Vom wilden Wolf und dem treuen Hund, von der Schönen Lau und von der blutroten Rose - zum Abschluß ein Wolfsmärchen...

Einst vor uralten Zeiten, als die Stücke der Welt noch nicht zueinandergefügt waren, da lag gerade dort, wo der Wald am tiefsten war, eine Quelle von grünfunkelndem Wasser. Des Abends kam alle Tage ein wilder Wolf dorthin um sich zu laben. Doch wenn er trank schaute er nachdenklich ins unergründliche Wasser. Er war schon ein älterer Wolf, der viel nachzudenken hatte.

Eines Abends erklang plötzlich ein wunderschönes Lied an der Quelle, gesungen von einer zarten Stimme, und als der wilde Wolf aufblickte, da saß auf einem Stein bei der Quelle eine Nymphe mit goldglänzendem Haar. Sie sang so ergreifend schön, daß dem Wolf ganz warm ums Herz wurde. Viele Abende lauschte er nun der Nymphe, die bald keine Scheu mehr vor dem wilden Wolf hatte und ruhig dort sitzen blieb. Und so geschah es, daß die beiden sich ineinander verliebten.

Weil nun aber Wölfe und Nymphen nicht zusammenkommen können, wurden sie traurig. So traurig, daß die kleine Quellnymphe heiße Tränen auf den Stein fallen ließ und der wilde Wolf schaurig dazu heulte. Auf einmal aber, gerade dort, wo Nymphentränen auf den Stein perlten, begann eine zarte Pflanze emporzuwachsen. Sie rankte sich um den Stein, und schon erklomm sie die Vogelbeerbäume ringsum.

Zarte weiße Blüten öffneten sich, violett geädert und wohlduftend. So kam die erste Waldrebe in die Welt. Erstaunt schaute die Nymphe zu, streckte ihre zarten Hände aus und streichelte die wunderhübschen Blüten. Es war jedoch eine besondere Waldrebe: denn sogleich drehte sie ihre Blüten zu Wolf und Nymphe und hub zu sprechen an.

„Wildes Tier und Zauberwesen, wollt zusammen ihr euch tun, so ists um eure Freiheit flugs geschehn! Seid denn fortan aufeinander angewiesen, dann will ich euch mit Namen jetzt versehn.“

Da ließ der wilde Wolf ein herzzerreißendes Heulen hören, und ebenso traurig klang der Gesang der Nymphe.

„Nun, so soll es denn sein:“, sprach da die Waldrebe. „So heißest denn du fortan Eisengrimm Wolfhart zu Wulfenstein, du wilder Wolf! Und Schöne Lau vom Blauen Topfe sollst nun du dich nennen, liebe Nymphe. Ich will euch zueinanderführen. Doch bedenkt: sobald einer einen Namen hat, bekommt ein höheres Wesen Macht über ihn. Nicht länger ist die Freiheit euer!“

Schon lagen sie sich in den Armen, herzten und drückten sich, daß die Waldrebe verschämt ihre Blüten wegdrehte. Lange noch saßen Wolf und Nymphe eng umschlungen dort an der Quelle, so lange, bis der neue Tag anbrach. Da wollte Lau, wie es Nymphenart war, flugs in der Quelle untertauchen, um bis zur blauen Stunde des Abends den Tag zu verschlafen. Eisengrimm dagegen eilte durch den tiefen Wald zu seinem Rudel. Doch wie verwundert war er, daß die Seinen ihn kaum beachteten!

Ihn, den mächtigsten Wolf im Rudel, der Wege und Weisen ebnet und alle führt! Nicht so an diesem Morgen: das Rudel beriet seine Pläne, und er blieb ausgeschlossen. Zugleich mußte Lau erfahren, daß sie unter Wasser gar nicht atmen konnte! Wieder und wieder mußte sie ihr goldglänzendes Köpfchen aus dem Wasser strecken, vorsichtig auf der Hut vor den Sonnenstrahlen. Am Abend berichteten beide atemlos wie es ihnen den Tag ergangen war.

Die Waldrebe aber sprach:

„das ist der Preis für euren Namen. Und so werdet ihr nun beide aufeinander angewiesen sein! Über Jahr und Tag soll es sich erweisen, ob ihr euch euren Namen wohlverdient habt!“

Damit schloß die Waldrebe ihre Blüten, und fortan mußte Lau sich bei Tage im tiefen Wald verbergen, so daß kein Sonnenstrahl ihr goldnes Haar entzünden konnte. Eisengrimm aber schlich um sein Rudel und wußte nicht wie ihm geschah. Wohl griff ihn niemand an, doch galt er nicht mehr als Leitwolf. Wie froh waren beide, daß sie sich hatten! An jedem Abend zur blauen Stunde saßen sie an der Quelle beisammen und berichteten was sie erlebt hatten. Lau kraulte das dichte Eisengrimms Fell und der konnte gar nicht genug von ihren goldenen Haaren bekommen.

Und übers Jahr war dort, zwischen all den Vogelbeeren, ein Apfelbäumchen gewachsen. Der Herbst war da, und die wohlduftende Waldrebe ließ sich vernehmen, es war gerade der Tag nach einem vollendeten Jahr:

„Nun, so habt ihr euch bewährt und euren Namen wohlverdient. Nehmt nun was euch der Apfelbaum zu geben hat und lebt Wohl!“

Am nächsten Abend war die Waldrebe verschwunden, aber am Apfelbäumchen hing ein großer rotbackiger glänzender Apfel. Die schöne Lau pflückte ihn erfreut, biß herzhaft hinein - denn in ihrem früheren Nymphenleben gab es ja nichts zu essen! - und reichte ihn an Eisengrimm weiter. Der aber hatte bisher nur Fleisch gefressen, doch der Apfel schmeckte ihm vorzüglich.

Nun hub der Apfelbaum zu sprechen an:

„hütet meine Äpfel, sie werden euch Nahrung sein. Sobald sie geerntet sind, werdet ihr euch ein Haus bauen müssen und du schöne Lau wirst dir ein Kleid weben müssen. Du aber Eisengrimm mußt bei ihr leben, zuvor jedoch mußt du eine Prüfung bestehen: geh zu deinen Wölfen, laß die Deinigen schwören, nicht mehr auf Menschenjagd zu gehen. Verpflichte sie auch, die Schafe der Menschen nur in der größten Not zu reißen. Heimlich im Wald sollen sie leben, die Feuer der Menschen nur scheu von ferne umringen.“

Und so geschah es.

So schwer es Eisengrimm ankam, schließlich gelang es ihm: sein Rudel gewährte im Gehör. Und weil er früher ihnen ein guter und weiser Leitwolf gewesen war, faßte das Rudel nach langer Beratung diesen Beschluß: „Du Eisengrimm, sollst einsam als wilder Wolf durch die Wälder streifen, denn du bist uns zu seltsam geworden. Wir aber wollen dir versprechen, den Menschen und ihren Tieren aus dem Wege zu gehen, weil es ein Mensch ist den du liebst. Sie sollen in ihren Dörfern bleiben, wir verbergen uns in der Wildnis. So leb denn wohl du seltsamer Eisengrimm.“

Und so schlich der Wolf zurück zur Quelle, wo die Schöne Lau emsig an einem Hemdchen aus Zauberwolle webte. Sie fröstelte, und sie litt unter der Kühle und Feuchtigkeit rings um die Quelle. Beide fühlten sich sehr einsam. Wie froh waren sie da, daß sie einander hatten!

So vergingen viele Jahre, die schöne Lau hüllte sich im Herbst in wunderhübsche Gewänder und hielt ihr Häuschen sauber und warm. Im Herbst wurden die roten glänzenden Äpfel reif, und Lau trug sie in ihre Hütte, vor der sich der alte Eisengrimm in den letzten Sonnenstrahlen ausgestreckt hatte. Schon längst war seine Schnauze weiß geworden, und die Schöne Lau trug Silberfäden im Gold ihrer Haare. Doch kein Herbst verging, in dem es nicht genügend Äpfel für beide gab. Und kein Winter verging, in dem es kalt in ihrer Hütte wurde.

Denn wie die Schöne Lau seit jenem Abend an dem sie ihren Namen erhielt, die Sonne nicht mehr fürchten mußte, so brauchte Eisengrimm seit ebenjenem Abend das Feuer nicht mehr zu meiden. Der Wolf war zum zahmen Freund und Begleiter geworden, und die Quellnymphe zu einer Menschenfrau. Einträchtig saßen beide abends am Kaminfeuer und wärmten ihre alten Knochen. Draußen vor dem Fenster plätscherte die kleine Waldquelle, und der Apfelbaum stand starr im Frost.

Aber kein Frühling ohne duftende Apfelblüten verging. Eines Tages aber, nach unzähligen Apfelherbsten, Winterfeuern und Frühlingsdüften war am Apfelbaum eine Rose emporgeklettert. Gerade an dem Tag, als die Apfelblüten zu duften aufhörten und kleine grüne Knubbel wurden, da öffnete die Rose ihre blutroten Blüten, und ein Duft entströmte ihnen, daß die beiden Alten vor der Hütte ganz betört davon wurden. Vor Freude perlten der Schönen Lau ein paar Tränen aus dem Auge, und Eisengrimm witterte vergnügt in die Luft.

Da sprach die Rose, und dabei legte sie allerliebst ihre blutroten Blütenblätter zurecht:

„Alt seid ihr geworden, einsam seid ihr gewesen, doch zueinander habt ihr gehalten. Deshalb soll Eure Liebe für alle Zeiten währen. Das ist mein Geschenk an euch. Doch eine Bedingung sei daran geknüpft: du Eisengrimm, und all die Deinen, ihr werdet fortan dem Menschen dienen. Werdet treu und unerschütterlich an seiner Seite sein und euren Hunger könnt ihr nur stillen, wenn er euch etwas gibt. Die Deinen werden früh sterben, doch sei gewiß: die Menschen werden um sie trauern. Du Schöne Lau, bist in vielen Wintern zu einer alten Menschenfrau geworden. Du und Deinesgleichen sollt Eisengrimms Nachfahren beherbergen als Mitgeschöpfe, die euch zur Sorge übergeben sind. Doch bedenke: wie auch eine Rose Dornen hat, so haben diese Tiere Zähne, und sie verstehen sie einzusetzen. Behandelt sie also gut, so werden sie es euch danken.“

Und seit jenem einzigen Tag, als die Rose sprach, sprach sie nimmermehr.

Eisengrimm und die Schöne Lau aber lebten glücklich und zufrieden in ihrer einsamen Hütte beim Apfelbaum, und wer weiß - vielleicht leben sie dort heute noch. In jedem Frühsommer besiegelt eine blutrote Rosenpracht die Liebe, die beide einst begründeten. 

Marieta Hiller, Winter 2013