Es war einmal...
... eine Geschichte, die wurde oft und oft erzählt. Von Mund zu Mund wanderte sie, und mit der Zeit schmückte sie sich mit allem, was ihr unterwegs begegnete. Bald wollte sie nicht mehr nur eine Geschichte sein: ein Märchen wollte sie werden. Und so trennte sie sich von ihren Geschwistern, den Sagen, Mythen und Legenden und zog hinaus in die Welt, um dort als »einfache Form« über viele Jahrhunderte mal traurig mal glücklich weitergegeben zu werden. Jedes Märchen ist ursprünglich geprägt von mündlicher Überlieferung - wer findet nicht in seiner Erinnerung an die Kindheit einen fesselnden Märchenerzähler! - zudem erzählt es stets von volkstümlichen Begebenheiten in einem festen Rahmen aus moralischen Werten.
Später unterscheidet man zwischen Volksmärchen - das sind die Schönen, die uns als Kind erzählt wurden, und Kunstmärchen. Viele Schriftsteller, auch hochkarätige, haben sich das Volksmärchen als Grundlage für eigene fantastische Erzählungen gewählt. Der Kleine Prinz von Antoine de Saint Exupery ist eines der bekanntesten Beispiele. Kunstmärchen sind auch nicht immer für Kinder erzählt.
Die Volksmärchen leben also wohl schon solange in unseren Herzen, wie wir unsere Sprache und damit auch unser Moralgefühl haben.
Sie dienen als einfache Mittel, um bestimmte Werte zu erklären. Da sie oft über Jahrhunderte mündlich weitererzählt wurden, sind sie recht einfach geformt: keine Schachtelsätze à la Thomas Mann quälen uns, wir müssen nicht mehrere Erzählstränge und Blickwinkel mitverfolgen, und wir brauchen uns keine Gedanken über historische Wahrhaftigkeit zu machen. Denn Märchen enthalten etwas Allgemeingültiges, Immerwährendes, daher sind sie auch in einer zeit- und raumlosen Welt angesiedelt, wo Typen anstelle von ausgefeilten Charakteren miteinander umgehen. Deshalb beginnen die meisten Märchen mit “es war einmal...”
Zum Ausgleich dafür, daß wir nicht erfahren, wann und wo in einem Märchen etwas geschieht und wer dafür verantwortlich ist, erhalten wir aber etwas ganz Besonderes: das Märchenhafte eben. Tiere und Pflanzen können sprechen, Wünsche werden erfüllt, zauberhafte und unerklärliche Dinge gehen vor...
Eine ganz alte Form von Märchen sind die Tierfabeln, die in verschlüsselter Form bestimmte menschliche Grundwerte vermitteln. Die ältesten Tierfabeln stammen aus der Zeit der alten Griechen, und am bekanntesten sind sicher die Fabeln des Römers Äsop. Jeder kennt wohl die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind... Aus den weiblichen Vogelgestalten der Tierfabel entstanden schließlich die Feen, die durch so viele Märchen geistern.
Ins 8. Jahrhundert reichen die Märchen aus 1001 Nacht zurück, diese beliebte Sammlung orientalischer Märchen, die die Königstochter Scheherazade ihrem Vater jede Nacht erzählt, um ihn davon abzuhalten, sie und unzählige weitere Jungfrauen zu töten. Denn dann würde er ja keine weiteren Märchen mehr zu hören bekommen. Die Macht der Märchenerzählerin siegt hier über die Launen eines allmächtigen Königs. Erst im 16. und 17. Jahrhundert wurden diese Märchen - ursprünglich waren es auch nur 1000 - in Ägypten niedergeschrieben. Sie sind also zuvor über neunhundert Jahre mündlich weitererzählt worden, und kein eines ist verloren gegangen! Das müssen also fast 4000 Generationen emsiger Märchenerzähler geleistet haben...
Niedergeschrieben wurden auch die Märchen in unserem Kulturkreis: im 16. Jahrhundert begann man, diese oft wunderschönen aber auch grausamen Geschichten zu sammeln und - mit Hilfe der neu erfundenen Buchdruckerkunst - zu verbreiten. Denn bevor Gutenberg die Kunst des Druckens entwickelte, konnte das geschriebene Wort nur durch Abschreiben per Hand festgehalten werden und war entsprechend kostbar.
Bevor aber die Gebrüder Grimm im Jahr 1812 ihre gesammelten Kinder- und Hausmärchen veröffentlichen konnten, sammelten bereits viele Schriftkundige die alten mündlichen Erzählungen, und ein jeder tat das Seine dazu - wie auch zuvor die Erzähler. Und so spiegelt ein Märchen immer auch die Zeit wider, in der es erzählt oder niedergeschrieben wurde. Dasselbe Märchen, von einem Erzähler des 14. Jahrhunderts würde es sich ganz anders anhören als würde es von den Brüdern Grimm erzählt! Auch Scheherazades Erzählungen erfuhren irgendwann auf ihrem Weg durch die vielen Münder ihrer orientalischen Erzähler ein neues Wertegewand: sie wurden schon sehr früh islamisiert, denn ursprünglich kamen sie aus Indien.
Unsere Märchen übrigens kamen aus den verschiedensten Gegenden der Welt zu uns: aus germanischer und keltischer Zeit wie zum Beispiel Frau Holle, aus dem Orient wurden Märchen mitgebracht von Überlebenden der Kreuzzüge, später kamen Märchen aus Übersee von Indianern und Eskimos dazu, auch die Traumzeit der australischen Aboriginees fasziniert uns.
Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts interessierte man sich besonders für alles “Ethnologische”, also aus fremden Kulturen Stammende: Web- und Strickmuster, Kunsthandwerk, fremde Riten - und Märchen.
Auch heute wieder liegen Märchen im Trend: in schlechten Zeiten sind sie nützliche Fluchtwege aus der Realität. Dort ist alles einfach, ein jeder hat seinen Platz, an den er gehört. Es gibt klare Regeln und sichere Zufluchtsorte (zum Beispiel Schutzzauber). In jedem Märchen wirken Urbilder der Menschheit, die sogenannten Archetypen. So wie wir heute - eigentlich unbegründet - Angst vor Spinnen haben, liegt die Wurzel dieser Angst in einer archaischen Erfahrung unserer ältesten Urahnen, die mit Spinnen Böses erlebten. So wie ein Märchen von Generation zu Generation weitererzählt wird, so wird auch diese archaische Erfahrung “vererbt” und bleibt uns bis heute erhalten. Auch Drachen sind ein schönes Beispiel. Drachen hat es nie gegeben, und doch leben sie in jeder Kultur! Ein Archetypus eben.
Und wie schön läßt sich über das Unglück von Hänsel und Gretel oder Schneewittchen schmökern, wenn es draußen in der Welt eine Firmenpleite nach der anderen gibt. Das Elend der armen Märchenfiguren gibt uns neue Kraft, um in der wirklichen Welt zu leben. Nicht unwesentlich ist dabei sicher auch, daß die meisten Märchen gut ausgehen... Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Märchen: eine zeitlose Angelegenheit - von der Geschichte am Feuer bis zum Avatar
Schon unsere Vorfahren in grauer Urzeit erzählten sich am Feuer Geschichten von seltsamen Begegnungen, von geheimnisvollen Wesen und übernatürlichen Erlebnissen. So wurden über viele Jahrhunderte die Märchen von Mund zu Mund überliefert, und jede Erzähler-Generation fügte nach eigenem Gutdünken etwas hinzu, ließ anderes weg und paßte die Begebenheiten ihrer Zeit an.
Später, als die Märchen schon aufgeschrieben wurden, merkten die Erzähler, die mit besonders viel Fantasie begabt waren, daß man sie wundervoll ausschmücken konnte. Man mußte nicht mehr alles, was erzählt werden sollte, im Kopf behalten, sondern konnte es niederschreiben. So entstand Raum für Schnörkel, für barocke Eskapaden, fantastische Welten konnten entstehen.
Manch ein Märchenerzähler brachte - wie Hans Christian Andersen - vorsichtig seine Gesellschaftskritik hinein, manch anderer entstieg völlig der realen Welt und wandelt seither in der Märchenwelt. Ohne die Erfindung der Buchdruckerkunst gäbe es heute keine langen Romane - und keine fantastischen Märchen!
Eben diese Märchen, auch Fantasy genannt, sind es, die uns kleine Fluchten erlauben. Fluchten aus der Realität, Fluchten in eine andere Welt. Für manch einen wuchert diese kleine Flucht aus bis hin zum Second Life. Denn nicht mehr in Büchern nur leben heute die Märchenwelten, vor allem Computerspiele haben sie inzwischen bevölkert - als den Lebensraum, der ideale Bedingungen für ihre Bedürfnisse bietet. Der Märchenfreund ist nicht mehr nur Leser, der die Nase in ein spannendes Buch steckt, nein er wird zum Mitspieler: ein Avatar kann der Mensch nun sein, selbst in eine Märchenfigur schlüpfen und die Welt aus ihren Augen sehen!
Doch viele Menschen haben bereits erfahren, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Lesen einer Geschichte und einem Film. Was über die Mattscheibe flimmert, sind sicht- und hörbar festgelegte Bilder, für alle Zuschauer genau gleich. Liest man aber ein Buch, so entsteht in jedem Kopf ein anderes Bild: mal trägt die Prinzessin die Züge einer lieben Verwandten, mal zeigt sich die Hexe als verhaßte Nachbarin, und wer hat nicht schon in eingebildeten Grafen reale Politiker entdeckt!
Des Rätsels Lösung ist die Fantasie. Beim Lesen bleibt ihr genügend Raum, ein ganz eigenes Bild zu schaffen. Und so entsteht aus ein und demselben Märchen ein vielfältiges Spektrum an Vorstellungen, und ein jeder Mensch erlebt sein eigenes Märchen. Welch ein Schatz! Und deshalb, liebe Märchenfreunde: vergeßt über all den wunderschönen Fantasyfilmen das Lesen nicht! In Büchern ist nämlich die wahre Welt der Märchenwesen...
Marieta Hiller, geschrieben für die Zeitschrift Märchenzauber vor langer langer Zeit...