Während der 20. Reichelsheimer Märchen - und Sagentage 2015 fand Referentin Prof. Kristin Wardetzky (Berlin) deutliche Worte zur Aktualität von Märchen in der heutigen Zeit. Märchen sind zu allen Zeiten gewandert, die Motive in vielen Ländern der Erde gleichen sich. So kann es geschehen, daß man im Herzen von Afrika ein Märchen hört, dessen Stoff sehr ähnlich auch in Mexiko, Grönland oder Indien erzählt wird.

Es ist wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: immer spricht das Märchen „Ich bin schon längst hier!“ Die Menschen, die auf der Flucht vor Elend und Verfolgung nach Deutschland kommen, haben oft nichts im Gepäck als ihre Hoffnung. Und im Kopf die Märchen. Jeder Mensch kennt Märchen, oder wenigstens eines. Sie sind das innerste Kulturgut aller Erdbewohner, gleich woher sie stammen.

Märchen können helfen, um Flüchtlinge bei uns zu integrieren. Dabei müsse man den Begriff Inklusion entschieden ablehnen. Er beinhalte die Vorstellung von Einschluß. Viel besser sei das Wort Integration. Dieser Begriff, der aus dem lateinischen stammt und „Herstellung einer Einheit oder Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (in-teger bedeutet unberührt) meint, gibt besser wieder, daß es um Gemeinschaft anstatt um Assimilation geht.

Märchen erzählen: wie geht das, wenn jemand keine Sprachkenntnisse hat? Da gibt es das Projekt „Sprachlos“, bei dem Märchenerzähler in die Schulen gehen und erzählen. Mit Händen und Füßen, mit Bildern, mit gebrochenem Englisch oder Französisch. Und es dauert nicht lange, da können die „sprachlosen“ Kinder, die Kinder die unsere Sprache nicht sprechen, selbst ihre eigenen Märchen erzählen. Es ist eine besondere Kraft, die in den Märchen steckt, daß sie über Augen Ohren und die Herzen Zugang zu den Menschen finden.

Wichtig ist es, daß auch Erwachsene Märchen hören und erzählen. Und es ist der Anfang einer wundervollen Erzählkultur, wenn die „sprachlosen“ Kinder dann nach Hause kommen und ihre Eltern fragen „haben wir denn auch unsere Märchen?“, und die Eltern graben längst Verschüttetes aus ihrer Erinnerung aus und finden dort tatsächlich - ein Märchen! Der Auszug in die Fremde fand also - und findet immer noch - auch für die Märchen statt.

Wilhelm Grimm war der erste, der die Verzweigung der Märchenstoffe in aller Welt entdeckte. Wie ein riesiges Pilzgeflecht, das unter der Erde weit entfernte Pflanzen miteinander verbindet, so umfassen die Märchen die Welt. Märchen fahren um die Welt, mit Reisenden, mit Flüchtlingen, mit dem fahrenden Volk. Eine viale Erzählgemeinschaft (vial von via der Weg, Prof. Dr. Wilhelm Solms) hat sie im Gepäck, sie wiegen nicht schwer und sind doch so wichtig. Beim Fahren wird Erfahrung (sic!) in Geschichten gegossen, in allgemeingültige und für alle Zeiten bedeutsame Märchen.

Es gibt wunderschöne Zigeunermärchen, wie Prof. Dr. Solms erzählte. Ja, "Zigeuner" darf man sagen. Das Wort, vor einigen Jahren erst zur political incorrectness verurteilt, dieses Wort ist die Bezeichnung der Sinti und Roma für sich selbst, sofern sie Fahrende sind. Aber der tatsächliche Mord an der ethnischen Minderheit der Sinti und Roma findet seine Spiegelung im Mord an den Zigeunermärchen. Und so finden wir am Schluß vieler Zigeunermärchen einen Zusatz wie: „seitdem lügen die Zigeuner immer. Und wenn sie nicht gestorben sind, lügen sie noch heute.“ Oder „Aber Petrus brachte ihnen bei, wie sie zu betrügen hätten.“ Woher kommt dies? Es gibt eine einfache Erklärung dafür: Zigeuner schreiben ihre Märchen nicht auf. Sie erzählen sie. Und zwar auf Romani. Wer sie aufzeichnet, das sind Fremde, die ihr eigenes Bild vom Zigeunerleben in ihre Aufzeichnung einfließen lassen.

Nun habe ich ein Rätsel für meine Leserinnen und Leser:

wenn ein Zigeuner sagt „ich lüge immer“ - hat er dann in diesem Augenblick die Wahrheit gesprochen (dann hätte er nicht gelogen und seine Aussage wäre damit gelogen) oder hat er gelogen (dann würde er gar nicht immer lügen, denn er hätte ja die Wahrheit gesagt und das tut er nach eigener Aussage nie). Wer dieses knifflige Paradoxrätsel lösen kann, der wird ganz sicher auch Elend und Verfolgung beenden können.

Ungelogen: Zigeunermärchen werden erzählt und nicht aufgeschrieben

Antiziganistische Märchen - das ist die Märchengattung der moralisierenden und verfremdeten Zigeunermärchen - sind also nicht originär. Dagegen gibt es Tonbandaufnahmen des ungarischen Zigeuners  Lajos Ámi, die niedergeschrieben und veröffentlicht wurden (http://www.ungarninfo.org/OldHomePage/land_leute/z_maer1.htm), und diese sind originär. Das Fahrende Volk, die Nicht-Seßhaften, haben ihre eigene Kultur, ihre eigenen Märchen. Sie nennen sich Zigeuner, Jenische, Tinker. Sie haben oft ihr Haus verloren wie einst der Odenwälder Räuber Mannefriedrich, und damit auch das Aufenthaltsrecht. Ohne Passepartout verlieren sie das Recht ihr Dorf oder auch ein anderes zu betreten.

Beklemmende Aktualität hat ein Detail aus dem Vortrag von Hans Sarkovicz, Ressortleiter HR Kultur. Er erläuterte das Schaffen von Ludwig Emil Grimm, dem Malerbruder von Jakob und Wilhelm Grimm. Ludwig Emil ist als der Erfinder des Comics zu betrachten: er zeichnete beispielsweise eine neun Meter lange "Schweinerolle". Sarkovicz zeigte ein Foto vom vielgenutzten Reisepaß Ludwig Emils, den die Zollbeamten zu jener Zeit aus Angst vor der Pest nur mit der Zange anfaßten, bevor sie ihren Stempel hineindrückten. Heute sieht man in der Tagesschau, wie Flüchtlinge von Helfern mit Mundschutz und Einmalhandschuhen begrüßt werden - so als hätten sie die Pest. Dabei sind es Menschen wie alle, nur ohne Heimat - und das unverschuldet...

Das klingt uns doch sehr aktuell, oder nicht? Wir kennen den Teufelskreis: ohne Wohnung gibt es keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Aber wir glauben alle, daß das UNS ja nicht betrifft. Und doch können wir sehr schnell in diese Situation geraten - und haben dann nichts mehr im Gepäck als die Hoffnung und die Märchen. Die 20. Reichelsheimer Sagen- und Märchentage im Oktober 2015 wurden zu einem Sprachrohr für Verständigung, für Gemeinschaft, für Unterstützung der zahllosen Flüchtlinge, die seit diesem Spätsommer nach Deutschland kommen. Das Motto „Brücken zwischen Menschen und Kulturen - Märchen aus Europa“ stand schon im Herbst 2014 fest, doch damals konnte noch keiner ahnen, wie brandaktuell es werden würde. Die Referenten und Märchenerzähler haben ihre Vorträge an die Situation dieses Herbstes angepaßt und wortgewaltige Argumente für die Eingliederung von Flüchtlingen, ja zuerst einmal für ihre freundliche Aufnahme, gefunden.

„Toleranz ist zu wenig. Achtung und Anerkennung ist erforderlich.“ so Prof. Solms.

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Mit Wehmut erfüllte ein weiterer Vortrag der Märchen- und Sagentage 2015: Helmut Früh ging aufs Märchen-Podest und erzählte sehr mitreißend das Lieblingsmärchen von Sigrid Früh. Sie war sehr oft als Märchenerzählerin bei den Märchen- und Sagentagen, bis eine Krankheit sie verstummen ließ. Aber dem  "Eselein" - ihrem Lieblingsmärchen, lauschte sie lächelnd. "Der Hut der großen Dame und drunter das rote Haar des Wildweibchen" - so beschreibt Odile Néri-Kaiser die Grande Dame der modernen Märchensammlung. Odile Néri-Kaiser, selbst Märchenerzählerin und für die wiederum erkrankte Hannelore Marzi eingesprungen, erzählte das Märchen "Finon et Finette" - das den Bogen zum aktuellen Thema "Migration der Märchen" schließt: es ist nichts anderes als die französische Urform von Hänsel und Gretel, das wir alle kennen. Vieles gäbe es noch zu erzählen über die Sagen- und Märchentage in Reichelsheim, aber Selbst erleben ist 1000 mal besser! Marieta Hiller, 28.10.2015