Da! Ich höre es schon wieder, das Bitten und Betteln: „Kieselbart! Erzähl uns doch noch einmal das wunderschöne Apfelmärchen von gestern! Wir wollen es noch einmal hören, und der brummdicke Boskopp ist extra herübergekommen, weil er es auch gern hören möchte!“ So geht das nun schon seit einer Woche, und alle waren sie seither da und haben sich das Märchen angehört: die liebreizende Gewürzluike, der vornehme Kaiser-Wilhelm-Apfel, der glanzbäckige Maunzenapfel und Krummstiel aus dem Rheinland, der sanfte Jakob-Fischer-Apfel und der genügsame Beerbacher Taffetapfel.
Und schon sitzen sie wieder hier unter dem mächtigen alten Bohnapfelbaum und schauen mich bettelnd an: das pausbäckige kleine Goldparmänchen, die stolze Champagnerrenette, der purpurrote Christkindlapfel und natürlich der Gast des Abends: der brummdicke Boskopp. „Also gut, ich erzähl ja schon! Aber ihr müßt mir dafür morgen eine große Schüssel voll allerbestem Apfelbrei bringen - sonst erzähle ich nie mehr eine Geschichte!“ ihr merkt es, ich lasse mich noch ein bißchen bitten.
„Du kriegst meine Portion und die von Luike und Krummstiel und Jakob“, „meine auch!“ - „und meine!“ rufen die drei durcheinander, und vom Bohnapfelbaum läßt sich ein neugieriges Rotkehlchen hören: „Piep, Piep, erzähl doch schon!“ Da muß ich wohl endlich anfangen... „Vor langer langer Zeit - so fangen die Märchen ja gemeinhin an - als die Menschen noch in Höhlen wohnten, da gab es weit hinter den hohen weißen Bergen, wo die Sonne aufwacht, ein Apfelbäumchen, das vom Fernweh geplagt war. Bekümmert sprach es zum quietschgrünen Apfelwürmchen: ‘ach, könnt ich doch nur in all die fernen Länder reisen von denen die Vögel zwitschern!’
Das Würmchen aber sagte nur hm hm hm - denn Würmchen können ja noch nicht sprechen - dann verkroch es sich in einen festen Kokon und kam erst drei Tage später wieder daraus hervorgekrochen. Aber was war geschehen? Aus dem quietschgrünen Würmchen war ein wunderschöner goldener Falter geworden!
Ohne noch Adieu zu sagen, streckte er die Flügel aus, blinzelte noch einmal mit den Fühlern und - flatterte davon, immer der Sonne hinterher. Da seufzte das Apfelbäumchen tief und dachte nach. Das war am Morgen. Am Mittag und am Nachmittag seufzte und dachte das Apfelbäumchen immer noch, und als es Abend wurde, da war es schon ganz und gar bekümmert. Die Nacht senkte sich herab, und das Apfelbäumchen war sehr traurig.
‘Schuhuuuuu! Wozuuuuu?’ erklang es da unheimlich aus den hohen Buchen gleich bei der Wiese. Und schon kam Huhuuuh herübergeflogen, lautlos wie eine Feder glitt sie durch die Zweige und ließ sich darin nieder. Vor Schreck stieß sich Paulchen, der kleine Siebenschläfer, den Kopf an, als er eilends zurück in seine Baumhöhle huschte. Doch Huhuuuh hatte kein Interesse an Siebenschläferbraten, nicht heute. Denn das Bäumchen war so traurig, daß man es an allen Blättern erschnuppern konnte. ‘Schuhuuu! Wozuuuu?’ rief sie wieder. ‘Was hast du? Warum bist du so traurig?’
‘Ach, ich wünschte ich könnte in all die fernen Länder reisen von denen die Vögel des Tages zwitschern!’ seufzte da das Bäumchen wieder.
‘Bäume können nicht reisen, Bäume haben Wurzeln.’ stellte die kluge Huhuuuh fest, denn sie hatte Naturwissenschaften studiert und kannte sich aus. ‘Laß dir doch erzählen, wie es in der weiten Welt zugeht, das muß genügen.’ Damit war für Huhuuuh das Problem erkannt, durchleuchtet und aus der Welt geschafft. Nicht aber für das Apfelbäumchen. Vor lauter Kummer fielen ihm schon die ersten Blätter aus, und das mitten im Sommer! ‘Oh oh!’ meinte da die Eule, denn sie erkannte, daß dieses Problem noch lange nicht aus der Welt geschafft war. ‘Ich fürchte, damit müssen wir zum Großen Rat des Kleinen Volkes gehen. Nur dort könnte es jemanden geben, der dir einen Rat wüßte!’ murmelte Huhuuuh. ‘Ich werde sehen, was sich einrichten läßt.’ Und schon war sie lautlos wie sie gekommen war, im Geäst der hohen Buchen verschwunden. Doch nicht lange, und sie kamen auf die Waldwiese - eins nach dem anderen trippelte, flatterte, hüpfte und kroch es aus dem Gehölz, und rings um das kleine Apfelbäumchen versammelte sich in dieser Nacht der Große Rat des Kleinen Volkes. Waldelfen und Blumenfeen huschten im Gras herum, Kobolde kugelten über die Wurzeln des Bäumchens, und ein mürrischer Waldschrat stopfte sich unter seiner Krone ein Pfeifchen. Es tanzte wie Nebelfäden zwischen den hohen Buchen, und bald wurden die Fäden dichter, und im Nebel war eine Gestalt erkennbar: die alte Hutzel höchstpersönlich war erschienen, um dem Apfelbäumchen mit Rat zur Seite zu stehen.
Die Sterne blinkten vom samtschwarzen Himmel, und der volle Mond schwamm durch eine schmale silbrige Wolke, als die alte Hutzel zu sprechen anhub.
‘Apfelbäumchen, du hast einen Wunsch? So sag uns, was du dir so sehr wünschst, daß dir im Sommer die Blätter ausfallen!’
Und wieder seufzte das Apfelbäumchen: ‘ach, ich wünschte ich könnte in all die fernen Länder reisen von denen die Vögel des Tages zwitschern!’
‘Ich wußte daß es eines Tages so kommen würde! Diese dummen Federbälle!’ schimpfte die alte Hutzel, aber keiner der Tagvögel konnte sie hören, denn es war ja Mitternacht.
‘Apfelbäumchen, du kannst nicht reisen. Denn du hast Wurzeln und bist an dein Fleckchen Heimat gebunden. Doch es gibt Flügel und Augen und Ohren, und Schnäbel um davon zu berichten. Stillt das dein Fernweh nicht?’ Doch das Bäumchen schüttelte sich, daß wieder ein paar Blätter fielen. ‘Ich will selber den Mondwind über silbrigen Steppen spüren, will Sonnenglut im Wüstensand atmen, und köstlich kühles Eis in blauen Grotten kosten!’
‘Bäumchen, Bäumchen, das kann nicht angehn!’ Die alte Hutzel schien einen Augenblick ratlos zu sein. Doch da erklang ein dünnes Stimmchen aus dem Gras: ‘Deine Kinder! Schick doch deine Kinder in die Welt hinaus!’ Ein zartes feines Elfenkind war es, das eigentlich schon längst in seinem Blütenkelch schlummern sollte und der Elfenmutter ausgebüchst war. Ja, es war gerade selbst auf dem Weg hinaus in die weite Welt - fast schon konnte es sie riechen!
Die alte Hutzel besann sich, dachte noch ein wenig über dies nach und wendete die eine?Idee dorthin, die andere hierhin, und schließlich hellte sich ihre Miene auf und sie verkündete die Lösung:
‘Deine Kinder! Das ist genial! Fünfe an der Zahl wohnen in den fünf Stübchen, und ihrer sieben sollen die fernen Länder sehen, von denen du so schmerzlich träumst. Siebenmal fünf Bübchen wirst du aussenden, und wenn sie groß sind und selbst mit ihren Wurzeln fest in ihrer Erde stecken, dann wirst du wissen, wie es in den fernen Ländern ist. So lange aber mußt du Geduld üben.
Sieben vom Kleinen Volk mußt du finden, deren ein jedes Fünfe mit auf die Reise nimmt. Geh in deine Stübchen und pack die Fünfe warm und weich und saftig ein. Wenn der Herbststurm kommt, so soll die Reise beginnen.’ Das sprach die geheimnisvolle alte Hutzel und verschwand in einem Nebelhauch zwischen den hohen Buchen. Die anderen vom Kleinen Volk aber blieben noch auf der Wiese und bedachten wohl, was sie gesagt hatte. Der stachelige Igel war der Erste, der mit Nachdenken fertig war, und er hüpfte auf und ab, wie es für Igel gar nicht üblich war - aber im Zauberwald ist das natürlich schon zu machen. ‘Ich werde der Erste sein, der deine fünf Bübchen in ihren Stübchen, warm und weich und saftig eingemummelt, mit auf die Reise nehmen will.’ rief er.
‘Hihihi’, lachten da ein paar Hasen am Rande der Wiese - denn mitten drauf hatten sie sich nicht gewagt. ‘Wir sind sowieso schneller als du, Igel!’ - Doch der Stacheligel grinste nur listig und schwieg dazu. Zum Apfelbäumchen aber sprach er: ‘Sobald du deine Bübchen eingepackt hast, will ich sie auf meinen Rücken nehmen und hinaustragen in die geheimnisvolle Ferne - weit bis ins Land der kalten Winter, denn dort habe ich einen Platz, wo winters ein Schälchen Milch für mich wartet.’
‘Und ich, ich könnt ein Netz für Fünfe knüpfen, ein Netz, in dem sie von Baum zu Baum vorwärtskommen und mit dem Herbststurm fliegen werden,’ rief Krikkelkrakkel, die Kreuzspinne mit den acht roten Söckchen.
Die goldene Gans schob die kleine Spinne beiseite - und die war schon froh daß sie nicht einfach in ihrem Schlund verschwand! - und schnatterte los: ‘So’n Quaquaquaquatschquatsch! In meinem Gefieder ist Platz für alle Fünfe, und warm ist es da, und weit kann ich fliegen!’ - ‘Du? Du läßt dich ja doch wieder bestehlen, und dann sind sie weg, die fünf Bübchen!’ schimpften die Eichhörnchen, aber die schimpften und fluchten eigentlich sowieso immer. Schließlich fanden sich die Sieben zusammen, die ein jedes fünf Bübchen hinausbringen sollten in die weite weite Welt: der stachelige Igel, Krikkelkrakkel, die goldene Gans, eine Blumenelfe namens Calendula, Uiuiui die Schnecke (was im Großen Rat des Kleinen Volkes zu Heiterkeit führte), der Jungkobold Knorzelnas und - man glaubt es kaum: selbst der mürrische Waldschrat hatte sich gemeldet. In alle Himmelsrichtungen wollten die Sieben schwärmen, um den Bübchen des Apfelbaums die fernen Länder zu zeigen. Einer zog nach Norden in die kalte Tundra, wo das Eis im Boden nicht einmal im Sommer wich. Einer wandte sich nach Süden, in die Gluthitze der weiten Wüste, wo es nur Sand zu trinken gab. Einer kroch tief hinunter in den Bauch der Erde, wo es warm und dunkel war. Eine flatterte hoch hinauf in die Lüfte, wo die Wolken Haschmich spielten, und so hoch hinauf, daß fast keine Luft mehr da war. Einer stapfte mutig über das weiße Gebirge bis hinaus ans große weite Meer, wo Salz die Lüfte würzte. Einer erklomm die höchsten Berge, denn er wollte daß seine fünf Bübchen alle fernen Länder auf einmal sehen sollten. Der Siebte aber trug seine Bübchen bis hinauf zur Venus. Über Jahr und Tag wollte man sich wieder auf der Waldwiese bei den hohen Buchen treffen, um zu berichten wie es den sieben mal fünf Bübchen ergangen war. Doch ach, bei diesem Treffen zeigte sich, daß die Bübchen des einen fast erfroren waren, die anderen beinah verdurstet, die nächsten schliefen und ließen sich gar nicht wecken, wieder andere wollten aus ihren Stübchen gar nicht heraus, und noch andere waren durchnäßt und erkältet.
Aus keinem einzigen der sieben mal fünf war ein Bäumchen gewachsen, das nun dem Apfelbaum von fernen Ländern erzählen konnte. Da wurde der Apfelbaum abermals sehr traurig, und schon fielen wieder die Blätter.
Die alte Hutzel bedachte alles wohl und sprach in die Runde: ‘seid nicht mutlos, meine Lieben! Ihr habt alles getan, was getan werden konnte. Doch eines habt ihr nicht bedacht: so, wie ein jedes von euch zu einem fernen Land aufgebrochen ist, war es allein und einsam. Doch nur gemeinsam können eisige Winde und luftlose Weiten, salzige Meere und finstere Tiefen, glutvolle Wüsten und rauhe Berge überwunden werden. Nur gemeinsam könnt ihr ein Land finden, das eure Apfelbäumchen nährt! Es muß von allem ein bißchen, aber von nichts zuviel haben. Ein bißchen Sonnenschein, ein bißchen Regen, etwas Schnee und Eis und ab und zu ein Stürmchen - und viele Wesen, die drin wohnen, mit einem Herz voller Liebe.’ Und so brachen die Sieben ein zweites Mal auf, ein jedes mit seinen fünf Bübchen in ihren fünf Stübchen. Gemeinsam fanden sie ein Land, das genau so war, wie die alte Hutzel es beschrieben hatte. Viele solche Länder entdeckten sie auf ihrem Weg, und überall ließen sie einige der fünf Bübchen zurück. Und bald schon wuchsen auf der ganzen Erde neue Apfelbäumchen, sie wurden groß und stark, und ihre Wurzeln reichten bis tief in die Erde hinein, und mittendrin trafen sie auf die des Apfelbaums auf seiner Waldwiese. Da wurde ihm so wohl ums Herz, denn endlich, endlich konnte er selbst - mit den Augen und Ohren seiner Kinder - die geheimnisvollen fernen Länder sehen! Ob aber auf der Venus nun auch ein Bäumchen wächst, das können nur die erahnen, die ein Herz voller Liebe haben. Fragt sie einfach, wenn ihr sie trefft!“
Marieta Hiller Dieses Märchen findet ihr auch im Adventskalender vom Apfelmann!