Die böse Hexe, der heimtückische Waldschrat, häßliche Orks, der wilde Wolf, garstige Trolle, die lieblose Stiefmutter, unheimliche Dementoren, Wildruden die nach Blut schreien, feuerspeiende Drachen, gewissenlose Waldelfen, der zornsprühende Zauberer - sie alle bedrohen uns im Märchen.
Sie bedrohen uns so, daß wir uns stets mit ängstlichem Blick über die Buchseiten umschauen und vergewissern, daß alle finsteren Ecken monsterfrei sind. Sie lehren uns das Fürchten, sie versetzen uns in schieres Entsetzen, sie stellen uns vor unlösbare Schwierigkeiten. Ganz gleich, ob es die netten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die meist so traurigen Kunstmärchen von Hans Christian Andersen oder anderen Dichtern der Romantik sind, ob es moderne Märchen wie Startrek, Harry Potter, Herr der Ringe oder Eragon sind - sie alle stellen uns buchstäblich vor den Berg aus Glas, den wir erklimmen müssen und doch nicht können.
Märchen sind nicht einfach nur harmlos, sie sind nicht nur romantisch und schön, nein! Sie fordern etwas von uns, etwas ganz Elementares: Zuversicht und Selbstvertrauen!
Denn wir überwinden den gläsernen Berg, wir töten den Riesen, wir bezwingen die Orks und die Dementoren, wir durchdringen den finsteren Wald und finden dann etwas, das für uns unendlich wichtig ist: uns selbst, unsere Kraft, unser Vertrauen in uns selbst. Das ist es, was Märchen für Kinder so wertvoll macht, und was uns Erwachsene sie so begeistert lesen (oder im Kino anschauen) läßt. Wir wachsen an ihnen.
Der Dummling bringt die Prinzessin heim, Aschenputtel findet seinen wirklichen Platz, Rotkäppchen weiß plötzlich, daß der rechte Weg wichtig und richtig ist, die verzauberten Geschwister finden einander für alle Zeiten. Alles fügt sich. Märchen sind unser seelisches Brot.
Es gibt viele Psychologen, die Kluges über Märchen und über uns, die wir Märchen lesen oder hören, zu sagen wissen. Doch eigentlich wissen wir es selbst am besten. Daher kommt es nämlich, warum Kinder immer wieder ein und dasselbe Märchen hören möchten. Wir denken, das Kind müsse das Märchen ja nun schon auswendig können - und das kann es auch! Erzählen Sie Ihrem Kind ein Märchen, und Sie merken sofort, ob es gerade DAS einzige wichtige Märchen für Ihr Kind ist. Erzählen Sie es immer wieder - bald können Sie gemeinsam mit Ihrem Kind Wort für Wort rezitieren, doch vertrauen Sie darauf: Ihr Kind weiß was es braucht und wann es genug hat.
Ein Märchen fesselt, es hält uns fest. Aber eines dürfen Sie niemals tun: Ihrem Kind ein Märchen erklären.
Sie töten das Märchen damit, und Sie verstören Ihr Kind. Wie viele Kinder sieht man heute, die laut schreiend vor einer verkleideten Hexe weglaufen - hätten sie viele Märchen gehört, in denen die böse Hexe zum Schluß das bekommt, was sie verdient, würden sie sich ihr mutig stellen! Denn sie wüßten, daß sie am Ende über die Hexe triumphieren - alles fügt sich.
Für Kinder, die nicht das Glück haben, Märchen hören zu dürfen, gibt es billigen Ersatz: Monsterspray etwa, das man unter das Bett sprühen kann und in den Schrank. Doch wie schwach ist ein Monster, das man mit Spray bekämpfen kann? Lohnt sich das überhaupt? Je stärker das Böse, desto größer der Triumph - und der Triumph ist sicher, zumindest imMärchen. Was aber für das wirkliche Leben bleibt, ist das Selbstvertrauen. Welch kostbareres Geschenk können wir unseren Kindern also mit ins Leben geben als Märchen?
Marieta Hiller