Laßt mich, liebe Märchenfreunde, euch einmal eine wahre Geschichte erzählen, eine Geschichte von zauberhaften Wesen, von Gestalten die aus Traumwelten, ja aus der Traumzeit selbst zu uns herüberblicken, mit ihren goldenen Augen voller uraltem Wissen - und voller unermeßlicher Trauer. Denn sie geraten in Vergessenheit... Kein Mensch lebte noch auf der Erde, als die Saurier unsere blaue Kugel bewohnten. Niemand von uns hat sie je lebendig erblickt, und dennoch bevölkern sie unsere Fantasie, unsere Träume, unsere Märchen und Fabeln: denn wer anders wenn nicht die Dinosaurier zeigen sich in der Gestalt von Drachen? So vielfältig wie die Urzeit-Echsenwelt erscheinen uns auch die vielen Exemplare der Gattung Draco. Da gibt es bösartige und zerstörerische Drachen ebenso wie verwunschene oder traurige, gutmütige, gar kinderliebe Wesen. Dennoch: sie alle haben etwas gemeinsam. So unterschiedlich sie auch in Aussehen und Charakter erscheinen, gehören sie doch allesamt zur Gattung der Drachen - in allen Kulturen und in allen Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Drachen fliegen oder kriechen durch unsere allerältesten Märchen, die Mythen, ebenso wie durch Erzählungen aus den letzten fünfhundert Jahren. Woher aber haben alle Menschen auf dem ganzen Erdball ihre immer gleichen Geschichten von den schuppenschillernden Mischwesen aus Vogel, Reptil und Raubtier? Gibt es so etwas wie eine kollektive Erinnerung an eine Zeit vor der unseren? Es gibt sie. Hunderte von Drachengeschichten können schließlich nicht irren. Und so bewegen sie sich weiter durch unsere Fantasie, die Drachen, starren aus unergründlichen unerbittlichen Goldaugen auf uns Träumende, fauchen mit gespaltener Zunge und rauchenden Nüstern, schlagen mit Adlerklauen, Löwenpranken und stachelbewehrtem Schwanz, und immer haben sie etwas zu behüten. Einen Schatz etwa - in unseren Märchen so alt wie die Drachen selbst. Ein Schatz ist eine Kostbarkeit, sorgsam zu hüten vor dem Zugriff böser Mächte - wer könnte das wohl besser als ein Drache! Seit altersher ist ein Schatz etwas, das aus der Erde kommt, aus tiefen Felsenklüften, in Millionen von Jahren zu Kristallen erstarrt, glitzernd und funkelnd und von zauberhafter Anziehungskraft. Doch was anders als Drachentränen könnten die Edelsteine wohl sein? Drachentränen, einst vergossen in unermeßlich-einsamem Kummer, feuerglühend auf die unbewohnte Erde getropft, hindurchgeschmolzen durch die oberen Erdschichten bis hinab in das Felsenreich der tiefsten Geheimnisse. Dort hielten sie über unermeßliche Zeiträume hinweg die Träume der Drachen in ihrem Inneren verborgen. Und jetzt Hand aufs Herz: wer von uns Menschen möchte, daß all seine Träume für jedermann sichtbar würden? So hüten auch die Drachen ihre Träume, ihren Schatz. Manchmal allerdings spüren seltsame Gestalten solch einen Drachenschatz auf: Zwerge etwa. Zwerge gehören wie Kobolde, Elfen viele andere Wesen zum Kleinen Volk, das - wie die Drachen - Höhlen und Erzgänge tief unter der Erde liebt. Zwerge waren es, die den größten Schatz aller Zeiten in ihre Hände bekommen hatten: den Nibelungenhort, einstmals von Göttern, den Asen, erschaffen. Jene Götter schürten unter den Menschen Neid und Mißgunst mit ihrem Gold, und so wurde einer dieser Menschen zu einem Lindwurm. Die Geschichte wird dann sehr unterschiedlich erzählt: mal stahlen die Götter den Goldschatz den Zwergen unter König Andvari - auch als Alberich bekannt -, mal stahl der Recke Siegfried den Schatz der Zwerge und erlegte dann den Drachen, mal stibitzten die Zwerge den Schatz auch dem Drachen. Später dann begannen selbst die Menschen, tief in der Erde zu schürfen, auf der Suche nach Gold und Silber, nach Erzen und edlen Steinen. Die Drachen zogen sich zurück, ganz tief unten in der Traumwelt versteckten sie sich, und nur manchmal tauchte einer an der Oberfläche auf. Etwa an jenem nebligen Tag, als das Seemonster vom Loch Ness versehentlich oben und unten verwechselte, und anstatt in seine gemütliche Höhle tief unter der Wasserfläche zu kriechen, steckte es seinen Echsenkopf heraus in die Luft, verharrte verwundert einen Augenblick, bevor es seinen Irrtum erkannte und schleunigst abtauchte. Die Menschen jener Region aber haben seit diesem Tag ihre Touristenattraktion, auch wenn dem Seemonster nie wieder ein solcher Fehler unterlief. In vielerlei Gestalt hausen Drachen in unserer Welt: da gibt es die australische Regenbogenschlange, die als zugleich männliches und weibliches Wesen aus der Traumzeit der Aborigines sowohl weiblicher Erdgeist als auch männliche Sonne ist. Ein sehr alter Drache ist Mušhuššu (wer ihn beim Namen nennen möchte: er spricht sich Musch-chusch-schu), er geisterte vor zweieinhalbtausend Jahren durch die Träume der Babylonier. Ein sehr altes Relief dieses Drachenwesens ist zu sehen auf dem Ištar-Tor, gebildet aus glasierten Ziegeln, ein goldener Drache auf blauem Grund, geschaffen im Auftrage König Nebukadnezar des II. und zu sehen im Berliner Pergamonmuseum. Zweihundert Jahre später trat der altägyptische Gott Apophis auf, Widersacher von Sonnengott Re, als Schlangen- und Schildkrötenwesen für Zerstörung, Finsternis und Chaos zuständig. In Mesopotamien gab es die Göttin Tiamat, zuständig für das Salzwasser und von drachenartiger Gestalt. Sie mußte vom Gott Marduk besiegt werden, damit den Menschen eine Wohnstätte geschaffen werden konnte. Westliche Drachen sind allgemein etwas übel beleumundet: von furchterregender Gestalt und Größe, häßlich wie der Teufel - und so bedeutet dracu im Rumänischen auch nichts anderes als Teufel, heute noch lebendig - im Sinne von untot - als Dracula. Drachen leben in allen vier Elementen: Erde Feuer Wasser Luft, denn sie können fliegen, schwimmen, kriechen und Feuer speien. Bereits viele Jahrhunderte vor Apophis und Mušhuššu verkörperten Drachen in der fernöstlichen Mythologie königliche, ja kaiserliche Macht. Sie sind dort Glücksbringer, und es gibt sie in vier verschiedenen Sorten: den Himmelsdrachen, der für die Sonne zuständig ist, den regenmachenden Geisterdrachen, den Schatzhüter, der auf Edelsteine und Edelmetalle aufpaßt und den Erddrachen, der die Quellen und Flüsse behütet. Mit dem Leviathan, das ist hebräisch und bedeutet „der sich Windende“, kommen wir nun schon in biblische Zeiten. Dieses Seeungeheuer vereint in sich Eigenarten von Krokodil, Schlange und Wal, und vermutlich hat es in seinem übergroßen Appetit auch den biblischen Jonas verschlungen, der dann auf wundersame Weise aus dem Bauch des Monsters gerettet wurde. Es folgte der Basilisk, ein bösartiges Wesen. Wer ihm in die Augen blickte, der mußte zu Stein erstarren, wen sein giftiger Atemhauch berührte, starb. Spinnen flohen in wilden Wellen, wenn der Basilisk erschien, und nur der Schrei des Hahns konnte ihm selbst gefährlich werden. Es gibt nicht viele von ihnen, denn ihre Aufzucht ist schwierig: aus einem Hühnerei, ausgebrütet von einer Kröte oder einem Frosch schlüpfen kleine Basilisken. Und weil heutzutage nicht nur die Drachen fast schon ausgestorben sind, sondern auch die Frösche und Kröten sehr bedroht sind, werden Basilisken wohl die ersten sein, die es gar nicht mehr geben wird. Nur in Büchern - so wie bei Harry Potter - wird man dann noch von ihnen lesen können. Bücher und Wappen: das sind die letzten Relikte, wo man heute Drachen noch begegnen kann. Dichter aller Zeiten - Konrad von Megenburg, Hildegard von Bingen, Clemens von Brentano, Rainer Maria Rilke und sogar Wolf Biermann - haben dem Drachen ihre Zeilen gewidmet, unzählige Städte tragen den Drachen - oder öfter noch den Töter desselben - in ihrem Wappen: Klagenfurt in Österreich, Ville du Havre in Frankreich, Darlington und Carlisle in England, in Deutschland sind es Worms, St. Georgen, Nebra, Stein am Rhein, Zeitz und Stadtlengsfeld. Die Republik Georgien zeigt ebenfalls den Drachen. Georgien und St. Georg weisen auf den biblischen Drachentöter hin, den heiligen Georg, Schutzpatron der Pfadfinder. Zur Zeit der Kreuzzüge im12. Jahrhundert verband man mit diesem Mann aus Byzanz, der bereits 800 Jahre zuvor als Märtyrer gestorben war, die Geschichte mit dem Drachen. Offiziell wurde er aus dem kirchlichen Katalog der Heiligen entfernt, was jedoch seiner Beliebtheit keinen Abbruch tat. Der gute Georg erlöste ein ganzes Königreich von einem Fluch, dem zufolge die jungfräuliche Königstochter dem Drachen dargebracht werden mußte. Georg tötet den Drachen, das Land ist befreit und alle lassen sich auf Georgs Anraten taufen. Doch der heilige Georg wäre nicht heilig - und die Geschichte ein Märchen - wenn er jetzt die Königstochter zur Frau genommen hätte. Das hat er nicht getan. An diese Geschichte glauben viele Menschen, nicht mehr allzuviele jedoch glauben heute noch an Drachen. Vielleicht ist es das, was die Drachen einst so traurig machte, daß sie heiße Tränen vergossen: eine Weissagung, daß eines Tages niemand mehr an sie glauben würde. In Ostasien ist das anders: dort glauben noch heute 80 % der Menschen an Drachen, aber dort sind Drachen ja auch Glücksbringer und sorgen für Wasser anstelle Feuer zu spucken... Und ihr, liebe Märchenfreunde, solltet tunlichst dafür sorgen, daß ihr beim nächsten Mal ein bißchen mehr an Drachen glaubt, denn sonst ist die Geschichte aus. Und wenn sie nicht gestorben sind, so wurden sie einfach vergessen... Marieta Hiller