Von einer ganz besonderen Holzschnitzerei erzählt diese Geschichte: auf der Mauer von Schloß Auerbach hoch über dem Tal der Bergstraße wuchs vor ungezählten Jahrhunderten ein Bäumchen, eine Waldkiefer. Klein war es von Wuchs, denn die Mauersteine waren karg. Doch als das Bäumchen sieben mal siebzig Jahre alt war, da kam ein Holzfäller und schlug es ab. Glücklicherweise geriet das Bäumchen dann als gutes Schnitzholz in die Werkstatt eines Holzschnitzmeisters. Der fertigte aus seinem Holz eine Wiege für das Herrscherpaar auf dem Schloß, denn ihnen sollte bald ein Sprößling geboren werden. Der Junge wuchs heran, wurde ein prachtvoller Ritter und zog hinaus in die weite Welt. Dabei kam er auch in die hohen Berge, wo die Waldkiefern krumm und gebückt wuchsen. Von einer nahm er als Andenken einen Kiefernzapfen mit. Doch als er nach Hause kam, da vergaß er ihn vor Freude über das Wiedersehen mit seinen Eltern. Erst viele viele Jahre später, als aus dem jungen Ritter ein alter Mann geworden war, der eines Tages tot aus dem Schloß getragen wurde, erst da kam der Kiefernzapfen wieder ans Tageslicht. Mit dem Kehricht warf ihn die Magd hinaus über die Mauer. Doch auf der Mauer - was glaubt ihr, was dort liegenblieb? Ein Sämling aus dem uralten Kiefernzapfen! Und als es auf ihn regnete, da streckte er ein Beinchen aus und faßte Fuß im steinigen Mauerwerk. Er wuchs heran, erst war es ein Keimling, dann ein winziges Pflänzchen, bald ein Bäumchen. Das Bäumchen blieb klein, krumm und gebückt, denn es war ja eine Waldkiefer aus dem Hochgebirge, und die Mauersteine noch immer karg. Es vergingen wieder sieben mal siebzig Jahre, und es kam ein Holzfäller, und ein Holzschnitzmeister fertigte eine Wiege, und bald lag in ihr ein junger Prinz, der später in die weite Welt hinauszog - ihr könnt euch sicher denken, wie es weiterging. Seit vielen vielen Jahrhunderten geht das nun schon so, und auch heute wächst ein Kiefernbäumchen auf der Schloßmauer, das ist schon 300 Jahre alt. Besucht es einmal und staunt, denn in zwei Jahrhunderten wird es nicht mehr dort sein...
Das ist das Märchen von der Waldkiefer auf dem Auerbacher Schloß. Marieta Hiller