Wie gar oft müssen wir in Märchenbüchern lesen oder in alten Erzählungen hören, daß es einst wilde Weibchen gab.
An zahlreichen Orten im Odenwald gibt es Wildleutheusel, Wildweibchensteine oder ein Wildfrauhaus - meist rauhe Felsformationen mitten in der Waldwildnis. Schwer ist es uns heute vorstellbar, daß hier einst Menschen gehaust haben sollen. Und doch: auch die Räuber lebten ja in solchen Unterschlupfen, in Höhlen oder unter großen Steinen, die mit Ästen und Zweigen ausgebaut waren. Wer aber waren die wilden Weibchen?
Nun muß man wissen, daß es sich in früheren Zeiten nicht schickte, als Frau alleinstehend zu bleiben. Nur als Gattin ihres Mannes galt sie etwas. Starb einer Frau der Mann, so mußte sie übers Jahr wieder heiraten. Sonst war sie nicht mehr gern gesehen in ihrer Dorfgemeinschaft. Schnell wurde sie der Zauberei beschuldigt - und war es nur, daß einer Anderen Mann ihr einen Blick hinterhergeworfen hatte! Sie mußte weg. Hinaus aus dem Dorf. Aber zu jenen Zeiten - lang vergangenen Zeiten, möchte man gerne sagen, doch nicht überall auf der Welt gehören sie heute ins Reich der Märchen... - konnte sie nicht einfach ins nächste Dorf und sich dort ein neues Leben suchen. Dazu brauchte man einen Passepartout, ein Erlaubnisschreiben aus dem Heimatdorf. Nur mit einem Passepartout durfte man sein Dorf nämlich verlassen - es sei denn, man war eine Unwillkommene. Diesen armen Frauen aber stellte kein Dorfschultheiß einen Passepartout aus. Denn damit würde die Zugehörigkeit der Frau zu seinem Dorf bestätigt, und man wollte sie ja gerade loswerden!
Nun lebten diese Frauen also allein und ausgestoßen, und ihnen blieb nur der große dunkle Wald. Steinüberstände mit Moos und einem Zweigdach wurden ihr Zuhause, bald hingen die Kleider in Fetzen, dafür bedeckten lange Haare ihre Blößen. Und sie zogen sich weit weit zurück in den tiefsten Wald. Denn wurde ihrer ein Mann ansichtig, so schützte sie keiner. Im Gegenteil, als lüsterne und kirchenscheue Tagediebinnen wurden sie verschrien, und durften doch gar nicht in die Kirche hinein, wo ihnen Schutz zuteil geworden wäre. Von Beeren, Wurzeln und Vogeleiern ernährten sie sich, und mit Kräutern und ihren Wirkungen wußten sie bald so gut bescheid, daß ihr Ruf doch über die Ränder des Waldes hinausdrang.
Mag es ein einsamer Köhler berichtet haben, oder eine Räuberbraut hat sich auf einen Plausch mit einer wilden Frau eingelassen, auf irgendeinem verborgenen Weg erfuhr die wohlanständige Welt der Dorfgemeinschaften von der Heilkunst. Daß die Frauen schon immer der Zauberei mächtig waren, wußte man dort ja schon. Nun aber stach es so manchen braven Bürger, und heimlich und ganz im Stillen machte er sich auf, die Heilkraft der Wildfrau zu suchen. Wären die wilden Weibchen nun bösartig gewesen ob all der schlimmen Behandlung, die ihnen in der Menschenwelt zuteil wurde, so hätten sie wirklich allen Grund gehabt für böse Zaubersprüche.
Doch bescheiden und freundlich halfen sie den Menschen, die mit einer Bitte zu ihren armseligen Behausungen wanderten. Jene aber erzählten zuhause nicht, wo ihnen Hilfe gebracht wurde. Manch einer berichtete dann, bei einer alten Braucherin in einem weit entfernten Bergdorf Gesundheit, Wohlstand oder Glück wiedergefunden zu haben. Zu einer wilden Frau aber ging man nicht. Und dennoch: das Gerücht zog von Herd zu Herd, und von manch einer Wildfrau ist sogar überliefert, daß der Pfarrer höchstselbst hinausgewandert ist zu ihrer Höhle und seinen Segen darübersprach, als heimlichen Dank für die freundliche Hilfsbereitschaft der kräuterkundigen Frauen. Heute mögen im Wald keine wilden Weibchen mehr leben, nur ihre einstigen Behausungen leben fort. Denn die Felsen behalten ihre Namen. Doch hüten wir uns davor, uns in Sicherheit zu wähnen!
Wie schnell kann es geschehen, daß niemand uns mehr einen Passepartout ausstellen will! Froh könnten wir dann sein, wenn man uns wenigstens ein paar Linsen aus der Asche putteln läßt, oder wenn wir in Fetzen aus „Allerleirauh“ gehüllt heimlich und unerkannt die Küche des Königs reinhalten dürfen.
Marieta Hiller