Einst kamen sie übers Meer nach Irland: die Zwerge vom Kleinen Volk, gemeinsam mit den Menschen der Bronzezeit.
Flugs machten sie sich ans Werk und verwandelten die waldig-geheimnisvolle Insel in ein grünes Grasland. Hell klangen die Äxte, krachend stürzten die uralten Baumriesen zu Boden und wurden zu ganz gewöhnlichem Brennholz für die Rennöfen, mit denen die Zwerge aus Erz ihr heißbegehrtes Metall gewannen. Niemand störte sich daran, daß in den tiefen Wäldern schon jemand gewohnt hatte. Elfen nämlich, durchscheinend helle Flatterwesen, die in der Hauptsache aus Lachen bestehen und die Musik ihrer goldenen Harfen liebten. Die She und Shi, denn so heißen sie in der Sprache der Insel, hießen auch das Stille Volk, denn sie lebten friedlich.
Kein Wunder, daß die Zwerge ihr stilles Glück zerstörten! Fortan schlüpften die Elfen ins Gefieder der Vögel, die sie weit in die Welt hinaus bringen sollten. So gelangten viele Wesen vom Stillen Volk einst, vor langer langer Zeit, nach Island, wo sie noch heute in friedlicher Eintracht mit den Menschen dort leben.
Nach Irland aber kamen, einige Zeit später, die alten Römer, und auch sie brachten ihre Hausgeister mit auf die Insel, die bei ihnen hibernia hieß. Doch den römischen Leuten vom Kleinen Volk gefiel es nicht auf der Insel, und so mußten die Römer schließlich das grüne Land wieder verlassen, ohne daß auch nur einer ihrer Geschichtsschreiber um den wahren Grund wußte. Schließlich fielen noch die Wikinger über das Land her und brachten ihre schauerlichen Klabautermänner mit. Dann blieb es für lange Zeit still auf Eire, wie die Insel bei den menschlichen Bewohnern heißt.
Die geheimen Orte, an denen ein Übergang in die Anderswelt gelingt, gerieten in Vergessenheit. Doch eines wurde nie vergessen: die alten Geschichten über Feen, Elfen und Kobolde, aber auch von Wiedergängern und Riesen. Und auch die Erinnerung an die Anderswelt blieb lebendig, nur wußte niemand mehr, wo die Eingänge zu suchen waren. In Märchen aber blieb das Wissen um die Eingänge erhalten: so muß man einfach in einen Brunnen springen, um zu Frau Holle und ihrer geheimnisvollen Welt zu gelangen. Auch der Glasberg im Märchen von den Sieben Raben ist ein solcher Zugang. Doch welcher Mensch beherrscht noch die Kunst, einen Zugang zur Anderswelt zu finden?
Glasberge sind heutzutage recht selten geworden, und an allen Brunnen steht geschrieben „Verunreinigen bei Strafe verboten“. Wer würde es da wagen, hineinzuspringen! Doch müssen auch die modernen Menschen in Irland nicht ganz ohne Wesen vom Kleinen Volk auskommen - schließlich sind diese Wesen geduldig und hilfsbereit, und sie folgen stets ihrem Wahlspruch, daß den Menschen geholfen werden muß. Und so kennen die Menschen auf der grünen Insel seit altersher ihre Kobolde als Leprechauns. Das kommt aus dem Irischen Lú Chorpain und heißt schlicht „Kleine Gestalt“. Klein sind sie wirklich: nur sechsundzwanzig Zoll mißt ein ausgewachsener Leprechaun.
In den alten Geschichten der Menschen heißt es stets, die Leprechauns seien einst aus einem geheimnisvollen Land unter dem Meer gekommen, mehr weiß man leider nicht über ihre Herkunft. Aber daß sie rote Mützen tragen, mit denen sie im Nu verschwinden und woanders wieder auftauchen können, das weiß man sehr wohl. Seit langem bereits gehen die Leprechauns dem Handwerk des Schuhmachens nach, denn die Elfen, die vor vielen vielen Sommern zurückgekehrt sind, und die Tag und Nacht lachen und zu ihrer perlenden Harfenmusik tanzen wollen, brauchen sehr viele Schuhe. Zertanzte Schuhe müssen ständig ausgebessert werden, oftmals auch durch ganz neue ersetzt werden.
Dafür entlohnen die Elfen die Leprechauns sehr großzügig: ihr fröhliches Lachen verwandelt sich in reines Gold für die Leprechauns! Das Gold aber, das hüten die irischen Kobolde wie ihren Augapfel, sie vergraben es an geheimen Plätzen. Und so kommt es, daß immer wieder Menschen ausziehen, um einen sagenhaften Schatz zu heben, den Schatz der Leprechauns. Doch wie könnte es anders sein: noch niemals hörte man davon, daß ein Mensch einen solchen Goldschatz gehoben hätte! Wohl hat so mancher schon versucht, einen Leprechaun zu fangen - was am besten gelingen soll, wenn dieser ganz in seine Schuhmacherei versunken ist! - doch solange man ihm nicht seine rote Mütze wegnimmt, ist er - schwupps - im gleichen Augenblick verschwunden, in dem man den Gedanken faßt, ihn zu fangen.
Ihre Erfahrungen mit den Leprechauns haben die Menschen, gewissenhaft wie sie sind, nicht nur in vielen wunderschönen Märchen fort und fort erzählt. Sie haben dem Leprechaun sogar ein eigenes Museum eingerichtet: im Herzen von Dublin. Dort kann man sogar - so heißt es - die Reise zum Ende des Regenbogens unternehmen, wo alten Märchen zufolge der große Goldschatz vergraben sein soll. Und es gibt Abende hier, an denen Geschichten von der dunkleren Seite des Übernatürlichen, erzählt werden, Geschichten die man sich nur anhören sollte, wenn man schon groß ist und eigentlich nicht mehr an das Kleine Volk glaubt. So heißt es jedenfalls im WeltWichtelWissen unter www.leprechaunmuseum.ie.
Auch Riesen gab es natürlich auf der grünen Insel. So geht die Sage um „Giant’s Causeway“ hoch im Norden Irlands, auf Irisch „Clochán an Aifir“ genannt: der Riese Fionn mac Cumhaill baute diesen „Damm des Riesen“ einst. Sein schottischer Widersacher Benandonner habe Fionn eines Tages derartig beleidigt, daß Fionn einen Damm zu bauen begann, um Benandonner in einem Duell zu besiegen. Riesige Felsen aus den Klippen, Basaltsäulen, die er aufrecht ins Meer rammte, sollten ihm den sicheren Weg nach Schottland bilden. Kam war er fertig, so forderte er Benandonner zum Kampf heraus. Dieser mußte die Herausforderung annehmen, das war klar.
Fionn aber war müde und fürchtete, im Kampf nicht bestehen zu können. So verkleidete seine Frau ihn flugs als Baby, und als Benandonner heranstampfte, erklärte Fionns Frau, dieser sei gerade nicht da. Sie lud ihn aber auf einen Tee ein, so könne er auf Fionns Rückkehr warten. Benandonner aber betrachtete mit gerunzelter Stirn das Riesenbaby, und als er sich vorstellte, wie wohl der Vater eines solchen Babys aussehen müsse, packte ihn die Furcht. Flugs schlürfte er seinen Tee aus, erklärte Fionns Frau, daß er Wichtiges in Schottland zu erledigen habe, und stapfte so heftig über den Damm zurück dorthin, daß der Damm zerstört wurde.
Noch heute aber liegen die Überreste unweit des Städtchens Bushmill an der Küste. Ein letztes Wörtchen noch zu den Elfen: einige blieben in Island und auch an anderen Orten auf der Welt, gerade wohin sie der Flug der Vögel einst getragen hatte. Eine aber, die kleine Elfe harpshee, hatte ihre geliebte goldene Harfe verloren, gerade als die sieben Raben mit ihrer ganzen Familie sich in die Lüfte erhoben hatten. So trauerte sie viele lange Sommer, denn alle Elfen ringsum lachten zu ihrem perlenden Harfenspiel, nur Harpshee mußte sich mit Singen begnügen.
Eines Tages brach sie deshalb auf, und einige ihrer treuesten Freundinnen und Freunde begleiteten sie. Wie aber schauten die Elfen, als sie ihre Insel wieder sahen! Die geheimnisvollen tiefen Wälder waren weiten grünen Wiesen gewichen, auf denen Kühe und Schafe weideten und Menschen in Holzhütten und in Steinhäusern lebten. Doch die goldene Harfe, die Harpshee einst verloren hatte, die sollte noch immer an ihrem versteckten Ort liegen, gleich hinter dem Ende des Regenbogens. So hatte es ein Leprechaun der Elfengesellschaft heimlich verraten. Vergnügt flatterte Harpshee sogleich dorthin, schaute hinter einem Topf voll Gold nach - und dort lag sie. Ein wenig verstaubt, aber mit einem wunderbar perlenden Klang! Und seither tanzen sie wieder, die Elfen - und die Leprechauns reparieren dann ihre zertanzten Schuhe...
Marieta Hiller