Der Frau-Holle-Teich: Märchenquelle, Sinnbild und wanderbare Traumwelt
Sonnenblinken spiegelt durch lichtes Blätterdach, weiche Wolken treiben durchs Oben und Unten. Die Welt auf der glatten Oberfläche ist im Reinen mit sich, es wintert.
Unter der zarten Haut der Wirklichkeit aber lebt eine ganz eigene Welt, märchenhaft gespiegelt und zauberisch entrückt. Durch den klaren Wasserspiegel schimmern Urbilder menschlicher Erfahrung herauf: Selbstlosigkeit gegen Eigennutz.
Als Goldmarie und Pechmarie stürzten sich beide in den Brunnen, in die Traumwelt - und zu Frau Holle. Hier nahm alles seinen Ausgang - am Frau Holle Teich am Hohen Meißner: ein tiefes Wasser als Märchenquelle, und doch entspringt es alten Volkssagen; schon im 17. Jahrhundert von Johann Praetorius festgehalten - Holzspäne verwandelten sich in Gold und sich ein Nutzzauber (stets gefüllte Bierkrüge) verflüchtigte, sobald der Beschenkte ein Wort darüber verlor. Erst eineinhalb Jahrhunderte später destillierten die Gebrüder Grimm die alten Sagen zu einer Märchenwelt ohne Zeit und Ort - das Märchen von Frau Holle, von Goldmarie und Pechmarie, von fertiggebackenem Brot und reifen Äpfeln, vom Schütteln der Kissen und vom Schnee auf der Erde war geboren.
Frau Holle lebt unter uns seit dem Ursprung der Zeit: als Hulda, Holde, Huldr, Perchta, Freya oder Frigg in der nordischen Mythologie, aber auch als Diana, Isis und Venus. Sie verkörpert die weibliche Dreigestalt Jungfrau, Mutter und altes Weib, die es als nordische Nornen, griechischen Moiren und auch im christlichen Glauben als dreifache Maria am Kreuz ist sie gegenwärtig: “„Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.” (Joh 19,25). Frau Holle steigt als wunderschöne junge Frau aus dem Teich, zieht mütterlich die beiden Mädchen aus der Oberwelt - beide heißen Marie! - in ihren Bann und erschreckt doch zugleich als gräßliches altes Weib mit großen Zähnen.
Bevor die alte Sagengestalt der Holle durch christliche Mythen überdeckt wurde, war sie Feenkönigin, Herrin der Hollen, Perchten oder Klausen. Sie alle gehören zum kleinen Volk der Wichtel, Berggeister werden mancherorts auch Huldrefolk genannt. In vielen Sagen leben die Zauberwesen fort, unter der Decke des Christentums herrscht Frau Holle über ihre Welt.
In jeder Region unserer Kultur lebt die Geschichte der Frau Holle und ihrer Helferschar, doch nur eine Landschaft wird so von ihr geprägt wie die Wiesen und Wälder um den Hohen Meißner im Fulda-Werra-Bergland. Ist doch selbst die Braunkohle dort ein Geschenk der Frau Holle - bereits ab 1560 ist der Braunkohle-Abbau belegt, doch ein armer Glasmacher aus Wickenrode auf seiner verzweifelten Suche nach Feuerholz fand braune Steine auf der Wiese, und als man dort grub, fand man soviele, daß niemand mehr winters frieren mußte. Die Schätze der Erde gibt Frau Holle an gute Menschen heraus, und manch junges Mädchen stieg in den Frau Holle Teich und bekam ein Kind geschenkt. Doch hatte auch die Holle eine dunkle Seite: zu Zeiten zog sie mit dem Wilden Heer durchs Land und lockte Kinder in den Teich. Goldmarie und Pechmarie - gute Menschen wie schlechte Menschen hören ihr allereigenstes Echo aus den Tiefen des Wassers.
Auch heute hat Frau Holle ihren Zauber nicht verloren. Gemeinsam mit Goldmarie und Pechmarie zeigt sie sich als Skulptur in einer märchenhaften Landschaft. Auf einer erholsamen Wanderung durch die Wiesen und Wälder des Hohen Meißners läßt sich das Echo aus der Traumwelt des Märchenzaubers erspüren. Auch die Wanderung nimmt den Frau Holle Teich als Ausgangspunkt: hinauf auf den Schnee-Berg, den Hohen Meißner - dessen alte Namensbedeutung Weißer Berg ist - geht es in einer dreistündigen Wanderung mit fachkundiger Führung einer Naturparkführerin des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald. Auf dem Kalbe-Pfad lernt man Feuer und Wasser auf dem Hohen Meißner kennen, hier brennt seit 400 Jahren im Berg selbst entzündete Kohle. Nur auf einer geführten Wanderung kann man dies entdecken - manch abgeschiedenes Fleckchen im Naturschutzgebiet ist nur mit fachkundiger Führung zu entdecken, so auch die Kripplöcher mit ihrer Karstlandschaft. Man muß nicht unbedingt wandern: wer möchte, kann sich die Meißnergeschichten auch am gemütlichen Bolleröfchen anhören.
Kommt man jedoch zum Frau Holle Teich, so gibt es dort ganz in der Nähe - an der Zaubersbrücke - noch heute einen Zauber: wirft man dort mit geschlossenen Augen etwas aus dem Wald ins Wasser, so erhört Frau Holle Wünsche. Wer nun noch immer nicht weiß, ob er auch einen Pechmarie-Wunsch äußern darf, der sei gewarnt vor dem Höllenhund an der Zaubersbrücke, der mit glühenden Augen die guten Wünsche bewacht... Marieta Hiller