesicht, nicht aber die Sklaven die sie Tag für Tag verteilen mußten. Sie schufteten und schufteten, und hatten doch nie genug Brot auf dem Tisch.

Bald aber - und das ist es, was ein Realchen von einem Märchen unterscheidet: es weist auf die Zukunft hin - bald aber, wenn die Menschen in ihren Sesseln festgewachsen sein werden und keine Beine mehr haben, dafür aber sehr sehr bewegliche Finger, dann wird eine Zeit kommen wo es nicht mehr ein einziges Geschäft geben wird, in dem man etwas kaufen könnte. Alles was die Menschen brauchen, werden sie im süßen Netz finden, und die Sklaven bringen es ihnen in fröhlich lachenden Paketen.

Das ist nicht das Ende der Geschichte, leider! Ihr wißt ja, hinter dem süßen Netz lauert das vielköpfige Monster. Und wenn es soweit ist, wird es sich der Prinzessin ihr Kind holen. Ihr fragt euch jetzt, wie in diese Geschichte das Kind der Prinzessin geraten konnte? Nun, so denkt nach: was ist euch das Allerwichtigste auf der Welt? Richtig, ein jeder von euch nennt etwas anderes. Und deshalb müssen wir dafür ein Bild nehmen - und dieses Bild ist eben der Prinzessin ihr Kind. Euer Liebstes, euer Herzblut.

Das Monster giert nach eurem Herzblut! All diesen ganze Aufwand mit der Buchhändlerfresserei und dem süßen Netz betrieb es nur, um an euer Liebstes zu kommen. Und gnade euch Gott, wenn es soweit ist!

Marieta Hiller, September 2021

*Realchen sind das Gegenteil von Märchen. Erinnern Sie sich noch an die Sendung im SDR in den 70er Jahren - mit dem Hondebott, mit Ringselsalz und dem kranken Realchenerzähler?

2009 schrieb Kobold Kieselbart diesen Brief:

Liebe Koboldfreunde, Heute ist nun Heilig Abend und dann ist Weihnachten, und auch wir Kobolde haben nun bald alle Arbeit geschafft. Was heute kaum noch jemand weiß: in früheren Zeiten lebten wir Kobolde als Hausgeister. Wir ließen es uns wohl ergehen in den gemütlichen alten Bauernhäusern, und die Hausfrau war stets darauf bedacht, am Abend einen Topf mit Milch oder Suppe ohne Deckel auf dem Herd stehen zu lassen. Dies war die Speisung der Kobolde. Zum Dank sorgten wir dafür, daß im Hause alles in Glück, Wohlstand und Gesundheit lebte. Wehe aber, die Hausfrau deckte alle Töpfe zu! Dann schepperte es nachts fürchterlich, und wir Kobolde hatten am nächsten Tag schlechte Laune. Was zu einigen unschönen Szenen und Schabernäcken geführt haben soll ...

Heute gibt es keine Großfamilien mehr, keine winkeligen Bauernhäuser, keine Milchtöpfe ohne Deckel, ja nicht einmal mehr einen warmen Herd! Die Töpfe kommen in den Kühlschrank (diese Türen gehen ja wirklich schwer auf, aber manchmal schafft es einer von uns - haben Sie sich noch nie gefragt, wer wohl wieder die Wurst angebissen hat?), der Herd ist elektrisch und nachts eiskalt, und wir Kobolde können uns nun wirklich nicht auch noch ständig um jeden Eineinhalb-Personen-Haushalt kümmern! Also sind wir hinaus ins Felsenmeer gezogen - das war um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts - und haben uns dort in Wurzelstübchen unter heimeligen Felsen wohlig eingerichtet. Abends kommen der Igel, die Eichhörnchen und der Schmutzfink zum Plausch, und gemeinsam lachen wir oft herzlich über die albernen Späße der Menschen. Da waren doch tatsächlich schon welche mit einem Boot auf dem Autodach auf der Suche nach dem Felsenmeer - dem Felsen-MEER!

Andere stolzieren in Stöckelschuhen bei uns herum, aber am schlimmsten sind die, die ihren Müll hier bei uns im Felsenmeer liegenlassen! Doch die allermeisten Menschen, die uns besuchen kommen, sind zum Glück vernünftig und freundlich, und so haben wir schließlich (muß so um Himmelfahrt 1999 gewesen sein) beschlossen, daß wir uns den Menschen auch mal zeigen können. Seither nahmen wir unzählige nette Menschen mit zu unseren allergeheimsten Plätzen im Felsenmeer und erzählen Ihnen die Wahrheit über Kobolde, Riesen und die Entstehung des Felsenmeeres. Selbst die alte Hutzel hat sich ein Herz gefaßt und erschien manchen Menschen, sie wurde mehrfach gesichtet.

Aber heute! Wie sieht unser Felsenmeer heute aus?!

Corona kam, und mit dem Virus kamen die Menschenmassen. Bald schon fing das ganze Felsenmeer an nach Müll zu stinken, der Waldboden wurde so fest getrampelt, daß die Baumwurzeln keinen Halt mehr finden, und wir vom Kleinen Volk haben uns tief tief in unsere geheimen Gänge verzogen. Schließlich habe sogar ich als Menschenbeauftragte des Kleinen Volkes beschlossen, daß ich mich  nicht mehr zeigen werde. Keine Koboldtouren mehr, keine Schatzsuchen, keine Geschichten aus dem Zauberwald mehr - zumindest nicht für Menschen. Und wir hätten noch so viele Geschichten zu erzählen! Und wenn ihr sie nicht glaubt: ein winziger Kern Wahrheit steckt in allen Geschichten - man muß ihn nur sehen wollen... Der Kern in dieser Geschichte ist leider nicht winzig, sondern unübersehbar!

Feiert gemütlich Euer Weihnachtsfest, kommt zur Ruhe und kuschelt euch ein, denkt über das letzte Jahr nach und was im neuen Jahr so alles kommen mag, bleibt zuversichtlich und sammelt neue Energie! Und paßt endlich auf eure Natur auf, denn darin leben wir! Das wünschen sich und euch Euer Kobold Kieselbart und alle Kobolde - auch die alte Hutzel!!!

Spätsommer 2021 - M. Hiller

Einst vor vielen vielen Sommern lebte im Odenwald ein armer Köhlerssohn, dem die Lust am Kohlenmeilerbewachen abhanden gekommen war. Ja eigentlich ist noch nicht einmal sicher, ob er dazu überhaupt je Lust gehabt hatte. Jedenfalls schnürte er eines schönen Tages im Spätsommer sein Ränzlein, nahm den dicken Wanderknüppel des alten Köhlers und drückte seiner Mutter zum Abschied einen dicken Kuß auf die Wange, bevor er sich auf Wanderschaft begab.

Drei Tage stapfte er durch den Wald, drei Nächte schlief er im Dickicht, da entdeckte er eines Morgens ein Kästchen. Mitten auf seinem Weg durch das reife Gras einer Lichtung wäre er beinahe darüber gestolpert. Hoppla, dachte er. Was für ein hübsches Kästchen! Das bringe ich der Mutter mit. Doch zuerst schaue ich hinein, was denn wohl darinnen sein könnte... Jedoch, das Kästchen war verschlossen, und der Köhlerssohn konnte ziehen, drücken, schütteln und schimpfen – das Kästchen blieb auch verschlossen. Ein Schlüssel müßte dazu zu finden sein, dachte er. Und schon flötete ein Rotkehlchen vom Baum: „Schlüsselchen hie! Schlüsselchen hie!“ Wie der Köhlerssohn nach oben schaute, sah er es gülden zwischen den Zweigen hindurch glitzern, und ein Schlüsselchen von feinstem Gold fiel zu seinen Füßen hin.

Geschwind bückte er sich, hob das Schlüsselchen auf, steckte es ins Schloß vom Kästchen, drehte es herum, und dann... Dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis das Kästchen geöffnet war und wir dem Köhlerssohn über die Schulter schauen konnten, was denn wohl darinnen sei! Ein goldgelb glänzender, süß duftender Apfel lag darinnen, so frisch und saftig, als sei er eben noch am Baum gehangen – doch weit und breit ließ sich im dunklen Wald kein Apfelbaum sehen!

Der Köhlerssohn freute sich, denn er hatte großen Hunger – der war eigentlich sein ständiger Begleiter, solange er denken konnte! Sogleich biß er herzhaft hinein in den Apfel, und ein großes Stück verschwand in seinem Mund. Doch da begann es mit feinen Stimmchen zu zetern und zu schimpfen! Mitten aus dem guten Apfel heraus tönte es fein und glockenhell: „was fällt dir ein! Unsere Stübchen aufzubrechen? Uns Bübchen die warme Hülle zu nehmen? Sag uns einen guten Grund, sonst sollst du verwünscht sein, alle Tage bis zu deinem Ende in diesem Wald herumzuirren!“ Da erschrak der Junge und rief: „Hunger hatte ich! Und der Apfel sah so gut und nahrhaft aus. Aber ich wollte euch nicht um eure Stübchen bringen!“

Denn schon seine Mutter hatte ihm in früheren Tagen immer die Geschichte von den fünf Bübchen in ihrem warmen Stübchen erzählt, die irgendwann einmal hinaus in die weite Welt wollten. Und nun war er selbst in die weite Welt gezogen, und auf einmal vermißte er die Mutter sehr. Die Bübchen zwitscherten mit ihren feinen Stimmchen: „so sei es dir verziehen. Hunger ist ein schlimmer Berater, und du bist fern vom Mütterlein – gerade so wie wir! So iß denn auch den Rest unseres Apfels noch auf, aber eine Bedingung haben wir doch!“ „Nun, so sagt mir gleich, welche das ist, dann will ich alles so halten wie ihr es euch wünscht,“ sprach der Köhlerssohn.

„Steck uns alle fünf in deine Tasche, halt uns trocken und warm, und wenn du einst nach Hause kommst, so leg uns flugs in die schwarze Erde und gib uns zu trinken. Dann sollst du niemals mehr Hunger leiden.“ Der Köhlerssohn verwahrte die Bübchen wohl und stapfte gestärkt drei Tage und drei Nächte zurück zu Mutter und Vater und dem Kohlenmeiler. Der Vater schimpfte, daß er unverrichteter Dinge zurückgekehrt sei, die Mutter herzte ihn. Er aber nahm die fünf Bübchen aus seiner Tasche und legte sie im Garten mitten hinein in das Blumenbeet der Mutter.

Und was glaubt ihr wohl, was geschehen ist? Kaum war der Winter ausgezogen, da wuchs im Beet ein Apfelbäumchen, es wuchs und wuchs, und als der Köhlerssohn alt genug war, um in die Welt hinauszuziehen, da hingen tausendundein güldenes Äpfelchen daran – so köstlich, wie noch niemand je gekostet hat. Auch du und ich wohl sicher nicht. 

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Schlußversion 2: Der Junge aber tat wie ihm geheißen, und seit diesem Tag fand er jedesmal, wenn er das goldene Schlüsselchen im Schloß des Kästchens drehte, einen neuen goldenen Apfel darin. Die werden herangeschleppt von der Schnecke und dem Rotkehlchen, geradewegs von jenem Apfelbaum dort drüben – schaut nur genau hin! Marieta Hiller, 2013

Während der 20. Reichelsheimer Märchen - und Sagentage 2015 fand Referentin Prof. Kristin Wardetzky (Berlin) deutliche Worte zur Aktualität von Märchen in der heutigen Zeit. Märchen sind zu allen Zeiten gewandert, die Motive in vielen Ländern der Erde gleichen sich. So kann es geschehen, daß man im Herzen von Afrika ein Märchen hört, dessen Stoff sehr ähnlich auch in Mexiko, Grönland oder Indien erzählt wird.

Es ist wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: immer spricht das Märchen „Ich bin schon längst hier!“ Die Menschen, die auf der Flucht vor Elend und Verfolgung nach Deutschland kommen, haben oft nichts im Gepäck als ihre Hoffnung. Und im Kopf die Märchen. Jeder Mensch kennt Märchen, oder wenigstens eines. Sie sind das innerste Kulturgut aller Erdbewohner, gleich woher sie stammen.

Märchen können helfen, um Flüchtlinge bei uns zu integrieren. Dabei müsse man den Begriff Inklusion entschieden ablehnen. Er beinhalte die Vorstellung von Einschluß. Viel besser sei das Wort Integration. Dieser Begriff, der aus dem lateinischen stammt und „Herstellung einer Einheit oder Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (in-teger bedeutet unberührt) meint, gibt besser wieder, daß es um Gemeinschaft anstatt um Assimilation geht.

Märchen erzählen: wie geht das, wenn jemand keine Sprachkenntnisse hat? Da gibt es das Projekt „Sprachlos“, bei dem Märchenerzähler in die Schulen gehen und erzählen. Mit Händen und Füßen, mit Bildern, mit gebrochenem Englisch oder Französisch. Und es dauert nicht lange, da können die „sprachlosen“ Kinder, die Kinder die unsere Sprache nicht sprechen, selbst ihre eigenen Märchen erzählen. Es ist eine besondere Kraft, die in den Märchen steckt, daß sie über Augen Ohren und die Herzen Zugang zu den Menschen finden.

Wichtig ist es, daß auch Erwachsene Märchen hören und erzählen. Und es ist der Anfang einer wundervollen Erzählkultur, wenn die „sprachlosen“ Kinder dann nach Hause kommen und ihre Eltern fragen „haben wir denn auch unsere Märchen?“, und die Eltern graben längst Verschüttetes aus ihrer Erinnerung aus und finden dort tatsächlich - ein Märchen! Der Auszug in die Fremde fand also - und findet immer noch - auch für die Märchen statt.

Wilhelm Grimm war der erste, der die Verzweigung der Märchenstoffe in aller Welt entdeckte. Wie ein riesiges Pilzgeflecht, das unter der Erde weit entfernte Pflanzen miteinander verbindet, so umfassen die Märchen die Welt. Märchen fahren um die Welt, mit Reisenden, mit Flüchtlingen, mit dem fahrenden Volk. Eine viale Erzählgemeinschaft (vial von via der Weg, Prof. Dr. Wilhelm Solms) hat sie im Gepäck, sie wiegen nicht schwer und sind doch so wichtig. Beim Fahren wird Erfahrung (sic!) in Geschichten gegossen, in allgemeingültige und für alle Zeiten bedeutsame Märchen.

Es gibt wunderschöne Zigeunermärchen, wie Prof. Dr. Solms erzählte. Ja, "Zigeuner" darf man sagen. Das Wort, vor einigen Jahren erst zur political incorrectness verurteilt, dieses Wort ist die Bezeichnung der Sinti und Roma für sich selbst, sofern sie Fahrende sind. Aber der tatsächliche Mord an der ethnischen Minderheit der Sinti und Roma findet seine Spiegelung im Mord an den Zigeunermärchen. Und so finden wir am Schluß vieler Zigeunermärchen einen Zusatz wie: „seitdem lügen die Zigeuner immer. Und wenn sie nicht gestorben sind, lügen sie noch heute.“ Oder „Aber Petrus brachte ihnen bei, wie sie zu betrügen hätten.“ Woher kommt dies? Es gibt eine einfache Erklärung dafür: Zigeuner schreiben ihre Märchen nicht auf. Sie erzählen sie. Und zwar auf Romani. Wer sie aufzeichnet, das sind Fremde, die ihr eigenes Bild vom Zigeunerleben in ihre Aufzeichnung einfließen lassen.

Nun habe ich ein Rätsel für meine Leserinnen und Leser:

wenn ein Zigeuner sagt „ich lüge immer“ - hat er dann in diesem Augenblick die Wahrheit gesprochen (dann hätte er nicht gelogen und seine Aussage wäre damit gelogen) oder hat er gelogen (dann würde er gar nicht immer lügen, denn er hätte ja die Wahrheit gesagt und das tut er nach eigener Aussage nie). Wer dieses knifflige Paradoxrätsel lösen kann, der wird ganz sicher auch Elend und Verfolgung beenden können.

Ungelogen: Zigeunermärchen werden erzählt und nicht aufgeschrieben

Antiziganistische Märchen - das ist die Märchengattung der moralisierenden und verfremdeten Zigeunermärchen - sind also nicht originär. Dagegen gibt es Tonbandaufnahmen des ungarischen Zigeuners  Lajos Ámi, die niedergeschrieben und veröffentlicht wurden (http://www.ungarninfo.org/OldHomePage/land_leute/z_maer1.htm), und diese sind originär. Das Fahrende Volk, die Nicht-Seßhaften, haben ihre eigene Kultur, ihre eigenen Märchen. Sie nennen sich Zigeuner, Jenische, Tinker. Sie haben oft ihr Haus verloren wie einst der Odenwälder Räuber Mannefriedrich, und damit auch das Aufenthaltsrecht. Ohne Passepartout verlieren sie das Recht ihr Dorf oder auch ein anderes zu betreten.

Beklemmende Aktualität hat ein Detail aus dem Vortrag von Hans Sarkovicz, Ressortleiter HR Kultur. Er erläuterte das Schaffen von Ludwig Emil Grimm, dem Malerbruder von Jakob und Wilhelm Grimm. Ludwig Emil ist als der Erfinder des Comics zu betrachten: er zeichnete beispielsweise eine neun Meter lange "Schweinerolle". Sarkovicz zeigte ein Foto vom vielgenutzten Reisepaß Ludwig Emils, den die Zollbeamten zu jener Zeit aus Angst vor der Pest nur mit der Zange anfaßten, bevor sie ihren Stempel hineindrückten. Heute sieht man in der Tagesschau, wie Flüchtlinge von Helfern mit Mundschutz und Einmalhandschuhen begrüßt werden - so als hätten sie die Pest. Dabei sind es Menschen wie alle, nur ohne Heimat - und das unverschuldet...

Das klingt uns doch sehr aktuell, oder nicht? Wir kennen den Teufelskreis: ohne Wohnung gibt es keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Aber wir glauben alle, daß das UNS ja nicht betrifft. Und doch können wir sehr schnell in diese Situation geraten - und haben dann nichts mehr im Gepäck als die Hoffnung und die Märchen. Die 20. Reichelsheimer Sagen- und Märchentage im Oktober 2015 wurden zu einem Sprachrohr für Verständigung, für Gemeinschaft, für Unterstützung der zahllosen Flüchtlinge, die seit diesem Spätsommer nach Deutschland kommen. Das Motto „Brücken zwischen Menschen und Kulturen - Märchen aus Europa“ stand schon im Herbst 2014 fest, doch damals konnte noch keiner ahnen, wie brandaktuell es werden würde. Die Referenten und Märchenerzähler haben ihre Vorträge an die Situation dieses Herbstes angepaßt und wortgewaltige Argumente für die Eingliederung von Flüchtlingen, ja zuerst einmal für ihre freundliche Aufnahme, gefunden.

„Toleranz ist zu wenig. Achtung und Anerkennung ist erforderlich.“ so Prof. Solms.

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Mit Wehmut erfüllte ein weiterer Vortrag der Märchen- und Sagentage 2015: Helmut Früh ging aufs Märchen-Podest und erzählte sehr mitreißend das Lieblingsmärchen von Sigrid Früh. Sie war sehr oft als Märchenerzählerin bei den Märchen- und Sagentagen, bis eine Krankheit sie verstummen ließ. Aber dem  "Eselein" - ihrem Lieblingsmärchen, lauschte sie lächelnd. "Der Hut der großen Dame und drunter das rote Haar des Wildweibchen" - so beschreibt Odile Néri-Kaiser die Grande Dame der modernen Märchensammlung. Odile Néri-Kaiser, selbst Märchenerzählerin und für die wiederum erkrankte Hannelore Marzi eingesprungen, erzählte das Märchen "Finon et Finette" - das den Bogen zum aktuellen Thema "Migration der Märchen" schließt: es ist nichts anderes als die französische Urform von Hänsel und Gretel, das wir alle kennen. Vieles gäbe es noch zu erzählen über die Sagen- und Märchentage in Reichelsheim, aber Selbst erleben ist 1000 mal besser! Marieta Hiller, 28.10.2015

Dicke Luft herrschte einst beim Kleinen Volk im Zauberwald: „Der liebe Gott ist ein Eichhörnchen!“ riefen die Mooswichtel. „Er sieht von oben alles!“ und drücken dabei ihre goldene Nuß an die Lippen. Allerdings waren sie sich da nicht ganz einig: die Mooswichtel der Nadelwälder glaubten an das schwarze Eichhörnchen, die Mooswichtel der Laubwälder an das rote. Das konnte nicht gut gehen.

Da ließen sich auch schon die Zwerge vernehmen: „der liebe Gott ist ein kleiner gelber Vogel!“ Dazu muß man wissen, daß die Zwerge tief unten im Bergwerk ihre Erze abbauen, wo es immer finster ist und böse Wetter herrschen können.

„Wie oft habt ihr euren lieben Gott mit den Füßen nach oben aus dem Berg getragen?“ fragte sogleich ein vorwitziger Kobold.
„Er steht aber immer wieder auf!“ beharrten die Zwerge, verbeugten sich tief und rieben ihre Nasen an der Erde.

Die Kobolde aber verehrten die Knispelmäuse als ihr oberstes Wesen. „Wenn wir traurig sind, dann kommt eine von ihnen, schaut uns an mit ihren Knopfaugen und wackelt mit den Schnurrhaaren - und schon geht es uns wieder gut.“ Und schnell steckte der Kobold ein Räuchstäbchen in seinen heiligen Käse.

„Euer lieber Gott ist kein lieber Gott. Er wohnt im Pilzgeflecht und wacht über alles, er sieht alles, hört alles, und wenn wir nicht brav sind, schickt er uns seine schwefligen Pilzdünste zur Strafe.“ schimpfte der Waldschrat.

Da ließ sich auf einmal auch die alte Hutzel vernehmen, die dem ganzen Streit still gefolgt war. „Seht ihr denn nicht, was dahinter ist? Wer hinter die Dinge schaut, der erkennt die Wahrheit...“ Alle waren erstaunt, denn es kam wirklich höchst selten vor, daß die alte Hutzel einmal ihre Weisheit hören ließ. „Gott ist soviel größer als alle eure Eichhörnchen, Knispelmäuse und Kanarienvögel, auch größer als das Pilzgeflecht, obwohl ich zugeben muß daß das wirklich riesig ist.“

Da gingen alle sehr nachdenklich auseinander und niemand weiß, ob sich auch bei den Menschen solche Gedanken gemacht werden. Der liebe Gott währenddessen, er saß oben im Himmel und lächelte. Und er war in den Kanarienvögeln, im Pilzgeflecht, in den Eichhörnchen - gleich ob sie schwarz oder rot waren, und in den Knispelmäusen. Und in den Bäumen, Gräsern, im Moos, im Bächlein, in der Sonne, in den Rehen, in den Wölfen, in den Kobolden, in den Zwergen, dem Waldschrat, den Wichteln, und - ja, auch in den Menschen. Aber das wußte nur er ganz allein... Marieta Hiller, im Oktober 2015

Der goldene Boden des Handwerks

Vorzeiten war ein Schneider,der drei Söhne hatte ...
Jeder kennt diese Zeilen: so beginnt das Märchen vom Tischlein-Deck-Dich der Brüder Grimm. Darin geht es um drei Brüder, die jeder ein Handwerk erlernten: ein Schreiner, ein Müller und ein Drechsler wurde aus ihnen. Die Märchen der Brüder Grimm fallen in eine Zeitströmung, in der sich die Weltsicht vom Adel hin zum einfachen Menschen orientierte.

Und dieser mußte zu allen Zeiten sein Brot verdienen, und mit etwas Glück auch noch Butter und Käse dazu. Die Erlebnisse von Handwerksburschen sind eine reiche Fundgrube für Erzählungen. Dies zeigten die Reichelsheimer Märchen- und Sagentage Ende Oktober 2014, die das Handwerk im Märchen zum Thema hatten.

Handwerkermärchen bieten eine gute Möglichkeit zu versteckter Gesellschaftskritik. Ein Handwerksbursche, der sein Ziel nicht erreichte, blieb auf der Landstraße und konnte sich nicht niederlassen, oder er verstarb auf der Walz: von ihm sagt man „er ist auf der Strecke geblieben“.

Zu jener Zeit hatten die Handwerkszünfte  noch Bestandsschutz, aber mit der Industrialisierung kam die Gewerbefreiheit, der Bestandsschutz der Zünfte fiel weg. Dies geschah etwa zur gleichen Zeit, als die großen Räuberbanden ihr Ende fanden. Durch diese Entwicklungen wandelte sich der Erzählstoff ins Märchenhafte, das vor langer langer Zeit einmal war, und nicht mehr ist. In spannenden Vorträgen und Märchenerzählungen wurde das Thema bei den Reichelsheimer Sagen- und Märchentagen 2014 von allen Seiten beleuchtet, und das ganze Städtchen war märchenhaft geschmückt mit „bestrickenden“ Motiven.

Der Handwerker - ein Banause??

In der griechischen Mythologie war das Handwerk ein verachteter Berufsstand. Der Handwerker heißt auf griechisch banausos. Der Grund: durch handwerkliche Arbeit werde der Körper der Arbeiter und Aufseher geschädigt, da diese die ganze Zeit sitzen, oder unter einem Dach oder gar vor dem Feuer arbeiten müssen. Ihre Körper werden dadurch verweichlicht, was eigentlich verweiblicht meint, sprich ohne Sonnenbräune. Dies wiederum mache ihre Seele anfälliger für Krankheiten. Zudem bleibe den Handwerkern kaum freie Zeit, um sich um Freunde oder ihre Umgebung zu kümmern, was sie für geselligen Umgang und zur Verteidigung des Vaterlandes gänzlich unbrauchbar mache. Die alten Griechen hatten in einigen besonders kriegstüchtigen Städten ein Gesetz, demzufolge es Bürgern nicht erlaubt war, in handwerklichen Berufen zu arbeiten.

Aber durch die ganze Antike, das Mittelalter und den Feudalismus hindurch mußte das Handwerk doch stetig betrieben werden, denn Tisch und Stuhl, Rad und Messer, Kleidung und Haarputz brauchten sie doch, die vornehmen Herrschaften. Und so werkelte es emsig in den Werkstätten, während in den Stuben die Märchen erzählt wurden. Märchen vom tapferen Schneiderlein, vom Müllersburschen, vom Weber und der Spinnerin und von den sieben Zwergen - sie alle waren zu hören in Reichelsheim an drei märchenhaften Tagen. Lesen Sie auch unseren Buchtipp zum Wildweibchenpreisträger Andreas Steinhöfel!

Lesen Sie zum Thema märchenhaftes Handwerk auch, wie die Menschen früher ihre Stubenwände verzierten, als Tapeten noch etwas für Fürstenhäuser waren.

Unser Buchtipp: die unglaublichen Erlebnisse von Rico und Oskar

Rico und Oskar sind zwei besondere Jungen in Berlin: der eine ist hochbegabt, der andere tiefbegabt. Gemeinsam erleben sie die seltsamsten Dinge. Selten habe ich in den letzten Monaten so herzlich über ein Buch lachen müssen, hier eine Kostprobe zum Beweis für außerirdische Intelligenz:

Rico: Hoffentlich kriegte ich den Satz richtig hin. „Für ein tatsächliches Vorhandensein von extraterrestrischer Intelligenz fehlt nämlich bisher jeder Beweis.“ Ha, erste Güteklasse!
Oskar: "den Beweis gibt es schon längst."
Rico: Verdammt. ... "Na, da bin ich ja mal gespannt."
Wieder Oskar: "der unwiderlegbare Beweis für außerirdische Intelligenz ist daß sie sich bei uns auf der Erde nicht blickenläßt.
"

Der Autor Andreas Steinhöfel las während der Märchen- und Sagentage Reichelsheim 2014 aus der Rico-Oskar-Trilogie vor und wurde für sein Werk mit dem Wildweibchenpreis geehrt. Dieser Preis wird alljährlich in Reichelsheim an herausragende Jugendbuch-Autoren verliehen. Steinhöfel erzählte auch, wie er ans Kinderbuchschreiben gekommen ist: er hatte sich über ein Kinderbuch so geärgert, daß er dem Verlag einen Brief schrieb. Dieser antwortete schlicht „machs besser“, und Steinhöfel machte es besser. Seine Bücher lesen sich spannend wie Krimis und erheitern auch Erwachsene immer wieder mit überraschenden Einblicken.

Bd. I Rico, Oskar und die Tieferschatten, Bd. II Roco, Oskar und das Herzgebreche, Bd. III Rico, Oskar und der Diebstahlstein, alle drei im Carlsen-Verlag mit Bildern von Peter Schössow, zusammen 22,97 Euro, erhältlich in Ihrem regionalen Buchgeschäft!          Viel Spaß beim Schmökern - Marieta Hiller

Hic sunt Dracones: warum Landkarten früher weiße Flecken hatten

Alte Karten sind faszinierend: was entdeckt man nicht alles darauf! Früher richteten die Kupferstecher, die die Vorlage für den Kartendruck herstellten, ihre Platten nach Osten aus: Jerusalem lag am oberen Kartenrand, die Karte war „orientiert“. Der Begriff kommt von Orient = Osten. Später erst drehte der Wind und die Karten wurden nach Norden ausgerichtet, wo der Polarstern steht. Die Kupferstecher hatten ihre ganz besondere Signatur für ihre Platten, verschnörkelte Kartuschen, die zwangsläufig eine Region auf der Landkarte verdeckten. Wie bei einem Vortrag von Johann Heinrich Kumpf über Bernhard Cantzlers Karten von 1623 und ihr Fortleben bei der letzten Neustädter Tagung des Breuberg-Bundes zu sehen war, blieben in späteren Kartendrucken oftmals dort weiße Flecken, wo auf dem Original diese kunstvolle Kar-tusche erschien. So ist in der Cantzler-Karte von 1623 die Region zwischen Darmstadt, Arheiligen, Nierstein, Erfelden, Stockstadt, Griesheim und Gräfenhausen fast leer. Ob es dort wohl auch Drachen gab? „Hic sunt dracones“ - hier gibt es Drachen - wurde in alten Karten überall dort vermerkt, wo der Erforscher entweder aus Faulheit oder aus Feigheit nicht hingekommen war, oder aber wo es etwas gab, was andere nicht finden sollten. Wahlweise konnte auch mit „hic sunt leones“ gewarnt werden, auf Meeresflächen mit Seeungeheuern. Solche leeren Räume faszinierten durch die Jahrhunderte und fanden sogar Eingang in Frank Schätzings Werk: im Zukunftsroman Limit schreibt er vom „unprogrammierten Raum“. Der Der Chaos Computer Club machte das Motto „here be dragons“ zum Kongressmotto des 26. Chaos Communication Congress. Die Server von OpenStreetMap haben literarische Drachennamen und Captain Picard (star treck) sagt in bezug auf das kommende Unbekannte: „Beyond this place there be dragons“ (Das nächste Jahrhundert, Folge 28). Videospiele werden spannend durch alte Pergamente, auf denen „Hic sunt Dracones“ zu lesen steht (Divinity 2: Ego Draconis und Eternal Darkness). „Hic sunt leones“ sagt William von Baskerville in Umberto Ecos „Name der Rose“ am „finis africae“. Um Drachen geht es auch auf diesen Seiten: hier finden Sie eine Zusammenstellung mit dem Wenigen, was die Welt über Drachen weiß - und was sie bisher noch nicht wußte... Viel Vergnügen beim Stöbern,

Marieta Hiller - im Dezember 2014

Das geheimnisvolle Leben der Drachen

Überall um uns her sind Drachen. Wir müssen nur unsere Sinne schärfen, dann können wir sie sehen... Hic sunt dracones - hier sind Drachen - das trugen die Entdecker vergangener Jahrhunderte mit feiner Feder in ihre wunderschön gezeichneten Landkarten ein, wenn sie nicht zugeben wollten, daß sie eine unentdeckt gebliebene Landschaft nicht besuchen konnten oder wollten. So "reservierten" sie sozusagen diese Option für sich, ohne daß sich andere Entdecker dorthin wagten. Erfolgreich waren sie damit nicht, denn heute gibt es auf der Welt keine unentdeckten Landstriche mehr. Selbst die unendlichen Weiten des Weltalls, "die nie zuvor ein Mensch..." wurden zwischenzeitlich durch zahllose Science-Fiction-Autoren erforscht. Oft genug holte die Realität ihre spannenden Romane ein... Drachen findet man nicht mit Entdecker-Expeditionen. Drachen findet man, wenn man auf sie achtet. Denn nichts grämt einen Drachen mehr, als wenn niemand mehr an ihn glaubt - und so wird er schließlich unsichtbar. Aber sie sind da...

Drachen in der Geschichte der Menschen

Hildegard von Bingen vermerkte in ihrer Physica (um 1150) über die Heilkräfte der Natur zum Thema Drachen:

„Mit Ausnahme seines Fettes ist nichts von seinem Fleische und den Knochen für Heilzwecke verwendbar …“

Eigentlich schade, denn Drachen können so wohl tun... Im Mittelalter waren die Menschen überzeugt, daß es Drachen gibt. So sind auf der Carta Marina von 1539 weiße Flecken, die einfach noch nicht erforscht waren. Die großen Abenteurer konnten das natürlich nicht zugeben und schrieben in ihre Karten einfach "hic sunt dracones" - Hier gibt es Drachen! Selbst noch bis in die Neuzeit hielt man Drachen für real existierende Wesen: 1837 schrieb Samuel Schilling, deutscher Entomologe, in seiner "Ausführliche Naturgeschichte des Thier-, Pflanzen- und Mineralreichs" in einem Extra Kapitel über die Drachen, eingepaßt zwischen Basilisken und Leguan:

"Die Drachen sind eidechsenartige Thiere, deren Körper allenthalben mit dachziegelförmig liegenden Schuppen bedeckt ist, von welchen diejenigen am Schwanze und an den Gliedern gekielt [..] sind; die Zunge ist fleischig, aber wenig ausdehnbar. [..] Die Drachen sind kleine, unschädliche Thiere, welche sich auf Bäumen aufhalten und von Insekten leben. Sie finden sich in Ostindien und auf den Inseln der Südsee."

Seltsam, daß Drachen kleine Tiere sein sollten, die auf Bäumen leben! Zum Glück wissen wir das heute besser... Für Schilling waren die realen Drachen keine Fabelwesen:

"Von dem Drachen, wie wir ihn in der Naturgeschichte kennen lernen, müssen wir den Drachen der Fabelwelt unterscheiden; [..] Da dieser Drache nichts weiter als ein Hirngespinst war, so mußte natürlicherweise die Beschreibung von seiner Gestalt und Lebensart sehr verschieden ausfallen."

Man brauchte starke Zaubersprüche, um Kontakt zu einem Drachen aufzunehmen. Solche Zaubersprüche kommen von ganz innen aus unserer Seele, wo es sehr wohl Drachen gibt! Deshalb begegnen wir den Drachen auch oft in Zaubermärchen. Das sind die ältesten Märchen die wir haben. Hatte man den richtigen Zauberspruch, oder ein Wünschelding, so konnte man jederzeit mit seinem Drachen sprechen und er beschützte uns! Zaubersprüche gehören zu unseren ältesten Ritualen, so gibt es die Merseburger Zaubersprüche aus dem 8. Jahrhundert, aber auch aus der Antike schon gibt es Zaubersprüche von Plinius d.Ä., von Marcellus und Pelagonius.

Alles über Drachen: die Sprachecke von Heinrich Tischner!

Im Jahr 2022 schickte mir der Bensheimer Pfarrer i.R. Heinrich Tischner seinen Beitrag zum Thema Drachen. Lange Jahre unterhielt Tischner die Leserinnen und Leser des Darmstädter Echo mit seiner Sprachecke, bis diese 2018 vom Echo eingestellt wurde. Viel Interessantes las ich dort über die Jahre, Tischners Sprachecke war eines der Highlights dieser Zeitung - schade!

Für meine Drachenseiten bekam ich also Folgendes:

Herbstzeit ist Drachenzeit. Die frischen Winde fordern geradezu auf, einen Drachen steigen zu lassen. Früher hat man diese "Windvögel" selbst gebastelt aus kreuzförmig verbundenen Stäben, speziellem Drachenpapier und viel Schnur. Außer den üblichen rautenförmigen Fliegern gab es aufwändiger gebaute Kastendrachen, die sogar kleine Lasten transportieren konnten. Nicht nur das Bauen, auch das Fliegenlassen ist eine Kunst, die nicht jedem gelingt.

Wir unterscheiden zwischen Drachen 'Windvogel' und Drache 'ein Fabeltier', aber eigentlich ist es dasselbe Wort. Das Fluggerät stammt aus China und hatte die Gestalt des Fabelwesens. Als Spielzeug kam es in Europa zu Beginn der Neuzeit auf, soll aber schon vor tausend Jahren für militärische Zwecke verwendet worden sein. Im spätrömischen Heer diente der Drache an einer Stange als Feldzeichen. Er war gebaut wie ein Windsack und flatterte und wand sich im Wind. Die Römer hatten ihn von den iranischen Parthern übernommen und nannten ihn draco, wie das Ungeheuer. Geschnitzte Drachenköpfe hatten die Wikinger auf den Vordersteven ihrer Schiffe. Die sollten die Feinde abschrecken und mussten abgenommen werden, wenn man sich der Heimat näherte. An diese Köpfe erinnert altnordisch dreki, schwedisch draka, das nicht nur 'Drache' bedeutet, sondern auch 'Kriegsschiff'.

Wenn Blicke töten könnten, würden viele Menschen nicht mehr leben. Die Römer und die Nordleute glaubten, dass der Anblick eines Drachens Verderben bringt. Diese Vorstellung steckt anscheinend schon hinter dem Namen: Der kommt von griechisch δράκων drákōn 'Drache', abgeleitet von δέρκεσθαι dérkesthai 'scharf anblicken'. Auch einem schlangenähnlichen Monster, dem Basilisken, schrieb man einen tödlichen Blick zu. Heute trägt eine harmlose Leguanart diesen Namen. Der griechische Name βασιλίσκος basilískos bedeutet eigentlich 'kleiner König', auch den Zaunkönig hat man so genannt. Vielleicht dachte man ursprünglich an die "Königsschlange", die Kobra, welche die Krone der Pharaonen zierte. Von Perseus wird erzählt, er habe einem Scheusal namens Medusa das Haupt abgeschlagen, dessen Haare aus Schlangen bestanden. Wer diesen Kopf anblickte, erstarrte zu Stein. Medusen nennen wir heute quallenartige Tiere, deren Arme sich mit Schlangen vergleichen lassen.

Ein Leguan ist kein Drache, eine Qualle kein Monster und eine Fledermaus kein Vampir. Wir haben die Welt entzaubert. Die Ungeheuer, Ausgeburten der Angst, wurden zu normalen Lebewesen. Das fing im Altertum schon an: In der Bibel ist der Drache Leviathan ein Krokodil. Aus dem Seeungeheuer Tannin wurde später der Thunfisch. Und nach Reinhold Messner ist der sagenhafte Yeti im Himalaja ein Bär, kein "Schneemensch".

Heinrich Tischner, Sprachecke Echo-Zeitungen 02.10.2006. Viele weitere Beiträge sind in Tischners Sammlung, und ich glaube, ich werde sie in einem meiner künftigen Jahrbücher verwenden - schauen Sie gelegentlich mal hier rein, wann es erscheint!

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Und jetzt lest ihr noch einiges Interessante von Kobold Kieselbart, der sich noch immer im Felsenmeer herumtreibt, aber als Menschenbeauftragter des Kleinen Volkes im Jahr 2021 in Ruhestand gegangen ist.

Wie soll der kleine Drachen heißen, der kürzlich aus dem Ei geschlüpft ist?

Bei meinen Kindergeburtstagen im Felsenmeer, die ich auf Drachenschatzsuche schickte, mußte immer auch dem kleinen Drachen, der in diesem Jahr aus dem Ei schlüpft, ein Name gegeben werden. Roni und ihre Geburtstagsgesellschaft schlug vor: Judith Sofia Spiro Dominik Riesenfeuerdrachen Feuerpfeil Merker Nebelnacht Feuervogel
Die Geburtstagsgesellschaft von Anna Maria entschied: Herr Igor Spy Numal Bingo Ringo Flingo Dingo Flong

Der Große Rat des Kleinen Volkes berät jedes Jahr am Heiligabend darüber und dann hat wieder ein junger Drache seinen Namen.

Warum Drachen so traurig sind

das erfährt man in dieser Geschichte: Glückssteine und Sternenstaub...  und in dieser hier...

Daß Drachen überhaupt nicht fürchterlich und gräßlich sind, beweist dieses Buch: Gerard Moncomble / Michel Tarride: Ferdinand, der Drache. Es ist im Eichborn-Verlag erschienen, hat aber schon ein paar drachenschuppige Jährchen auf dem Buckel (1994) und darf seitdem in meinem Bücherregal gleich neben dem Bett schlafen. Ihr seht also: vor Drachen - und gar vor Büchern über Drachen - muß man sich nicht fürchten, man schläft sogar viel besser, wenn ein Drache über dem Bett wacht...

Eigentlich hieß Ferdinand "Chalumeau le Dragon", und eigentlich ist seine Geschichte eine ganz alltägliche Geschichte von den alltäglichen Problemen, die auch einen Drachen nicht verschonen: Verdauung, Arbeitslosigkeit, der Schatz wird einem gestohlen - ach was erzähle ich euch das, ihr wißt es schon selber. Am Ende aber wird alles gut und Ferdinand wird das Maskottchen der Gilde der Feuerspucker. Schaut mal rein: das Buch erschien beim Eichborn Verlag in Frankfurt (ISBN 3-8218-3655-5) - und vergeßt nicht: Bücher bestellt man beim örtlichen Buchhändler und nicht im fernen fernen Buchhändlerfresserland! Ich fürchte, den Eichborn Verlag gibt es gar nicht mehr: er wurde 2011 an die Bastei Lübbe GmbH & Co. KG verkauft. Und "Ferdinand den Drachen" gibt es nur noch antiquarisch für Drachenfreunde. Falls ihr das Buch haben wollt, dann denkt aber immer dran: jede Buchhandlung in eurer Nachbarschaft kann alle die Dienstleistungen erbringen, die auch die ganz Großen, Ungerechten bringen. Und die Buchhandlung in der Nachbarschaft kann euch noch viel mehr bieten: sie riecht nach Büchern! Und man kann die Bücher wispern hören. Das muß das Internet erstmal nachmachen...

Lindenfelser Drachenbuch "Der Drache Eujeujeu"

Am internationalen Museumstag 2014 hatte das Deutsche Drachenmuseum Kinder und Erwachsene zum Schreiben einer eigenen Drachengeschichte aufgerufen. Das Ziel war, die Beiträge in einem Buch zusammen zu führen. Erfreulich viele schriftstellerische Talente aus der Region haben ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, Drachengeschichten aufgeschrieben und sie dem Drachenmuseum zur Verfügung gestellt. Rechtzeitig zum 5-jährigen Bestehen des Drachenmuseums im März 2015 ist das Buch fertig gestellt. Der Verein wird das Buch und seine Autoren nun vorstellen und sich bei allen Einsendern bedanken. Am 6. März 2015 um 17.00 Uhr wird es präsentiert: im Deutschen Drachenmuseum in Lindenfels, In der Stadt 2. Die Drachen-Geschichten sind nun alle im Buch „Der Drache Eujeujeu“ versammelt: auch von Marieta Hiller sind zwei Geschichten und eine Zeichnung darin. Das Buch mit der ISBN-978-3-86386-818-5 ist bei Ihrer Buchhandlung oder im Deutschen Drachenmuseum Lindenfels erhältlich. Im Buch sind zwei kurze Geschichten über Drachen von Marieta Hiller zu lesen:
"Wie das früher mit den Drachen gewesen ist..." und "Ein ganz kurzes Drachenmärchen ohne Gezicke und Feuergespucke" - die zweite Geschichte war exklusiv im "Drachen Eujeujeu" zu lesen und sonst nirgends zu finden - noch nicht mal hier! Erst jetzt - zu Weihnachten 2022 - dürft ihr sie auch hier lesen!

Warum der kleine Feuerdrache versteinert ist...

Schaut euch das »Krokodil« im Felsenmeer einmal genau an! Erkennt ihr, was es in Wahrheit darstellt? Einen Drachen!

In Wahrheit ist es allerdings kein echter Drache, dazu ist er viel zu klein.
Es handelt sich um ein Abbild von Lakrimeo zu Wüstenbrand, der einst für die alte Hutzel im Zauberwald die Kristalltränen weinte. Diese benötigte sie um daraus die Zukunft der Wesen im Zauberwald zu lesen. Denn immer am Heiligen Abend, der auch schon vor sagenhaften Zeiten hier von allen Zauberwaldbewohnern gefeiert wurde, immer am Heiligen Abend gleich nach dem gemeinsamen Essen holte die alte Hutzel ihre Alabasterschale hervor, in der sie die kostbaren Kristalltränen der Drachen aufbewahrte. Daraus las sie einem jeden Wesen die Zukunft des kommenden Jahres: den Kobolden, den Elfen, den Zwergen, dem Waldschrat, der Eule Schuhuuu und der Schneckenpost von Huiiiii und Husch. Auch die Eichhörnchen, die Buchfinken und die Regenwürmer bekamen zu hören, was ihnen bevorstand.

Doch die Kristalltränen wurden immer seltener, denn die Drachen wurden immer übermütiger. Fröhlich spuckten sie Feuer, schlugen in der Luft Purzelbäume und ließen den einen oder anderen Berg in Stücke zerstieben. Das Weinen von Kristalltränen aber ist eine ernste Angelegenheit, zu der man sämtliche Konzentration zusammen nehmen mußte.

Schließlich hatte die alte Hutzel nur noch sieben Kristalltränen in ihrer Schale, und es waren noch acht Zauberwaldbewohner ohne Zukunft übrig. Da nahm die alte Hutzel den rubinroten Lakrimeo zu Wüstenbrand zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Niemand vom Kleinen Volk konnte hören, was es war, aber Lakrimeo wurde sehr nachdenklich. Still und schweigsam verkroch er sich in seiner Höhle und kam erst zum Mitternachtsimbiß wieder heraus. Rot waren seine Augen und aus den Nüstern kam nur ein klägliches Wölkchen aus Rauch. Aber Lakrimeo hatte das allernetteste Drachenlächeln aufgesetzt, zu dem ein Drache nur fähig war - denn er war glücklich: er überreichte der alten Hutzel die achte Kristallträne, ohne daß das Kleine Volk etwas bemerkte.

Und so konnte die alte Hutzel einem jedem von ihnen die nächste Zukunft voraussagen, und kaum war alles ausgesprochen, da zerstoben die acht Kristalltränen zu buntem Staub. Aber als die Kobolde, die Zwerge, die Elfen und der Waldschrat am Weihnachtstag durch den Zauberwald streiften, da war etwas Neues zu entdecken: mitten im Felsenmeer war ein steinernes Bild von Lakrimeo entstanden - nur viel kleiner.

Alle staunten, und auch die albernen Drachen, die nur Unfug trieben, kamen vorbeigeflattert und schauten sich das steinerne Bild von Lakrimeo an. Nun wollte ein jeder ein solches wunderschönes Steinbild von sich haben, die Drachen übten die akrobatischsten Posen und umschwänzelten die alte Hutzel drei Tage lang. Doch die wichtige Aufgabe des Kristalltränen Weinens durfte fortan nur Lakrimeo übernehmen, und jeden Abend brachte er der alten Hutzel treu und zuverlässig eine neue vorbei. Das steinerne Bild des rubinroten Feuerschweifs Lakrimeo aber steht noch bis zum heutigen Tag im Felsenmeer, auch wenn es in den vielen Tausenden von Jahren inzwischen grau geworden ist. Aber das ist auch Lakrimeo geworten: alt und grau, und noch immer weint er jeden Abend eine neue Kristallträne - und ist dabei doch der glücklichste Drachen des Zauberwaldes.

Marieta Hiller, Dezember 2015

Der Osterdrache vom Felsenmeer: neue Geschichte!

Es trug sich aber vor vielen vielen Jahrhunderten zu - mitten im Felsenmeer - wo eine alte Eiche stand. Viel hatte die Eiche schon gesehen in ihrem Leben, und viel könnte sie uns heute erzählen - wenn es sie noch gäbe... Doch ach, schon lange steht sie nicht mehr. Selbst die Großmutter konnte sich nur noch ganz schwach an Frühlingstage der Kinderzeit erinnern, als das Sonnenlicht zwischen den grünen Blättern flirrend umherirrte.

Stünde sie noch, so könnte die Eiche uns diese Geschichte selbst erzählen. So aber muß ich ein bißchen aushelfen. Längst sprießen schon wieder viele kleine Eichen an ihrem Ort, doch die sind des Erzählens noch nicht so mächtig, und ich bin nicht sicher, ob ihr alle die Eichen-Babysprache verstehen könnt!
Nun denn, so will ich mit der Geschichte beginnen: einst, vor vielen vielen Jahrhunderten - das sagte ich ja bereits - trug es sich zu, daß ein junger Drache aus seinem Ei schlüpfte, gerade als der Ostermond voll wurde.

Ihr müßt wissen, daß Drachen in den allermeisten Fällen zum Ostervollmond schlüpfen. Jedenfalls taten sie das in früheren Zeiten. Heutigentags schlüpft kein Drache mehr, nicht zum Ostervollmond und auch nicht in anderen Nächten, und schon gar nicht am hellichten Tag! Und das kam so: unser Drache, nennen wir ihn Estra, denn er war ein Mädchen, und Estra bedeutet Ostern. Unsere Estra also war emsig beschäftigt, die Eierschale aufzubrechen und sich Stück für Stück herauszuarbeiten. Gerade als sie ihren linken Flügel ausstreckte, damit die Falten sich glätten sollten, da drang ein übles Geschimpfe an ihr Ohr:

„Du stacheliges Vieh, schon wieder hast du mich überlistet! Na warte!“ Und als Estra ihren schuppigen Hals hinter den Felsen hervorstreckte, da sah sie unten auf der Wiese einen erbosten Hasen, der fäusteschwingend auf einen Igel einschimpfte.
Der Igel aber lachte den Hasen aus.

Dann stapfte der Hase davon, hocherhobenen Hauptes, bog um die nächste steinerne Ecke und ward für ein paar Tage nicht gesehen. Doch kaum war der Mond vom Nachthimmel verschluckt und kam schon als sich rundender Mond wieder, da tauchte der Hase wieder auf.

Estra reckte verwundert den Hals, denn er kam nicht allein. Hatte er am Ende vom Igel gelernt, wie man zu zweit eine Aufgabe zu seinem Vorteil erledigen konnte? Doch nein, nicht zu zweit kam der Hase! Sieben junge Häschen hoppelten hinter ihm her! Das gefiel dem Igel und seiner Frau natürlich überhaupt nicht, denn die kleinen Häschen sahen zwar niedlich aus, waren aber auch verdammt schnell. Und nachdem sich der Igel und seine Frau fünfmal zur Vollmondzeit abgehetzt hatten, um als erster am Ziel zu sein, wie die Wette galt, da wurde es dem Igel zu bunt.

„Du dämliches Langohr - du schummelst ja!“ Doch da hatten die sieben jungen Hasen ihrerseits schon sieben mal sieben kleine Häschen dabei, und dem Igel wurde angst und bang.
Da half keine List mehr, die Hasen waren einfach in der Überzahl. Wurde einer mal müde vom schnellen Laufen, schwupps so sprang schon der nächste ein. Auf diese Weise haben übrigens die Hasen einst den Staffellauf erfunden, der heute eine olympische Disziplin ist.

Dem Igel taten die Füße weh, und seine Frau lag ihm in den Ohren: „ich kann nicht ständig wegen deiner blöden Wette draußen rumlaufen, da ist auch noch die Küche, und die Wäsche, und die Kinder, und weißt du wann ich das letzte Mal shoppen war?!“ Da erdachte sich der Igel abermals eine List, aber es war keine nette! Er nahm seine Stacheln ab und steckte sie in die Ackerfurche, gerade dort, wo Familie Hase emsig mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war. Bald schon hörte man die ersten Schmerzensrufe, als das eine oder andere Häschen einen Stachel in der Pfote hatte. Und schon waren alle sieben mal sieben plus Chefhase mit Stacheln lahmgelegt.

Der Igel rieb sich die Hände und sprach zu seiner Frau: „du kannst dir Zeit lassen, aber tu mir den Gefallen und geh noch ein einziges Mal ans Ende der Furche, tu es weil du mein treusorgendes Weib bist.“ Da ließ sich die Igelin erweichen und stapfte zum Ende der Furche, wo sie ihren langgeübten Spruch aufsagte: „ich bin schon da!“

Woraufhin - der Ostervollmond jährte sich - ein ohrenbetäubendes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter anhob. Sieben mal Sieben plus ein Hase hatten ein ganz ansehnliches Repertoire an Schimpfwörtern, ihr glaubt es nicht! Und diese Schimpfkanonade ging nun auf Familie Igel nieder, und dabei blieb es nicht: schon flogen die ersten Hasenköttel Richtung Igelhausen, und Igelstachel wurden aus Armbrüsten gen Hasendorf geschossen.

All dies betrachtete sich Estra ungläubig, denn sie war ja noch jung. So ein Drache ist sieben mal sieben plus ein Jahrhundert ein Kleinkind, das die Welt aus großen Augen bestaunt, und es dauert meist weitere sieben mal sieben plus ein Jahrhundert, bis sie ins Grundschulalter kommen und die einfachsten Dinge der Welt begreifen. Vielleicht sind Drachen aus diesem Grunde einfach zu langsam für unsere schnelle Welt.

Doch Estra, so jung sie auch noch war, begriff eines ganz klar: dort entbrannte ein Krieg, und Krieg war nicht gut.
Denn die Weisheit wird den Drachen in die Wiege gelegt, und schon als Babydrachen sind sie fähig, salomonisch kluge Sprüche zu tun.
Und deshalb beschloß Estra, diesen Krieg zu beenden. Sie verkroch sich in ihr Drachenei, weinte ein paar große salzige Drachentränen, die sogleich tief in die Erde sanken, wo sie zu funkelnden Kristallen wurden.

Aus ihrem Ei heraus grollte Estra heraus: „ihr streitendes Wiesenpack! Ihr seid schuld, daß ich weinen muß! Deshalb bleibe ich jetzt hier in meinem Ei, bis die Welt ein friedlicher Ort geworden ist, und niemand, nicht Hase, nicht Igel und nicht Mensch (was Estra eigentlich mit uns Menschen hatte, weiß ich nicht...) soll mich vorher wieder zu Gesicht bekommen!
Ihr beiden aber, ihr sollt verwunschen sein, bis ihr Frieden schließt: dir Igel und deiner Frau sollen die Beine krumm und kurz werden, so daß du mühsam deinen dicken Bauch über den Boden schieben mußt. Und du Hase sollst voller Furcht leben, dich ständig umschauen und auf der Flucht sein, und auch die Deinen!“

Nach dieser langen Rede schlief Estra erschöpft in ihrem Ei ein, und dort ruht sie noch heute, und wir dürfen sie nicht wecken.

Diese Geschichte habe ich am Ostervollmond 2013 zum ersten Mal erzählt und zu Ostern 2016 ein bißchen umgeschrieben, denn natürlich gibt es sowohl auf der Burg in Lindenfels als auch im Felsenmeer Drachen, und einer von den Drachen im Felsenmeer heißt sicherlich auch Estra... Ich werde Kobold Kieselbart bei Gelegenheit danach fragen, versprochen! Marieta Hiller

Ein Märchen für Große und Kleine

In einem Land weit hinter den tiefen Wäldern, verborgen zwischen den Hügeln, da gab es ein kleines friedliches Königreich. Die Sonne schien, und der König war zufrieden. Seine Hofbediensteten und seine Untertanen freuten sich am Sonnenschein, und auch sie waren zufrieden, selbst wenn es einmal regnete.

Da kam eines Tages auf einem buntscheckigen Pferd ein seltsamer Mann dahergeritten. Er wolle den König sprechen, und er ließ nicht ab von seinem Wunsch, bis daß die Torwachen ihn endlich einließen. Am dritten Tag ließ ihn der König vor seinen Thron treten und fragte ihn nach seinem Begehr. „Ihr habt keinen Hofnarren! Wißt ihr denn nicht, daß jeder König von Format einen solchen unabdingbar braucht? Ich biete Euch untertänigst meine Dienste an, und ihr werdet bald schon sehen, daß es sich mit Hofnarr um vieles komfortabler regiert!“

Der König ließ sich das durch den Kopf gehen, aber weil die Sonne schien war er’s zu guter Letzt zufrieden. „Wohl denn, so sollst du mein Hofnarr sein,“ sprach er. Der Hofnarr machte seine Späße, wie das für Hofnarren so üblich ist. Doch oft geschah es, daß dem König und seinem Hofstaat das Lachen im Halse stecken blieb. Zuweilen verschluckte sich auch einer der Höflinge an einem jener Späße. Es dauerte gar nicht lange, da hatte sich etwas Graues, Zähes über das ganze Land gelegt.

Kein Lachen klang mehr unbekümmert, kein Witz der nicht erst von allen Seiten betrachtet werden mußte, ob man denn auch wirklich drüber lachen sollte. Nicht einmal die Sonne schien mehr hell und klar. Alles war dem Hofnarren zu schlecht: der Schloßgarten bot keinen Schatten, das Dach hatte Löcher, die Untertanen waren frech, das Frühstück kam zu spät, die Hof-damen waren zu fett, die Pferde zu lahm, der Hofstaat zu steif und der König zu nachgiebig. Schlecht war alles, worauf der Hofnarr schaute, und laut posaunte er es an der königlichen Tafel heraus.

Bald gab es bei Hofe niemanden mehr, der noch wußte wie man unbeschwert lachte. Die Hofmusikanten spielten schwermütige Weisen, ohne Begeisterung und Kunstfertigkeit, wie man es sonst von ihnen gewohnt war. Tanzen wollte sowieso niemand dazu. Der Geschichtenerzähler sagte nur noch „ach“ und „weh“, und der Hofmaler hatte sich auf abstrakte Grautöne verlegt. Die Frauen stickten keine bunten Blumen mehr in ihre Tücher, und den Kühen schien das Gras nicht mehr zu schmecken. Bald kam der Herbst, und nicht einmal das Laub der Bäume wollte sich bunt färben.

Der erste Schnee bedeckte das Grau, doch es war nur ein hellerer Ton von Grau. Am Weihnachtsabend endlich war des Königs Herz so schwer geworden, daß er in seiner Kapelle beim Gebet so tief seufzte, daß es in den Wänden widerhallte. Drei kummervolle Seufzer tat er und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein Lufthauch zog ihm um die Ohren, und als er aufblickte, da standen im Dämmer drei Feen vor ihm.

„Ich will dir für deinen ersten Seufzer etwas Glücksstaub geben. Streu eine Prise davon über das, was dich so unglücklich macht!“ sprach die erste Fee und gab ihm ein Töpfchen.
„Dein zweiter Seufzer soll auch nicht vergebens gewesen sein,“ sprach die zweite: „nimm dieses Tüchlein, und wo auch immer du etwas Graues siehst, so fahre damit drüber und es wird strahlen.“
Die dritte Fee aber, die sagte nur „ich kann dir für deinen dritten Seufzer nichts geben, denn was du brauchst, das hast du schon.“

Der König schüttelte verwundert den Kopf, rieb sich die Augen und nahm endlich das Töpfchen mit dem Glücksstaub und das Tüchlein gegen das Graue an sich. Was aber die dritte Fee gesagt hatte, das verstand er nicht. Er merkte es sich gut und nahm es mit zum Geschichtenerzähler. „Was hat sie damit gemeint?“

Doch der Geschichtenerzähler sagte nur „ach“ und „weh“. „Was hat sie damit gemeint?“ fragte der König darauf seine Königin. Doch die fädelte schweigsam einen neuen grauen Faden in ihre Sticknadel und antwortete nicht. „Was hat sie damit gemeint?“ fragte der König schließlich seinen Hofnarren. „Papperlapapp, wer glaubt denn schon einer Fee, wenn er einen Hofnarren hat!“ schimpfte dieser. Der König bedachte sich einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang, doch wollte ihm keine Antwort einfallen. Wohl freute er sich daran, daß der Glücksstaub das Genörgel und Gemäkle des Hofnarren an allem und jedem erträglicher machte, wohl konnte er mit dem Tüchlein etwas Licht in das Graue bringen, doch all das war nicht von Dauer.

Der Hofnarr machte alles schlecht, nichts war ihm gut genug, nichts konnte man ihm recht machen. Endlich hatte er es geschafft, daß der König, seine Königin, der ganze Hofstaat und alle Untertanen im Land so mißmutig und mürrisch das Weihnachtsfest begingen, daß selbst die Kirchenorgel nur noch knarrte und pfiff, daß es in den Ohren wehtat. Und der Hofnarr sprang vor den Altar und schimpfte laut, daß ein König der etwas auf sich hielt, doch nicht eine solche alte Orgel in seiner Kirche dulden könne. Auch sei die Kirche viel zu kalt und die Kronleuchter zu dunkel, die Kissen auf den Bänken zu dünn und der Pfarrer zu langweilig.

Da wurde es dem König zu viel. Er schlug mit der Faust auf die Kirchenbank, daß es nur so schallte. „Ich will, daß du endlich verschwindest! Und nimm all das Graue mit dir fort!“ Puff, machte es da - gerade als es Mitternacht schlug - und eine giftgrüne schwefelstinkende Wolke stand gerade dort, wo vorher der Hofnarr gewesen. Niemand wußte, wie es sich zutrug, aber der Hofnarr ward von Stund an nicht mehr gesehen.

Der König, seine Königin, der Hofstaat und die Untertanen, sie alle konnten plötzlich die Schönheit der Winternacht sehen, sie hörten das Säuseln des Windes in den Wipfeln der Bäume, sie freuten sich am Schnee, der blütenweiß die Felder bedeckte, und an den Sternen die vom Himmel funkelten. Das Königreich aber, das wurde fortan „Ich will“ genannt, und wenn sie dort nicht alle schon gestorben sind, dann sind sie noch heute glücklich und zufrieden miteinander.                Marieta Hiller

 Ein kluger Mann, den ich an dieser Stelle gelegentlich zu Rate ziehe, ist Heinrich Tischner aus Bensheim. Er unterhält eine sehr aufschlußreiche Seite im WeltWichtelWissen!

Seine »Sprachecke« im Darmstädter Echo war stets eine Fundgrube, so auch hier: um Geister und Kobolde geht es dabei, und daß es erstere nicht aber zweitere sehr wohl gibt, das belegt Tischner so nach und nach.

Den ältesten Textbeleg für das Wort "Kobold" datiert er in das Jahr 1135, doch erst 100 Jahre später (ging es dem Beleg da ähnlich unserem Dornröschen, das in 100jährigem Schlaf aufs Wachgeküßtwerden warten mußte?) tauchen Figuren auf, die als Kobold bezeichnet werden: so sei einem jener historischen Quellenschöpfer die Klage über den Adel gestattet, der zu Mißständen schweigt wie die stummen Kobolde, und ein hölzerner Bischof sei ihm lieber als jene sprachlosen Herren (hören wir nicht auch heute ein lautstarkes Schweigen zu den meisten Mißständen?)

Später dann bekam der Kobold jene Züge, die er noch heute trägt: als dienstbarer Hausgeist, unberechenbar aber nicht bösartig und immer zu Späßen aufgelegt...

Bei den Römern genossen die Hausgeister, die Laren, und die Ahnengeister, die Penaten, höchstes Ansehen; inklusive Hausaltar! Kleine Koboldstatuen aber gab es schon bei den keltischen Bandkeramikern aus der Jungsteinzeit - die aber, wir wissen es!, im Odenwald wohl eher nicht zugange waren.

Das Wort Kobold könne vom griechischen kóbalos stammen, was "berufsmäßiger Clown" bedeutet. Dagegen muß ich mich doch aufs Entschiedenste verwahren! Clowns sind wir ja nun wirklich nicht, nur ab und zu etwas launisch und niemals einem lustigen Streich abgeneigt. Es könnte aber auch mit dem Koben zu tun haben, der jedoch wiederum im Mittelhochdeutschen soviel wie "Schweinestall" bedeutete. Völlig abwegig also...

Dann kommen die Franzosen ins Spiel: Gobelin und später Goblin heißen wir dort. Gobelin war ursprünglich der Kosenamen für Godebold, laut Tischner heute noch in Göbel, Goppelt oder Koppelt (deutschen Familiennamen) vorhanden. Daß in Deutschland aus G ein K wurde, ist klar. Die Deutschen verschieben ja öfters mal ihre Laute, und meistens mit Wonne ins Härtere.

Nun aber zieht Heinrich Tischner den unverzeihlichen Vergleich zum Heinzelmann: dieser sei die Verniedlichung zu Heinz, und genauso sei es mit dem Kobold als Verniedlichung des Godebold. Zusätzlich belegt er das mit dem Götzen, der aus dem frommen Gottfried entstanden war.

Es grüßt euch aus dem sprachlosen Zauberwald: Kobold Kieselbart

PS: einem solch klugen Mann wie Herrn Tischner ist natürlich niemand im Zauberwald lange böse, keine Sorge!

Reichelsheimer Märchen- und Sagentage www.maerchentage.de

Spieglein Spieglein an der Wand - das Motto der 18. Reichelsheimer Märchen- und Sagentage 2013

2012 - Die lange Nacht der Märchen: König Jochen eröffnet am Freitag 26.10.12 die lange Nacht der Märchen und ahnt noch nicht, was am Sonntag auf ihn zukommen wird...
Eine Überraschung gelang der Freyen Ritterschaft Odenwald mit dem Ritterschlag Jochens vom Birkenhag (bürgerlich Jochen Rietdorf), der sich 11 lange Jahre bei den Märchen- und Sagentagen Reichelsheim seine Sporen redlich verdient hat.

Schmökern im Winter...

Und so nehme ich meine Bücherstapel, Dank sei Ellen Schmid, und verkrieche mich auf die Ofenbank ans knisternde Feuerchen (das ich nicht habe, denn wir wohnen mit elektronikgesteuerter Zentralheizung, automatischen Rolläden, Energiesparlampen und AAA-Kühlschrank...)
Doch kaum steckt meine Nase drin, tief drin in den Büchern - da ist all die moderne Technik vergessen, die mich umgibt. Ich bin zu Gast bei den Grimms - sei es im Berliner Tiergarten, an der Universität zu Göttingen, beim Zettelsortieren in Kassel oder Marburg oder in der Kinderstube zu Hanau, Gelnhausen, Steinau. Apropos Steinau: dort feiert man am 20. Dezember 2012. Es ist ein bißchen schwer zu finden, fast muß man schon Märchenforscher sein: begebt euch im WeltWichtelWissen nach Steinau, schaut dort unter Tourismus / Touristinfo / Sehenswürdigkeiten / Führer durch die Ausstellung im Brüder Grimm-Haus Steinau! So werdet ihr fündig werden, und wer weiß - vielleicht sieht man sich dort wieder....

Was war Jakobs Problem? Ein Gedanke zu Jakob, dem Wortgetreuen: aus dem Vortrag von Andreas Venzke (Reichelsheimer Märchen- und Sagentage 2012) entsteht ein Bild vor meinen Augen. Pedantisch, detailverliebt, (noch) unpolitisch und bindungsarm (außer an den Bruder Wilhelm und die geliebte Schwester), jeder Unordnung abhold - sei es die in seinen Zetteln oder der geforderte Bruch eines geleisteten Eides (den er nicht gebrochen hat), dafür sorgsam planend und organisierend: das wirkt auf mich wie jene Erscheinung, die man landläufig als Asperger-Syndrom bezeichnet. Doch will ich nichts behaupten, das wollen wir doch der Forschung überlassen...

Wer waren die Frauen hinter den Grimms? Lang vergangen sind meine Zeiten im Germanistikbetrieb, doch möchte ich alljährlich nach den Reichelsheimer Märchentagen wieder dran. War mir einst die Butter auf dem Brot notwendiger erschienen als Druckerschwärze auf knisternden Seiten, so werden ruhigere Zeiten kommen, da bin ich sicher. Die Frauen insbesondere, die Viehmännin, die „Marie“ und die erwürfelte Gattin - sie beschäftigen mich, und eine Geschichte der Grimms aus ihrer Sicht ist überfällig.

Thema "Erzähler und Forscher heute" - Reichelsheimer Märchen- und Sagentage 2012: Der wortgetreue Jakob, der seinen auf die Verfassung geschworenen Eid nicht brechen konnte - denkt nur an Rumpelstilzchen: Vertrag ist Vertrag! und lieber in die Verbannung ging; und der träumerische Wilhelm, der mehr dem  Erzählerischen zugeneigt war als dem Wort-Katalogisieren.
Ein Bild der Brüder entsteht, das - die Stapel sind schon gerichtet - durch Nach- und Wiederlesen ergänzt werden muß; der Winter ist lang, und die märchenhafte Buchhandlung von Ellen Schmid - ja 2021 gab es sie noch: eine echte aus Liebhaberei und mit Literaturverstand geführte Inhaber-Buchhandlung, doch nicht ganz ohne Internet - versorgt mich mit bedruckten Seiten übervoll. Ihr könnt eure Bücher durchaus im Internet bestellen: aber dann tut es bei den kleinen Buchhandlungen vor Ort - sie sind genauso gut sortiert wie das ferne ferne Buchhändlerfresserland!

Ein wahres Märchen von Marieta Hiller

Vor langer langer Zeit, als das Märchenerzählen noch in Mode war, da gab es zwei Brüder: Jakob und Wilhelm Grimm, und sie lebten im Laufe ihres Lebens an vielen Orten.
Es kam aber einmal die Zeit, da entbrannte ein Wettstreit unter diesen Orten, wer denn wohl die wahre Heimat der Brüder gewesen sei: war es Hanau, Gelnhausen, Steinau, Kassel, Marburg, Göttingen oder Berlin? Und so traf man sich gern an neutralem Ort: zu Reichelsheim, mittendrin im tiefen Odenwald, als die Blätter fielen, und auch der erste Schnee.
Märchen hörten wir dort, erzählte Märchen und wahre Märchen, von Erzählerinnen und aus der Wissenschaft. Reichelsheim ist der verwunschene aber sehr lebendige Ort, an dem alljährlich am letzten Wochenende des Oktober die Reichelsheimer Märchen- und Sagentage mit Wildweibchen-Preisverleihung stattfinden.

 

Die sieben Zwerge - ein jeder ein gefaltetes Individuum von Carolin Colin

Sie brachte uns Kuchen und Rotwein, weil wir sonst krank geworden wären...

Schon zum zweiten Male sprang sie für kranke Kollegen ein: Regina Haas-Sauer Wald-Amorbach) von der Europäischen Märchengesellschaft nahm am Freitag abend die Zuhörer im vollbesetzten Saal gefangen. Statt Kuchen und Rotwein für die kranke Großmutter brachte sie uns das englische Märchen vom häßlichen Hund mit den kleinen Zähnen, erzählte von der chinesischen Kaisertochter, die unbedingt eine blaue Rose wünschte und von dem kleinen indischen Hund, der sich zum Tempel der tausend Spiegel aufmachte. Sie war auch 2012 zur Stelle für eine kranke Kollegin. Dieses Mal konnte Hannelore Marzi und Silvia Studer-Frangi nicht kommen, und so lauschten wir den unter die Haut gehenden Märchen von Regina Haas-Sauer.

Wildweibchenpreisträgerin Carola Graf

Carola Graf brachte das Projekt »sprachlos« nach Unterfranken - Mit Worten Welten erschließen: Märchen erzählen ist gut. Aber wie erzählt man einem Kind Märchen, das kein Deutsch versteht? Und warum tun die Märchen diesem Kind, wenn man es trotzdem tut, so gut? Diese Frage stand am Anfang des Projektes »Sprachlos« in Berlin. In Schulen mit hohem Migrantenanteil startete man den Versuch, durch Märchenerzählen Interesse am Lernen der deutschen Sprache zu wecken. Weitere Infos: http://www.erzaehlen.de/erzaehlen.de/Wardetzky_Sprachlos.html Carola Graf aus Himmelstadt griff diese Idee auf und setzte sie gemeinsam mit Gesine Kleinwächter in 15 Würzburger Schulen um. Sie erzählte dort in den 1. Klassen jede Woche ein Märchen und ließ es die Kinder in der folgenden Woche nacherzählen. Selbst Kinder ohne Deutschkenntnisse lernen so sehr schnell und nachhaltig die Sprache. Die 2. Klassen kamen schnell dazu, denn darauf wollte kein Kind mehr verzichten... Märchen und Geschichten verankern sich besonders gut, weil sie die Kinder an ihrem jeweiligen ganz authentischen Ort abholen und mitnehmen. Sie stellen das Gegengewicht zur Reizüberflutung durch die Medien. Vorstellungskraft und Emotion werden angesprochen, und so wird die kreative Macht der Sprache geweckt. Die Kinder lernen, ohne es als Last und Pflicht wahrnehmen zu müssen und finden so sehr schnell ihren eigenen Platz in den Geschichten. Das Würzburger Projekt wird mit 20.000 Euro jährlich gefördert, die sich später einmal sicher auszahlen werden, wenn aus kindlichen Migranten gut positionierte Bürger geworden sind.
Infos: http://www.diemaerchenerzaehlerin.de/presse/2012-03-01.html

Übrigens hat Albert Einstein gesagt:
„Wollt ihr, dass eure Kinder intelligent werden? Dann erzählt ihnen Märchen!“

Auch Ellen Schmid, Buchhändlerin aus Brensbach, die mich stets mit neuem Lesestoff zum Thema Märchen versorgt, hatte bei den diesjährigen Märchen- und Sagentagen in Reichelsheim ihre eigene Lesestunde: sie sprang ein für die erkrankte Hannelore Marzi und las auf Breischber Ourewällerisch (Brensbacher Odenwälderisch) Märchen. Dies ist ihre Muttersprache, und in der Schule lernte sie dann ihre erste Fremdsprache: Hochdeutsch, die sie heute fließend spricht. Ihre Zuhörerschaft verstand trotzdem jedes Wort, denn Märchenhören geschieht nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Der Dialekt brachte eine ganz besondere Behaglichkeit in die Märchen vom Hans im Glück (der sich die "Hoor uff hoppla gschdrische hott" - die Haare raufte) mit seiner Batschkapp un dem Klumbe Gold, vom Dornröschen, den sieben Geißlein und den Bremer Stadtmusikanten. Ellen Schmid erzählt Märchen übrigens auch in der Schule: selbst in den fünften Klassen sind sie heiß begehrt!

Märchen Musik und Mahl: untrennbar - Schneewittchen und der Neid der Königin

Besondere Leckerbissen bei den Märchen- und Sagentagen sind immer auch die theoretischen Vorträge zu einem Märchenthema. Kurzweilig und aufschlußreich, vorgetragen von beeindruckenden Persönlichkeiten, haben sie niemals etwas von der Langeweile heruntergeleierter Vorlesungen in miefigen Hörsälen. Hier in Reichelsheim möchte man gerne wieder Student sein, gerne die alten Karteikärtchen (auf Papier!!!) herauskramen, die man einst zur Märchenforschung vollgekritzelt hat... Solch ein Vortrag war auch der von Ingrid Riedel. Ein psychologischer Exkurs zum Märchen "Die sieben Zwerge", zu den Charakteren von Schneewittchen, der bösen Königin, dem unsichtbaren König und den sieben Zwergen, schließlich und zu guter Letzt dem Königssohn, der Schneewittchen aus dem Glassarg in sein Schloß holt, ließ uns atemlos lauschen.

Spieglein Spieglein an der Wand: wer ist die Schönste im ganzen Land?
Frau Königin, ihr seid die Schönste hier,
aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.

Eine Frau in den besten Jahren (die sind übrigens, auch wenn es keiner glaubt, ähnlich gut wie die "besten Jahre" der Männer!) neidet ihrer Stieftochter deren Schönheit, als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben einer Frau. Neid aber hat viel mit einem Spiegel - und um Spiegel geht es ja in diesem Jahr bei den Märchentagen - zu tun: er ist Ausdruck eines Ungleichgewichtes bei der Spiegelung unserer selbst: wir wollen etwas was andere haben (beliebtes Thema...), fühlen uns selbst also weniger wertvoll als jene. Wir werten uns selbst jenen gegenüber ab. Auch Eifersucht ist ein solcher Ausdruck. Das Gegenteil ist die Selbstüberwertung, der Narzißmus. Die Mitte muß gefunden werden - daraus besteht das ganze Leben. Ingrid Riedel aus Konstanz lehrt Religionspsychologie als Dozentin und Lehranalytikerin an den C. G. Jung-Instituten Zürich und Stuttgart und führt zudem eine Praxis als Psychotherapeutin. Aus ihrem reichen Erfahrungsschatz heraus erklärt sie in klaren Bildern und kurzen Sätzen ein ganzes Märchen. Wie sehen wir uns selbst? Wie sahen wir uns, als es noch keine Spiegel gab (ich weiß, es gibt Pfützen)?

Der Urspiegel überhaupt sind die Augen der anderen: wie reagieren sie auf mich? Daraus zieht der Mensch sein Selbstbild, seit er denken kann. Es ist wie bei einer Höhle: ihre Behaglichkeit entsteht nur durch die Tatsache, daß wir hinausschauen können. Und so fühlen wir uns in uns selbst behaglich, wenn wir hinausschauen in die Augen der anderen, und dort etwas finden, das uns selbst wertschätzen läßt. Mitgefühl, Mitempfinden der anderen ist ungeheuer wichtig für uns. Empathische Menschen verleihen uns Kraft. Doch nicht alle Menschen können Empathie empfinden und ausdrücken, deshalb erscheinen sie uns kalt wie ein Fisch. Erst kürzlich (1992) wurden im menschlichen Gehirn die Spiegelneuronen gefunden, die für die Empathie zuständig sind. Ingrid Riedel verfolgt bei ihrer Erklärung einen anderen Weg als den historischen: während es Forscher gibt, die die sieben Zwerge im Örtchen Bergfreiheit im Kellerwald ansiedeln und in Schneewittchen eine tatsächliche Prinzessin Margarete sehen, die über die sieben Berge nach Brüssel verbannt wurde, damit sie der bösen Königin "aus den Füßen" war, sieht Riedel die 7 Zwerge in uns selbst, in unserem inneren Bergwerk:

sie sind unsere Intuition, unsere Empathie - vielleicht als Gegenspieler der 7 Laster?

  • Superbia Hochmut (Eitelkeit, Stolz, Übermut)
  • Avaritia Geiz (Habgier)
  • Luxuria Wollust (Ausschweifung, Genusssucht, Begehren)
  • Ira Zorn (Wut, Rachsucht)
  • Gula Völlerei (Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Selbstsucht)
  • Invidia Neid (Eifersucht, Missgunst)
  • Acedia Faulheit (Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens)

Baut vielleicht ein jeder der Zwerge die Erze im Berg ab, die außer Gestein auch unsere inneren Schätze enthalten, und werfen die häßlichen Schlacken der Laster hinaus? Um ein Märchen wirklich zu verinnerlichen - und damit die Botschaft an unsere Seele - muß der Märchenhörer oder -leser sich in allen Figuren spiegeln, den bösen wie den guten. Nur so kann er seinen Weg zur Lösung finden...
Alle Figuren sind Helden, mit denen ich mich identifizieren kann (aber nicht muß!). Was hat es damit auf sich, daß eine Königin ihre Machtposition so stark gefährdet sieht, daß sie mehrere Mordversuche anstrengt? Sieht sie nicht ihren Platz in der Geschichte? Den Platz vom Werden und Vergehen? Auch Übergänge müssen gelebt werden. Wer ewig leben - und Macht ausüben - will, der sorgt für Stagnation. Das ist vielleicht der tiefere Grund, warum wir die Unsterblichkeit noch immer nicht erfunden haben... Wo ist eigentlich der König? Hat er nichts zu sagen, nichts zu geben? War er einfach nur erforderlich, damit die böse Königin durch seine Wiederheirat ein Stiefkind bekam? Und warum ist Schneewittchen so seltsam passiv? Ist nicht das Leben eines jeden von Aktivität geprägt? So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz wie Ebenholz sollte das kleine Mädchen der (lieben, aber leider verstorbenen) ersten Königin sein.

weiß wie Schnee: die Unschuld der Kindheit
rot wie Blut: die Lebendigkeit des Frauseins
schwarz wie Ebenholz: die Erfahrung des Alters

Die schlechteste Eigenschaft der bösen Königin ist sicher, daß sie in der "roten Phase" verweilen will, die Lebendigkeit aber durch Neid und Eifersucht ersetzt hat. Schneewittchen hat ebenfalls eine schlechte Eigenschaft: es will und will und will nicht aus der weißen Phase heraus. Deshalb geschieht alles mit ihm, aber nichts durch es. Jetzt aber werde ich mich in meinen Lesesessel verkriechen und erst einmal das Buch von Ingrid Riedel lesen. Wer weiß - vielleicht wird diese Seite dann noch länger.

Wildweibchenträger seit 1996

Viele bekannte Schriftsteller reihen sich ein in die Wildweibchenpreisträger seit 1996: Geschichtenschreiber und Geschichtsschreiber, Forscher und Erzähler. Mit Willi Fährmann (Kinder- und Jugendbuchautor aus Xanten) begann es, es folgten Hans-Christian Kirsch, Otfried Preußler (die kleine Hexe, Räuber Hotzenplotz, Krabat) und Michail Krausnick ("Beruf: Räuber" und viele weitere Werke z.B. über die Sinti und Roma). Cornelia Funke erhielt den Wildweibchenpreis im Jahr 2000 für ihr Gesamtwerk ("Die wilden Hühner"), das damals jedoch noch längst nicht komplett war: mit Tintenherz, Tintenblut und Tintentod (2003-2007) landete sie das deutsche Pendant zur Welt Harry Potters, diese Trilogie begeistert vor allem Jugendliche und Erwachsene. Ich mußte ein ganzes Jahr warten, bis ich auf der Warteliste meiner Nichte "drangewesen" wäre und habe mir die Trilogie schließlich selbst gekauft...
Paul Maar (das Sams und Lippels Traum), Christine Nöstlinger (das „wilde und wütende Kind“, Kinder- und Jugendbuchautorin aus Österreich), Sigrid Früh (eine der bekanntesten Märchen- und Sagenforscherinnen Deutschlands mit wunderbar alemannischem Akzent) und Heinrich Pleticha (Literaturforscher aus Leidenschaft) folgten. Ehrhard Dietl aus München wurde 2005 für "Otto der kleine Pirat" geehrt, Heinz Rölleke (Germanist und Erzählforscher), Sabine Friedrichson (Kinderbuchillustratorin) und Kirsten Boie (Kinderbuchautorin und Literaturwissenschaftlerin) kamen. Die Orientalistin Hannelore Marzi, Märchenerzählerin und Übersetzerin, wurde 2009 geehrt. Es folgten Reinhard Michl (Kinderbuchillustrator) und Wilhelm Solms (Germanist und Kunstwissenschafter), 2012 der Hamburger Illustrator Albert Schindehütte und 2013 die Märchenerzählerin aus Himmelstadt, Carola Graf.

Die deutsche Märchenhauptstadt

Schon von Beginn an verfolgte ich das Geschehen um die Märchentage in Reichelsheim. Das Städtchen und seine Leute hatten mich begeistert, vor allem auch weil - wie Carola Graf 2013 in ihrer Dankesrede sagte - "hier in der deutschen Märchenhauptstadt eine ganze Gemeinde Märchen lebt, so habe ich das noch nie erlebt!" Sie hat, wie so oft, den Nagel auf den Kopf getroffen. Spätestens seit 2002, als ich selbst mit zwei Beiträgen dabei war ("Kobold Kieselbart und die Riesen vom Felsenmeer" und bei der märchenhaften Schwanentafel mit Geschichten der Riesen vom Felsenmeer und Odenwälder Kobold-Märchen), wurde das Märchenfest zum fixen Termin in meinem Kalender. Spätestens im September, wenn die Veranstaltungstermine fürs nächste Jahr eingetragen werden, bekommt das letzte Oktoberwochenende ein dickes fettes X, damit ich nur ja nicht aus Versehen einen anderen Termin eintrage. Die ganze Geschichte der Märchentage findet man hier.

Marieta Hiller

Wo einst die Menschen herkamen und wer das verzapft hat...

Kobold Kieselbart berichtet aus uralten Zeiten, als es noch keine Menschen auf der Erde gab - wohl aber ein Gebirge im Odenwald, und eine seltsame Spur, die nach Afrika führt... Die Geburtszeit unserer Heimatgebirge liegt im Zechstein. Da gab es ein ganz besonderes Erz. Ihr nennt das was wir 'den blaugrauen Eisenhärter' nennen, Zechstein-Mangan-Erz. Inzwischen habt sogar ihr Menschen herausgefunden, daß man damit besten Stahl herstellen kann. Es ist genau zu jener Zeit entstanden wie unsere Gebirge. Bevor sie sich aus dem wütenden Vulkangebrodel erhoben hatten, lebte unser Volk, wie auch die Zwerge, Gnome, Irrlichter und Elfen, fernab der feuerspeienden Berge hoch droben im Norden, wo es sogar Trolle gibt. Dorthin hatten sich die Kleinen Leute in Sicherheit gebracht, als das hier so richtig losging. Ewig lange Zeit wohnten wir dort in Kälte und Dunkelheit, wo das Polarlicht über endlosen Eiswüsten flammt. In tiefen blauen Eishöhlen weit drunten unter der Oberfläche der Erde hatten es sich die Familien des Kleinen Volkes bequem gemacht. Warm und kuschelig war es dort, und unter Bergen von abgeschnittenem Zwergenhaar lagen die Koboldkinder geborgen im Dunkeln und lauschten von früh bis spät den Geschichten der Alten. Kobolde hören furchtbar gern Geschichten, und wenn grade nichts zu erzählen ist, dann denken sie sich neue aus. Auch über die Welt und die Naturgesetze denken sie viel und lange nach. So wurden die Kobolde zu dem was sie sind: klug und weise. Das Dunkel schärfte unsere Sinne: bald konnten wir hören, wie die Felsbrocken in den sonnendurchglühten Wüsten am Bauch der Erde knackten; wir sahen, wenn auf der andern Seite der Welt Schneeflocken aufs eisige Wasser rieselten, und  unsere feinen Näschen erspürten einen saftigen Zwergsaurierbraten überall, selbst wenn er im fernen Tasmanien über einem Buschfeuer brutzelte. So ließen wir es uns dort im tiefen warmen Dunkel der Eisgrotte gutgehen. Die Jahre dort waren gemütlich, aber sie waren auch lang. Denn nach der Vulkanzeit wurde es nicht besser: Sandstürme fegten über die neuen Gebirge hinweg und ließen alles Wasser vertrocknen. Wüste, Sand und wieder Sand und Wüste - nein, das war nichts für uns. Dann begann es zu regnen. Etwas später erhoben sich die Alpen. Dabei drückten sie mächtig auf unsere Gebirge, und die alten Schollen zerbrachen. Es war warm und feucht, und das war die Zeit, als die Riesen im Odenwald nur so zum Spaß zahlreiche Felsenmeere machten. 

Zu jener Zeit geschah das, was ich euch eigentlich erzählen will.

Die Kunde von den ruhigen, warmen und pflanzenreichen Zeiten war uns vom Kleinen Volk natürlich nicht verborgen geblieben. Die endlos langen Jahre drunten in den Eisgrotten schienen jetzt vorbei: die Sonne schien warm, und die Erde bebte nicht mehr. Alles war friedlich. So krochen wir aus unserem Lager von Zwergenhaar hinauf in den wärmenden Sonnenschein. Wie ihr wißt, gibt es auch hoch droben im Norden Tageslicht. Nur sind dort die Tage - und die Nächte auch - viel länger als an jedem andern Ort auf der Erde. Ein halbes Jahr Tag, ein halbes Jahr Nacht - das gibt es sonst nirgends, außer am Südpol, aber wer will dort schon hin! Und so ein Tag, so ein richtig herrlicher Tag mit Sonnenschein, der herrschte gerade zu der Zeit, als all die Gnome, Zwerge, Elfen und Kobolde an die Oberfläche der Welt zurückkehrten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Gestank da über die Eisfelder wehte! Tausende von Wichten klopften ihre muffigen Kleider an der Sonne aus und kämmten ihre langen eisgrauen Bärte durch. Die Nester aus Zwergenhaar wurden hinauf geschleppt und gründlich gelüftet, ehe sie zusammengerollt auf die vollgepackten Rucksäcke geschnallt wurden. Schon marschierten die ersten Familien gen Süden, voller Vorfreude auf die herrlichen Blumen und die wohlschmeckenden Tiere. Auch ich war bald reisefertig, und meine Verwandten versammelten sich schon. Und Hibbel-di-dibbel-di-rumbel-di-bum! machte es, da waren wir hier im Odenwald. Ja meint ihr denn, so ein Kobold müßte mühsam über Stock und Stein wandern? Tag um Tag, Woche für Woche, bis er endlich an das große Wasser kommt und dann nicht weiß, wie er drüber kommen soll? Nein! So ist das bei uns beileibe nicht. Dieses Vergnügen habt ihr Menschen glücklicherweise für euch ganz alleine. Wir Kobolde, wir stellen uns einfach genau die Gegend vor, wo wir hinwollen, dazu das Zauberwort, und schon sind wir dort. Das funktioniert bestens. Natürlich ist es hilfreich, wenn man die Gegend, wo man hinreisen möchte, schon kennt. Dann kann man sie sich einfach besser vorstellen. Nun gab es jedoch unter all dem Volk, das dort aus der Eisgrotte ans Tageslicht kroch, ein besonderes Wesen. Das war von klein auf ein Faulgnom gewesen. Als Junge war er zu faul gewesen, selbst zu essen und zu trinken, und so mußte er noch im heiratsfähigen Alter - das sind in Menschenjahren etwa, laßt mich rechnen, naja so um die siebenundzwanzigtausendvierhundertdreißig Jahre - also in diesem Alter mußte er immer noch gefüttert werden. Wie stolz war er stets auf seine zarten Händchen und Füßchen - benutzte er sie doch nie zum Arbeiten und Laufen! Gehen lernte der Faulgnom nämlich auch erst im reifen Erwachsenenalter, vorher ließ er sich überall hintragen. Eines aber tat er furchtbar gern, und das war auch zum Glück nicht sehr anstrengend: er lauschte für sein Leben gern Geschichten von fernen Ländern. Wo immer er einen von uns fand, der gerade nichts zu tun hatte, hielt er ihn fest und bat ihn eindringlich, ihm doch etwas zu erzählen. Besonders liebte dieser faule Gnom die Berichte über den Urwald auf den südlichen Welteninseln. Fasziniert hing er an den Lippen des Erzählers, vor seinen Augen zogen üppige Landschaften vorbei, wo es niemals kalt war und wo einem Tag für Tag die reifen Früchte in den Mund wuchsen. Der Faulgnom träumte gern von solchen Gegenden. Er malte sich aus, wie es wäre, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen und nichts tun zu müssen als auf den nächsten Hunger zu warten. Und so kam es, daß dieser Faulgnom an Afrika dachte, als die Zeit zur Abreise gekommen war. Afrika, so heißt die warme Welteninsel, wo der Urwald wächst, und wo alles so ist, wie sich unser Faulgnom das dachte. Ganz fest stellte er sich all die reichbehängten Obstbäume und Beerensträucher vor, gebratene Flugwesen huschten vor seinem inneren Auge herum, und alles duftete köstlich nach Vanille. Da war es auch schon passiert: der Gnom landete in Afrika, gerade dort, wo der Urwald am dichtesten ist.

Die Geschichte von den Menschen

Der faule Gnom dort im Urwald fühlte sich bald schrecklich einsam. Denn all seine Kumpane, seine Verwandten und das ganze übrige Kleine Volk hatte an etwas anderes als an Afrika gedacht, als es auf die Reise ging. Wer wollte denn auch schon nach Afrika! Das ist nicht gerade die ideale Gegend für Kobolde und Gnome. So war der Faulgnom dort ganz allein. Das fand er auf die Dauer nicht besonders schön. Außerdem war ihm furchtbar heiß. Den ganzen langen Tag knallte die Sonne auf die Urwaldbäume herunter, und die Luft war schwer und feucht und voller atemberaubender Gerüche. So schwer war die Luft, daß sie dem Gnom mächtig auf die Lungen drückte. Schweißperlen rannen ihm durch den verfilzten Schopf und durchweichten seinen langen Bart. Dornenranken, Kletten und klebriger Blütenstaub hielten ihn fest, wilde Tiere trachteten ihm nach dem Leben, und hinter jedem Baum glucksten irgendwelche unheimlichen schreckenverbreitenden Wesen. So wanderte der Kobold aus dem Urwald heraus in die freie Steppe. Das war mühsam, denn Steppengeschichten hatte er zuhause in der warmen, kuscheligen Eisgrotte nie hören wollen. Immer nur Urwaldgeschichten. Und so konnte er sich nun die Steppe nicht vorstellen, also auch nicht Hibbel-di-dibbel-di-rumbel-di-bum! dorthinreisen. Den ganzen langen Weg mußte er zu Fuß zurücklegen. Ihr könnt euch vorstellen, wie seine zarten Füßchen danach aussahen.

Die Idee...

All die Mühsal des täglichen Lebens und die furchtbare Langeweile, die den Faulgnom auch in der Steppe wieder beschlich, brachten ihn schließlich auf eine Idee. Er wollte sich unter all den Wesen, die es hier gab, eines zur Gesellschaft heraussuchen. Eines, das ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, das ihm frische Luft zufächelte und gekühlte Getränke servierte. Eines das ihm Geschichten erzählte und mit ihm lachte. Doch soviel er auch suchte und schaute, ein solches Wesen fand er nicht. Zunächst probierte der Faulgnom alle möglichen Tiere aus. Manche konnten ihm ganz gut Kühlung zufächeln, der Elefant etwa, eine ziemlich neue Tierform. Der hatte große Ohren zum Fächeln. Aber leider war dieses große graue Tier auch stets zu Späßen aufgelegt, und so brachte es oftmals vom Fluß einen ganzen Rüssel voll schlammigen Wassers mit und spritzte den Faulgnom damit naß. Und eins muß ich euch sagen: naß werden wir vom Kleinen Volk gar nicht gerne. Also das war nichts mit dem Elefanten. Außerdem konnte er beim besten Willen keine Geschichten erzählen. Auch mit den Hyänen ging die Sache nicht lang gut. Die lachten zwar mit unsrem Faulgnom den ganzen Tag, aber bald beschlich ihn das Gefühl, daß sich die albernen Tiere bloß über ihn lustig machten. Er versuchte es noch mit den Giraffen, weil er sich dachte: wer so einen langen Hals hat, der kann bestimmt besonders lange Geschichten erzählen. Schließlich mußte das doch ziemlich dauern, bis die Geschichten aus diesem Hals heraus wären. Aber die Giraffen glotzten nur blöde und blieben stumm. Da sah er einmal eine Herde seltsamer Höckertiere vorbeiziehen, die die ganze Zeit die Lippen bewegten, als hätten sie sich furchtbar viel zu erzählen. Doch leider verstand der Faulgnom kein Wort, ja er hörte noch nicht mal was. Die Tiere, Kamele nennt ihr sie, sahen ihn nur sehr von oben herab an, zuckten mit ihren Höckern und zogen von dannen. Außerdem hatten sie Plattfüße. Erst als der Faule sich an die Affen erinnerte, machte er Fortschritte. Dazu mußte er jedoch wieder in den Urwald, wo die Affen auf den Bäumen leben. Er hatte schon etliche Arten durch, als er an eine Horde vielversprechender Tiere geriet. Sie schnatterten und lachten und tobten herum, dabei rissen sie büschelweise Blätter aus dem Dickicht und warfen damit nach unserm Gnom. 'Das ist genau das Wesen, das mir fehlt', dachte der sich da. Flugs nahm er ein paar Exemplare mit sich hinaus in die sonnige Savanne und begann, einen Stammbaum anzulegen. Bald hatte er ein paar besonders gelehrige Exemplare herausgezüchtet, die sogar auf zwei Beinen liefen, um mit ihren Händen besser greifen und Dinge transportieren zu können. Dadurch hatten sie das Maul frei, in dem andere Tiere alles tragen müssen. So hatten diese Affen den ganzen Tag Zeit zum Reden und Lachen. Und das taten sie auch. Der Gnom war begeistert.

Der Mensch - von einem Faulgnom gemacht?

Schimpft nicht zu früh, ihr Menschen! Ihr züchtet Früchte, die im Dezember reif sind, mit tauben Samen und ohne Geschmack! Ihr bastelt Bakterien, die es vorher nie auf der Erde gab, und die ganze Völker von Euresgleichen einfach dahinraffen? Ihr beschießt euch gegenseitig mit todbringenden Wesen, die ihr selbst geschaffen habt! Bei euch heißt das Technologie, und wenn wir so etwas tun - und wir tun es wahrhaftig nicht oft, und schon gar nicht gerne - dann ist es Blasphemie? Also ich muß schon sehr bitten.

Ein Affe namens Link

Doch zurück zu unserer Geschichte. Wie gesagt, der Faulgnom war hell begeistert von seinen Experimenten. Fröhlich plappernd zog eine Gruppe seiner jungen Wesen durch die Savanne, und der Faulgnom lauschte entzückt ihren Unterhaltungen. Ein besonders schönes Männchen mit Namen Link fiel ihm immer wieder auf. Es war kräftig und schnell, wendig und schlau, und alles was der Gnom von ihm wollte, tat es prompt und mit Begeisterung. Der Gnom beschloß, Link mit in seinen Bau zu nehmen, damit er ein besonderes Augenmerk auf ihn halten konnte. Bald kochte Link für ihn, bürstete sein abgeschabtes Lederwams, kämmte ihm die zauseligen Barthaare glatt, und natürlich tat er all das gerne und zuvorkommend. Doch manchmal kam es dem Gnom so vor, als fehlten Link seine Freunde. Immer wenn sich das Wesen unbeobachtet glaubte, hockte es traurig in einem Baum und starrte in die grüne Blätterwildnis. 'Der Kleine braucht eine Frau', dachte sich der Gnom. Und er machte sich sogleich auf den Weg, um ein besonders hübsches Exemplar aus seiner Herde herauszusuchen. Weil er jedoch dachte, zwei Diener sind besser als einer, wählte er eine kräftige, stämmige kleine Frau mit langen schwarzen Haaren aus, die ordentlich zupacken konnte. Bald schon hatten sich die beiden Wesen angefreundet, und kaum war ein Jahr vergangen, da gab es quiekenden Nachwuchs in der Wohnhöhle des Faulgnoms. Link und seine kleine Frau waren ganz stolz auf ihre beiden Kinder. Im Lauf der Jahre entwickelten sich diese noch erfreulicher als ihre Eltern, sie waren ein ganzes Stück klüger und lauschten den Worten des Faulen mit verständiger Miene. Hin und wieder machten sie wirklich intelligente Einwürfe, es waren sogar Vorschläge dabei, auf die der Gnom von selber gar nicht gekommen wäre. So vergingen die Jahre, und unser Gnom hatte seine helle Freude an der neuen Sippschaft, die bald wuchs und wuchs, bis er schließlich eine ganze Herde hatte. Eins war intelligenter als das andere, es war wirklich eine Pracht.

Miß Ing und verwischte Spuren ...

Da begann ganz hinten im Kopf des Faulgnoms ein unschöner Gedanke an seiner Freude zu nagen. Was wäre, wenn einer käme und ihm seine Erfindung abspenstig machte! Hin und her überlegte er, denn er wollte seine neuen Wesen mit niemandem teilen. Schließlich hatte er nächtelang dagehockt und gegrübelt, um danach Jahr um Jahr Experimente durchzuführen. Ihm gehörten diese Wesen, und niemand sonst sollte sie haben. So beschloß er, die Spuren zu verwischen. Lange grübelte er darüber nach, wie er das bewerkstelligen könnte. Doch das Schicksal kam ihm zuvor, und der alt und grau gewordene Link starb, und bald darauf auch seine treue Gemahlin Miß Ing. Der Faulgnom brachte sie in eine abgelegene Höhle tief unter der Erdoberfläche. Durch unzählige Gänge schleppte er die beiden Wesen dorthin, wo ihm gewiß niemand folgen konnte. Dort blieben ihre Körper zurück und dörrten aus, bis sie zu Staub zerfielen. Den sammelte der Faulgnom Körnchen für Körnchen sorgsam auf und streute ihn in alle Himmelsrichtungen, so daß er ordentlich auseinanderstob. Hättet ihr heute dieses Pulver und könntet es richtig zusammensetzen, dann hätten eure Wissenschaftler endlich das gefunden, was sie schon lange für eure fehlenden Urahnen halten. Marieta Hiller, "Kieselbarts Geheimnis" - ein leider längst vergriffenes Buch mit Koboldgeschichten aus dem Zauberwald.

Vor vielen Jahren, am Abend des Gründonnerstag, bei Vollmond, erzählte ich dieses Märchen auf der Burg Lindenfels. Dazu habe ich ein altes Märchen aus Niederdeutschland umgedichtet:

Es trug sich aber vor vielen vielen Jahrhunderten zu - auf einer Burg aus guten harten Steinen, in deren Hof eine alte Linde stand. Viel hatte die Linde schon gesehen in ihrem Leben, und viel könnte sie uns heute erzählen - wenn es sie noch gäbe... Doch ach, schon lange steht sie nicht mehr. Selbst die Großmutter konnte sich nur noch ganz schwach an Frühlingstage der Kinderzeit erinnern, als das Sonnenlicht zwischen den hellgrünen Blättern flirrend umherirrte. Stünde sie noch, so könnte die Linde uns diese Geschichte selbst erzählen. So aber muß ich ein bißchen aushelfen.

Längst steht schon wieder eine junge kleine Linde an ihrem Ort, doch die ist des Erzählens noch nicht so mächtig, und ich bin nicht sicher, ob ihr alle die Linden-Babysprache verstehen könnt! Nun denn, so will ich mit der Geschichte beginnen: einst, vor vielen vielen Jahrhunderten - das sagte ich ja bereits - trug es sich zu, daß ein junger Drache aus seinem Ei schlüpfte, gerade als der Ostermond voll wurde. Ihr müßt wissen, daß Drachen in den allermeisten Fällen zum Ostervollmond schlüpfen. Jedenfalls taten sie das in früheren Zeiten. Heutigentags schlüpft kein Drache mehr, nicht zum Ostervollmond und auch nicht in anderen Nächten, und schon gar nicht am hellichten Tag!

Und das kam so: unser Drache, nennen wir ihn Estra, denn er war ein Mädchen, und Estra bedeutet Ostern. Unsere Estra also war emsig beschäftigt, die Eierschale aufzubrechen und sich Stück für Stück herauszuarbeiten. Gerade als sie ihren linken Flügel ausstreckte, damit die Falten sich glätten sollten, da drang ein übles Geschimpfe an ihr Ohr: „Du stacheliges Vieh, schon wieder hast du mich überlistet! Na warte!“

Als Estra ihren schuppigen Hals über die Burgmauer streckte, da sah sie unten in der Vorburg auf dem Gras einen erbosten Hasen, der fäusteschwingend auf einen Igel einschimpfte. Der Igel aber lachte den Hasen aus. Dann stapfte der Hase davon, hocherhobenen Hauptes, bog um die nächste steinerne Ecke und ward für ein paar Tage nicht gesehen. Doch kaum war der Mond vom Nachthimmel verschluckt und kam schon als sich rundender Mond wieder, da tauchte der Hase wieder auf. Estra reckte verwundert den Hals, denn er kam nicht allein. Hatte er am Ende vom Igel gelernt, wie man zu zweit eine Aufgabe zu seinem Vorteil erledigen konnte?

Doch nein, nicht zu zweit kam der Hase! Sieben junge Häschen hoppelten hinter ihm her! Das gefiel dem Igel und seiner Frau natürlich überhaupt nicht, denn die kleinen Häschen sahen zwar niedlich aus, waren aber auch verdammt schnell. Und nachdem sich der Igel und seine Frau fünfmal lzur Vollmondzeit abgehetzt hatten, um als erster am Ziel zu sein, wie die Wette galt, da wurde es dem Igel zu bunt. „Du dämliches Langohr - du schummelst ja!“ Doch da hatten die sieben jungen Hasen ihrerseits schon sieben mal sieben kleine Häschen dabei, und dem Igel wurde angst und bang. Da half keine List mehr, die Hasen waren einfach in der Überzahl. Wurde einer mal müde vom schnellen Laufen, schwupps so sprang schon der nächste ein. Auf diese Weise haben übrigens die Hasen einst den Staffellauf erfunden, der heute eine olympische Disziplin ist.

Dem Igel taten die Füße weh, und seine Frau lag ihm in den Ohren: „ich kann nicht ständig wegen deiner blöden Wette draußen rumlaufen, da ist auch noch die Küche, und die Wäsche, und die Kinder, und weißt du wann ich das letzte Mal shoppen war?!“ Da erdachte sich der Igel abermals eine List, aber es war keine nette! Er nahm seine Stacheln ab und steckte sie in die Ackerfurche, gerade dort, wo Familie Hase emsig mit Hin- und Herlaufen beschäftigt war. Bald schon hörte man die ersten Schmerzensrufe, als das eine oder andere Häschen einen Stachel in der Pfote hatte. Und schon waren alle sieben mal sieben plus Chefhase mit Stacheln lahmgelegt.

Der Igel rieb sich die Hände und sprach zu seiner Frau: „du kannst dir Zeit lassen, aber tu mir den Gefallen und geh noch ein einziges Mal ans Ende der Furche, tu es weil du mein treusorgendes Weib bist.“ Da ließ sich die Igelin erweichen und stapfte zum Ende der Furche, wo sie ihren langgeübten Spruch aufsagte: „ich bin schon da!“

Woraufhin - der Ostervollmond jährte sich - ein ohrenbetäubendes Geschimpfe, Gekreische und Gezeter anhob. Sieben mal Sieben plus ein Hase hatten ein ganz ansehnliches Repertoire an Schimpfwörtern, ihr glaubt es nicht! Und diese Schimpfkanonade ging nun auf Familie Igel nieder, und dabei blieb es nicht: schon flogen die ersten Hasenköttel Richtung Igelhausen, und Igelstachel wurden aus Armbrüsten gen Hasendorf geschossen.

All dies betrachtete sich Estra ungläubig, denn sie war ja noch jung. So ein Drache ist sieben mal sieben plus ein Jahrhundert ein Kleinkind, das die Welt aus großen Augen bestaunt, und es dauert weitere sieben mal sieben plus ein Jahrhundert, bis sie ins Grundschulalter kommen und die einfachsten Dinge der Welt begreifen. Vielleicht sind Drachen aus diesem Grunde einfach zu langsam für unsere schnelle Welt. Doch Estra, so jung sie auch noch war, begriff eines ganz klar: dort entbrannte ein Krieg, und Krieg war nicht gut. Denn die Weisheit wird den Drachen in die Wiege gelegt, und schon als Babydrachen sind sie fähig, salomonisch kluge Sprüche zu tun.

Und deshalb beschloß Estra, diesen Krieg zu beenden. Sie verkroch sich in ihr Drachenei, weinte ein paar große salzige Drachentränen, die sogleich tief in die Erde sanken, wo sie zu funkelnden Kristallen wurden. Aus ihrem Ei heraus grollte Estra heraus: „ihr streitendes Wiesenpack! Ihr seid schuld, daß ich weinen muß! Deshalb bleibe ich jetzt hier in meinem Ei, bis die Welt ein friedlicher Ort geworden ist, und niemand, nicht Hase, nicht Igel und nicht Mensch (was Estra eigentlich mit uns Menschen hatte, weiß ich nicht...) soll mich vorher wieder zu Gesicht bekommen! Ihr beiden aber, ihr sollt verwunschen sein, bis ihr Frieden schließt: dir Igel und deiner Frau sollen die Beine krumm und kurz werden, so daß du mühsam deinen dicken Bauch über den Boden schieben mußt. Und du Hase sollst voller Furcht leben, dich ständig umschauen und auf der Flucht sein, und auch die Deinen!“ Nach dieser langen Rede schlief Estra erschöpft in ihrem Ei ein, und dort ruht sie noch heute, und wir dürfen sie nicht wecken.

Marieta Hiller, Ostervollmond 2013

 

 

Glauben Sie nicht alles! Vor allem nicht, daß Bawweddsche es mit ehrlicher Arbeit hat...
Noch während Sie sich wundern, was sie alles weiß - und sich fragen, woher sie das alles weiß - werden Sie um einige Runden Zuhören erleichtert. Als alte Köhlerstochter weiß Bawwedd natürlich, wie das Leben der ganz einfachen Leute vor 100 oder 200 Jahren aussah, warum die Räuber Räuber wurden und warum der Schwarze Mann so griesgrämig wirkte. Auch mit dem Müller - zwielichtig seit alters her, weil mit den finsteren Mächten im Bunde - und dem Schankwirt - Hehler und Betrüger aus Leidenschaft (?) versteht sich Bawweddsche natürlich bestens. Seien Sie also auf der Hut. Aber besuchen Sie mal eine ihrer Veranstaltungen! Tja, jetzt wollen Sie sicher noch wissen, wie Sie Kontakt zu Bawwedd bekommen. Doch das ist nicht ganz so einfach bei einer Räuberbraut. Da gibt es tote Briefkästen im Wald, an denen geheime Mitteilungen hinterlassen werden können, die mit etwas Glück - später, viel später! - abgeholt und - mit noch mehr Glück - sogar beantwortet werden. Es gibt Geräusche wie Käuzchenschrei, Wolfsheulen und andere unauffällige Kommunikationsmittel, das Waldtelefon, Zinken und - ja vielleicht weiß ja auch der eine oder andere Schankwirt etwas über Bawweddsche. Schließlich hat er schon oft genug das Scherflein verteilt, wenn sie mit ihren Räuberkumpanen Hals über Kopf und mit schweren Säcken beladen hereingerumpelt kam...