In der Tiefe der Felsen im Felsenmeer, verborgen unter Sternchenmoos und Mondscheinfarn, da lebt die Johannisfee.
Und in jedem Jahr am Johannisabend wanderten einst die Menschen aus den Dörfern hinauf zu den Felsen, strichen mit den Händen zart über das Sternchenmoos der Felsen und benetzten es mit taufrischem Johanniswasser.
Dieses Wasser mußte von einer Jungfrau „unbeschrien“ - also in tiefem Schweigen und mit großer Ernsthaftigkeit - in den frühesten Morgenstunden aus dem klaren Quell des Felsenmeeres geschöpft und ebenso schweigend ins Haus gebracht werden. Nur so konnte das Johanniswasser dem Haushalt und seinen Bewohnern - den menschlichen, den tierischen und den Zauberwesen wie Kobolde und Hausgeister - ein ganzes Jahr lang zu Glück und Zufriedenheit verhelfen. Ein paar Tropfen von diesem Johanniswasser also mußten am Abend bei Sonnenuntergang auf das Sternchenmoos geträufelt werden, auch dies in tiefem Schweigen und mit großer Ernsthaftigkeit.
Dann begann der Mondscheinfarn alsbald zu blühen, mit einem purpurfarbenen Schimmer überzogen sich alle die feinen Spitzen der Farnkräuter. Lichter blitzten auf, erst eines, dann noch eines, und immer mehr. Feine grüne Laternchen wurden entzündet und schwebten durch die laue Dämmerung hinein in die samtblaue Nacht. Zarte Nebelfäden strichen aus den Felsenspalten empor, fächelten durch das Sternchenmoos und umspielten die blühenden Farnwedel. Weiter empor zu den glühenden Laternchen in der lauen blauen Nacht stiegen sie auf und sammelten sich. Dichter und fester woben sich die Nebelfäden, bis ein Gesicht zu sehen war: eine Fee wurde sichtbar.
Dies war die alte Hutzel, die Fee des Wunschkristalls, und sie lebte tief unten in den innersten Stübchen unter dem Felsenmeer. Nur an einem einzigen Tag des Jahres stieg sie hinauf an die Oberfläche, um mit den Lämpchen zu tanzen. Das war der Johannistag. Mit dem Kristall aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis: am Johannisabend durften die Menschen zur alten Hutzel kommen, um ihr von ihren Nöten und Sorgen zu erzählen und um ihren Herzenswunsch frei herauszusagen. Die alte Hutzel bedachte alles wohl, neigte ihr greises Haupt und lauschte in die Tiefen der Felsen hinein.
Dort begann es zu knistern, zu klingen und zu summen. Das war der Kristall. Es war nämlich dieser Kristall ein Wunschkristall. Und in der Johannisnacht wurde den Menschen, die reinen Herzens zur alten Hutzel kamen, ihr Herzenswunsch erfüllt. Nur eines durften diese Menschen niemals tun: einem Tier, einer Pflanze, einem klaren Bach, der süßen frischen Luft oder der ganzen Mutter Erde etwas zuleide tun. Dies mußten sie der alten Hutzel versprechen. Doch ach, viele Menschen dachten wohl bei sich: ja, ja das versprech ich wohl! Ließen sich ihren Wunsch erfüllen, lebten danach eine Weile glücklich und zufrieden. Aber dann, irgendwann, vergaßen sie ihr Versprechen vor lauter Glück und Zufriedenheit.
Der eine vergaß am Morgen die Kühe, die Schafe und Ziegen und das gute alte Pferd zu füttern, weil ihm im Bett gerade so wohl war. Der andere ließ seinen kranken alten Hund allein zurück, weil er ihm hinderlich war. Der dritte ertränkte fünf kleine Kätzchen im Teich, weil sie ihm zuviel waren. Ein vierter zertrat mutwillig Käfer und Schnecken am Weg, und gar viele achteten nicht, welch üble Dinge sie der Natur um sie herum brachten.
In der nächsten Johannisnacht erschien die alte Hutzel, doch sie sah blaß aus, fast krank. In den Tiefen unter dem Felsenmeer knisterte es wieder, doch es begann nicht zu klingen und zu summen. Vielmehr tat es einige laute Knickediknack, und dann war es still. Der Wunschkristall war zerbrochen. Traurig verschwand die alte Hutzel hinter dem Sternchenmoos, und der Mondscheinfarn hörte auf zu blühen. Die Laternchen in der lauen Nacht hörten auf zu tanzen, knipsten ihre Lichtchen aus und schwiegen still. Die Johannisnacht senkte sich tiefschwarz und schweigsam über die Erde. Und in jedem Jahr am Abend des Johannistages erscheinen sie wieder: die leuchtenden Fünkchen, sie tanzen durch die Nachtluft und warten auf die alte Hutzel.
In keiner Johannisnacht aber - seit vielen hundert Jahren - ist sie mit ihren Nebelhaaren aus den Felsen aufgetaucht. Jahr für Jahr tanzen die Glühwürmchen über den Felsen und warten auf sie. Doch der Kristall ist zerbrochen, und die alte Hutzel ist sehr traurig. Eine Hoffnung aber gibt es: wenn wieder Menschen hier her kommen und ihren Herzenswunsch aufsagen und dabei versprechen, daß sie keinem Tier, keiner Pflanze und auch der Erde nicht etwas zuleide tun wollen. Wenn viele Menschen dies versprechen und ihr Versprechen auch nicht übes Jahr wieder vergessen, dann könnte es sein, daß eines Tages die alte Hutzel wieder erscheint...
Marieta Hiller, zur Johannisnacht 2011 - Kandsfinkelchen werden im Odenwald die Glühwürmchen genannt. Immer um den Johannistag am 24. Juni beginnen sie mit ihrer Brautwerbung: sie entzünden ihr geheimnisvolles grünes Licht. Zu Tausenden schweben die Kandsfinkelchen (hochdeutsch Johannisfünkchen) durch die laue Sommernacht und verzaubern Menschen genauso wie Kobolde, Elfen und Feen.