Wie man als Homosexueller im 20. Jahrhundert lebte: Darmstadt unter dem rosa Winkel
Man sollte meinen, daß mit dem Kriegsende 1945, mit dem Ende der Nazigewaltherrschaft, auch die NS-Gerichtsbarkeit außer Kraft gesetzt wurde. Die Aliierten übernahmen alle Funktionen und strukturierten Behörden und staatliche Einrichtungen neu.
Einige Paragraphen aus der alten Gesetzgebung wurden jedoch noch für lange Zeit weiter angewendet. Wer aufgrund des Paragrafen 175 in Haft war, blieb es weiterhin. Die Nationalsozialisten hatten ein perfides Mittel, um wehrfähige Männer von Straftaten abzuschrecken, die auf diese Weise von der Front ins Gefängnis wollten: sie wurden zwar in Haft verwahrt, ihre eigentliche Strafe war jedoch erst nach Kriegsende abzubüßen.
§ 175 betrifft Homosexuelle, damals hieß ihr Vergehen widernatürliche Unzucht. Gefängnis und Zuchthaus bis hin zur Schwerstarbeit im Moor stand darauf. Die Inhaftierten wurden medizinischen Versuchen unterzogen, Valentin Reinhardt aus Viernheim wurde 1942 mit Malaria-Erregern infiziert, erkrankte und mußte trotzdem schwer arbeiten: er war zu Tunnelarbeiten beim Eisenbahnbau eingeteilt.
Schauen wir unsere Industriedenkmäler unter diesem Aspekt an: wieviele Straßen, Kanäle, Eisenbahnstrecken wurden unter schwersten Bedingungen von Männern erbaut, deren einziges Vergehen es war, das falsche Geschlecht zu lieben. In Steinbrüchen und Bergwerken mußten sie arbeiten, bei unzureichender Ernährung und Unterbringung.
"Sicherungsverwahrte [sollten] durch einen Einsatz dort, wo sie zugrunde gingen, vernichtet werden" (Reichsjustizminister Otto Thierack und SS-Chef Heinrich Himmler 1942).
Zur Zeit des 1. Weltkrieges arbeitete man lieber mit Unterstellung geistiger Behinderung und Entmündigung. Konrad Jakobi aus Darmstadt wurde als Kind, das in der Schule nicht mitkam, zu einem Landwirt in Wald-Michelbach gesteckt. Mit zehn Jahren folgte Zwangserziehung in verschiedenen Stiften und Anstalten (Gräfenhausen, Darmstadt, Traisa, Heppenheim, Goddelau). Laut Akten wurde ihm passive Päderastie vorgeworfen. Heute weiß man, was das bedeutet: Betroffene sprechen darüber und organisieren sich im Eckigen Tisch. Ab 1940 verliert sich Jakobis Spur, da der NS-Staat nicht arbeitsfähige KZ-Häftlinge systematisch ermordete.
Die genannten Personen und viele weitere bislang Namenlose werden im neu erschienenen Buch „Darmstadt unter dem Rosa Winkel“ als Menschen sichtbar. Der Geschichtsforscher Rainer Hoffschildt stellte die Dokumentation zusammen, Markus Jöckel (Pear design Asbach) gestaltete sie für die HuK Regionalgruppe Darmstadt* in Kooperation mit der Stadt Darmstadt. Der rosa Winkel kennzeichnete homosexuelle Inhaftierte.
Während die Presse im Dritten Reich durch Nennung des vollen Namens Rufmord an homosexuellen "Straftätern" beging, wird den Justizopfern in diesem Buch bewußt Persönlichkeit und Identität zurückgegeben. „Ein wichtiges Werk zu unserer Geschichte“, so Jöckel.
Bis der Paragraf 175 in seiner NS-Fassung endlich revidiert wurde, weist die Kriminalstatistik des Hessischen Landeskriminalamtes für die Jahre 1955 bis 1969 noch bekanntgewordene und aufgeklärte Straftaten aus: zwischen 9 und 72 Fälle jährlich. Am 1. September 1969 wurde der Paragraf geändert und nur noch homosexuelle Handlungen an Jugendlichen im Schutzalter (zunächst unter 21, ab 1973 unter 18 Jahren) unter Strafe gestellt.
Zuchthaus, Schwerstarbeit im Straflager, "freiwillige" Kastration, Entmündigung, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte gehörten damit der Vergangenheit an, aber noch lange nicht die gesellschaftliche Ächtung. Der weite Weg von 1969 bis heute wird im Buch anhand von Dokumenten und Zitaten aufgezeichnet. 2011 fand der erste Christopher Street day in Darmstadt statt, 2012 beschloß der Bundesrat Maßnahmen zur Rehabilitierung der nach 1945 Verurteilten, 2017 folgte der Bundestag, und Entschädigungen für Betroffene wurden möglich.
Das Buch kann bei Jöckel zum Selbstkostenpreis von 5,95 EUR plus Versandkosten bestellt werden: Telefon: 06167-912192 www.pear-design.net
*HuK: Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V. www.huk.org
Der Grafik-Designer Markus Jöckel aus Asbach zeigt seine Fotogalerie mit farbenfrohen Motiven aus den Bereichen Volksfest, Freizeitparks, Flowerpower, Welterbe und Landschaft auf seiner Seite http://www.pear-design.net/. Absolut sehenswert sind auch die Gemälde, die Jöckel hier zeigt und die im Original erworben werden können.
Marieta Hiller, Oktober 2021