Panzerfaust und Sojabohnen - was von 1945 im Gedächtnis blieb

so überschrieb Günter Beilstein seinen Erlebnisbericht, den er 1995 verfaßte. Im Winter 1944/45 war er neun Jahre alt und hatte mit seiner Familie aus dem Ruhrgebiet Zuflucht in den Häusern im Forschd gefunden. Den Bericht erhielt ich dankenswerterweise von Ruth Steinmann 2021.

Viele mehr oder weniger Prominente dürfen in diesen Tagen, 50 Jahre nach Ende des bisher größten und vorläufig letzten aller Weltkriege, öffentlich darüber berichten, wie sie selbst den Übergang vom tausendjährigen Reich zur demokratischen Neuzeit erlebten. Auch ich erlebte ihn, und wenn ich darüber berichte, so zunächst zur Selbsterinnerung, aber auch für Kinder und Enkel als Beitrag zur Familiengeschichte. Immerhin ist nicht jeder bei solch einem historischen Wendepunkt life mit dabei - und wünschen wollen wir es eigentlich auch keinem.

Gadernheim liegt an der Nibelungenstraße im Odenwald, etwa zwischen Bensheim und Lindenfels. Die leicht, aber stetig ansteigende Landstraße führt unterhalb des Dorfes durch dichten Wald. Ein Bach begleitet sie, damals ideales Spielgelände für uns Kinder, aber eine Zeitlang auch Jagdrevier für einige polnische Zwangsarbeiter, welche zu unserem Erstaunen mit der bloßen Hand die Forellen unter der Uferböschung herausfischten. Die erste, noch isoliert stehende Häusergruppe, auf die man rechter Hand, von unten kommend, stieß, lag etwa 100m von der Straße weg und hieß "der Forscht". Hier waren meine Mutter und ihre beiden Söhne bei dörflichen Verwandten untergekrochen, mit uns noch unsere ältere Kusine Hilde, damals durch spezielle Umstände sozusagen festes Mitglied der Familie.

Dieses Grüppchen hatte sich 1944 rechtzeitig aus Lodz - damals Litzmannstadt - abgesetzt, bevor die Russen die nationalsozialistischen Eindeutschungsmaßnahmen durch ihren Einmarsch in Polen beendeten. Unser beamteter Vater, seinerzeit als Gerichtsvollzieher und Mitvollstrecker solcher Maßnahmen nach Polen abkommandiert, war danach noch spät zur Verteidigung von Königsberg eingezogen worden und befand sich bei Kriegsende in russischer Gefangenschaft. In unsere "Heimatwohnung" in Mülheim/Ruhr war inzwischen eine ausgebombte Familie eingewiesen worden. Dorthin konnten wir also zunächst nicht zurück und verkrochen uns im odenwäldischen Steinau auf dem Hof von Onkel Leonard. Aus dieser Gegend stammt meine Familie väterlicherseits, und die Mutter von Onkel Leonard war die Schwester unseres Opas. So wie ihr robuster Bruder war diese ein besonders harter Brocken, was ihr unsererseits den Spitznamen "Aal-Bums" einbrachte, was man frei mit "Alter Granatwerfer" übersetzen könnte. Ihretwegen hielten wir es dort nicht lange aus. Nach einem Schultag in der einklassigen Volksschule von Steinau zogen wir um nach Gadernheim.

Wir bewohnten dort ein Zimmer bei den Onkels Hannes und Karl, ihren Frauen Elis und Friedchen sowie Friedchens und Karls Sohn Oswin, der etwas jünger war als mein Bruder Frank und ich mit 5 und 9 Jahren. Den verzwickten Verwandschaftsgrad zu diesen Leuten habe ich nie begriffen und später auch nicht aufgeklärt. Onkel Hannes hatte einen Arm ab und ein Motorrad im Schuppen. Beides imponierte mir sehr.

Ich war mittlerweile im 3. Schuljahr und lesehungrig. Einige Bücher konnte ich mir beim Walachei-Günter leihen, der wie ich Flüchtlingskind war und mit seiner Mutter in der Nähe, eben in der "Walachei", wohnte. Zur Schule im Dorf hatte ich eine Strecke zu gehen, anfangs unter erschwerten Bedingungen, denn die etablierte Kindermeute versuchte mich Fremdling zu jagen. Einmal flüchtete ich zu Onkel Philipp im Oberdorf - das ist der, welcher später unten am Dorfeingang den Steinmetzbetrieb führte. 

Philipp Eichhorn, geboren am 11. September 1909 in Gadernheim, gründete am 01. April 1938 mit Peter Walter, geboren am 26. Januar 1911 in Lauf an der Pegnitz das Granit- und Syenitwerk Eichhorn & Walter. Siehe https://eichhornwalter-natursteinwerk.de/sodcms_generationen.htm

Nebenan im "Forscht" wohnten Katzenmeiers mit 3 Kindern in einem Uralt-Fachwerkhäuschen, davor befand sich die Jauchegrube, in der Bruder Frank versehentlich seine ersten Schwimmversuche machte. Hilde wohnte einige Meter weiter beim Bauern Bickelhaupt, später gesellten sich noch ihre Mutter, unsere Tante Maria aus Hamborn, und unser gemeinsamer Opa aus Solingen für kürzere Zeit dazu. Heinz Bickelhaupt gehörte zu meinen Spielkameraden, und sein Vater hat mir aus Blechstücken die Bindungen für meine ersten Skier gefertigt.

Der Winter 44/45 mit viel Schnee war vorüber. Schon zwei Tage lang hatten wir fernen Geschützdonner gehört und ab und zu deutsche Soldaten vorbeifahren sehen. Allmählich kam eine gewisse Spannung auf. Wir Kinder durften den Hof nicht mehr verlassen, was auch in den Wochen vorher nicht ganz ungefährlich war. Die Alliierten hatten längst die Luftkontrolle. Amerikanische Jagdbomber, die gelegentlich im Tiefflug über das Dorf donnerten, unterschieden bei ihren MG-Salven nicht immer, ob sich da unten Militäreinheiten, grasende Kühe oder spielende Kinder bewegten. Außer von erschossenen Kühen drangen aber keine Verlustmeldungen zu uns durch. Einmal jedoch schien es knapp zu sein. Wir konnten in letzter Sekunde am Waldrand hinter einige Felsbrocken hechten, bevor uns drei Jabos nach einer ersten Beobachtungsschleife ins Visier bekamen.

Der Geschützdonner kam näher, die Nibelungenstraße von Reichenbach und Lautern herauf. Eine Gruppe von 5-6 deutschen Landsern nistete sich im "Forscht" mit ihrem MG ein, einer strategisch günstigen Stelle mit Blick und freiem Schußfeld auf die etwas tiefer gelegene Straße. Was wollten die denn noch? sich selbst noch opfern, uns mit in Gefahr bringen? Wie konnten sie noch an irgendetwas glauben, was auch nur entfernt nach Endsieg aussah?

Wem fühlten sie sich noch verpflichtet? - Solche Fragen konnte man erst später stellen, und Antworten darauf blieben meist unbefriedigend. Für uns zählte im Moment nur die akute Bedrohung durch einen von den Deutschen provozierten Gegenschlag der heranrückenden Amis. Meine Mutter und die anderen Frauen brachten es schließlich fertig, die Landser zum Abrücken zu bewegen. Diese packten ihr Kriegsgerät zusammen und verzogen sich in den nahem Wald. Wir haben sie nicht mehr gesehen; vielleicht war es ihre Munition, zwischen der wir noch Monate später beim Spielen herumtrampelten.

Am nächsten Vormittag rasselte der erste Panzer die Landstraße hoch. Wir hatten uns mit allen Mitbewohnern in den Keller verkrochen, konnten aber durch das schmale Klappfenster beobachten, wie er plötzlich abrupt stehen blieb, fast gleichzeitig mit einem dumpfen Schlag. Da hatte doch einer der allerletzten "Helden" aus dem Straßengraben heraus noch seine Panzerfaust abgefeuert! Lange aufgehalten hat er die Front damit nicht. Bereits eine halbe Stunde später rollten weitere Panzer, LKWs und Jeeps die Straße herauf und ungehindert ins Dorf - der Spuk war vorüber, wir verließen den Keller und atmeten tief durch.

Jetzt wurde mir allmählich klar, daß ich mit diesem Tag einen langgehegten Wunsch endgültig abschreiben mußte: ich konnte nicht mehr "Pimpf" werden! Diese erste Weihe zur vorstufe der Hitlerjugend pflegte man mit zehn Jahren zu erhalten - und ich war bei neun steckengeblieben! Und Vetter Manfred, mein gedanklicher vorturner auf diesem Gebiet, steckte schon lange in einer richtigen HJ-Uniform, mit Koppel, Messer und zunächst rot/weißer, dann sogar grüner Kordel an der Schulter. Daß er dann auch noch richtig Soldat wurde, in Gefangenschaft geriet und aus dieser wegen juveniler Mickrigkeit frühzeitig heimgeschickt wurde, wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Ich war zunächst einmal sauer - und das gibt mir heute zu denken. Auf welcher ideologischen Wiese hatte man uns Kinder grasen lassen, daß mir noch 1945 solche Gedanken kamen? Ich hatte doch bereits in Lodz neben uns Deutschen die Polen als Menschen zweiter und die Juden als "Kreaturen" dritter Klasse kennengelernt, letztere nur von weitem in ihrem Ghetto, welches von der Straßenbahn durchquert wurde, die wir zwischen Wohnung und Innenstadt benutzten. Ich war von einem Lehrer in SA-Uniform zu Unrecht verprügelt worden und hatte an der Straßenecke bei der Parade zu Führers Geburtstag 3 Strophen lang (plus Horst-Wessel-Lied) den Arm hochgehalten, bis er mir fast abfiel. Ich hatte anläßlich eines Besuchs bei den Großeltern einige Bombennächte im Ruhrgebiet erlebt und wußte um die Bedeutung von Lebensmittelkarten. Trotz dieser Einblicke hatte es die NS-Propaganda wohl geschafft, mit Hilfe von Heldenverehrung und Pfadfinderromantik den Kriegsalltag aus den Köpfen der Jugend so gründlich zu verdrängen, daß das zum Schluß immer noch einer Pimpf werden wollte! Wo waren denn die damals Erwachsenen, die uns den Kopf hätten zurecht rücken müssen. was wußten sie mehr als wir Kinder, und was wollten, konnten, durften sie nicht an uns weitergeben?

Nun, Schaden an der Seele hat sich nicht eingestellt, und ich kam auch ohne die Uniform zurecht. Am Tag nach dem Einmarsch wagten wir uns wieder ins Dorf, welches bis auf eine weggeschossene Hausecke unverändert geblieben war. Unübersehbar war allerdings die Präsenz der Amerikaner, die so gar nicht feindlich wirkten, zumal sie uns von ihren Fahrzeugen herunter mit Dingen versorgten, die wir bestenfalls aus alten Märchen kannten.

So erhaschte ich auch meine erste Apfelsine - sie flog von einem Panzer - und konnte nichts damit anfangen. Beim Aufschneiden erwartete ich etwas Festeres wie bei einem Apfel, stieß aber auf ein recht matschiges Inneres, aus dem mir gelbliche Brühe über die Finger lief. Ein etwas älterer Junge erklärte mir, die sei ja sowieso faul, und luchste sie mir wieder ab. Mit dieser kleinen Panne begann die Periode der kreativen Selbstversorgung, wo immer man etwas Eß- oder Tauschbares auftreiben konnte - abluchsen ließ ich mir danach nichts mehr. Als die Amis einen LKW-Anhänge4r mit Sojabohnen zur Selbstbedienung freigaben (oder war da gar keine Freigabe erfolgt?), konnten wir immerhin 60 Pfund für die Familie an Land ziehen. Es begann eine Phase mit eiweißreichen, aber eintönigen Menus. Nur die kurze Zeit später auf dem Speiseplan erschienenen Steckrüben verankerten einen noch stärkeren Widerwillen in meinem Magen als die Sojabohnen.

Die nur kurz unterbrochene Schule lief wieder an. Nach meinem Übergang in die 4. Klasse hatten sich die Zeiten soweit normalisiert, daß wir unseren Gastgebern mit dem obskuren Verwandschaftsgrad nicht mehr länger zur Last fallen konnten. Wir verließen - streckenweise im offenen Kohlenwaggon - den Odenwald in Richtung ruhrgebiet, das wir Anfang 1942 mit dem Ziel Litzmannstadt verlassen hatten. Die Zeit, die dann folgte, gehört nicht mehr zum eigentlichen Kriegsende, aber sie war nicht minder ereignisreich und verdient eine eigene Story.

Hat Günter Beilstein diese eigene Nachkriegs-Story geschrieben? Wir wissen es nicht. Vielleicht kann jemand weiterhelfen - bitte gerne eine Mail an Marieta Hiller, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! schicken!

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Marieta Hiller, Februar 2022