August 2023: Ergebnisse der Forschung
Vom Landgut-Herrenhaus zur Fachklinik für Suchtkranke - Die wechselvolle Geschichte von Schloss Falkenhof
Schloss Falkenhof in Schönberg, zwischen 1890 und 1901 erbaut, war in den 1950er bis 1990er Jahren ein Kinderheim für Verschickungskinder. Wie in vielen Häusern gab es auch hier "schwarze Pädagogik". Eine vom Caritasverband Darmstadt in Auftrag gegebene professionelle Recherche zur Geschichte des früheren Kinderheims konnte offene Fragen beantworten und Lücken in der Historie füllen. Bei einer gut besuchten Abendveranstaltung im Juli kamen zahlreiche Zeitzeugen zu Wort. Ihre Berichte waren unterschiedlich: von "keine auffälligen Besonderheiten" und "der erwähnte Zwang fand nicht statt" über "normale Behandlung der Kinder" bis zu pädagogischen Exzessen kamen Äußerungen.
Wie professionelle Distanz zu Lieblosigkeit wird, konnte ich am eigenen Leib erfahren. 1968 wegen "Unterernährung" nach Oberstdorf ins Kinderheim geschickt, bekam ich dort zum Abendessen Margarinebrot mit Gurkenscheiben, was der Gewichtszunahme nicht sehr förderlich war. Die Erzieherinnen waren - bis auf Ludmilla - recht lieblos, unsere Briefe nach Hause wurden zensiert und wir litten sehr unter Heimweh.
Schlimmeres als mangelnde Empathie erfuhr ich dort jedoch nicht.
Für die Verschickungskinder, die im Schloß Falkenhof waren, war es zum Teil mehr als Gleichgültigkeit. Es mußte Erbrochenes wieder gegessen werden, und die zwei Stunden Mittagsruhe wurden sehr streng eingehalten ("Sie waren eine Qual"). Nachts wurden Kinder geweckt um zur Toilette zu gehen, damit sie nicht ins Bett machten. Hinweise auf sexualisierte Gewalt wurden jedoch keine gefunden.
Anwesend war ein Herr, der 1944 im Schloß Falkenhof geboren wurde. Zu jener Zeit war hier ein NS-Müttererholungsheim mit Geburtenklinik, außerdem ein Lazarett. Es war jedoch nach Quellenlage keine Lebensborn-Einrichtung, sondern für Schwangere aus ausgebombten Städten.
Ab 1945 brachte die Caritas zunächst Flüchtlingskinder auf Schloß Falkenhof unter, das Schloß war der Caritas vom Land Hessen dafür zur Verfügung gestellt und 1949 schließlich überschrieben worden. Zu dieser Zeit lebten manche Kinder dauerhaft im Schloß und gingen in Schönberg zur Schule. Ein ehemaliger Schüler von dort meldete sich zu Wort, daß sie mit den Heimkindern kaum Kontakt hatten, da diese zu Fuß über den langen Schulweg zur Schule kamen und danach sofort wieder ins Schloß zurückmußten. Gemeinsame Spiele waren nicht möglich. Vor allem die im Schloß untergebrachten Mädchen litten stark unter Heimweh - oder sie zeigten es eher als die Jungs.
"Hier riecht es noch wie früher" - so einige frühere Mitarbeiterinnen bei einer Führung durch die Räumlichkeiten. "Die alte Uhr hängt immer noch da!" stellten sie fest. 1956 war der architektonisch interessante Rundbau errichtet worden, und im Turmzimmer des Schlosses waren die Haustöchter untergebracht. Sie machten hier ein Jahrespraktikum, um später in sozialen Berufen zu arbeiten. Im Falkenhof mußten sie schwere körperliche Arbeit in der Hauswirtschaft verrichten.
Ab 1966 wurde das Schloß und die Neubauten zur Suchtklinik für Männer, vor allem Alkoholkranke. Erst in diesem Jahr war Alkoholabhängigkeit von den Krankenkassen als Krankheit eingestuft worden, so daß eine Therapie möglich wurde. Vorher hieß es: reiß dich halt zusammen.
Die Broschüre "Schloß Falkenhof im Wandel der Zeit" wurde vom Caritasverband Darmstadt e.V. in Zusammenarbeit mit dem Büro der Erinnerungskultur Babenhausen erstellt und ist online zu finden: https://www.klinik-falkenhof.de/falkenhof/historie/geschichte-des-schlosses
Historiker Holger Köhn (www.erinnerungskultur.de) hatte in einem Vortrag über die wechselhafte Geschichte und das Ergebnis der Recherchen berichtet.
Marieta Hiller, August 2023
Juni 2023: Die wechselvolle Geschichte von Schloss Falkenhof - Ergebnisse der Suche
Eine vom Caritasverband Darmstadt in Auftrag gegebene professionelle Recherche zur Geschichte des früheren Kinderheims konnte offene Fragen beantworten und Lücken in der Historie füllen. Hinweise auf sexualisierte Gewalt wurden keine gefunden, aber es gab Zeitzeug*innen, die sich auch in Bensheim als Opfer schwarzer Pädagogik der Nachkriegszeit gesehen haben.
„Es war im Sommer 2021, als wir informiert wurden, dass „Schloss Falkenhof“ und damit der Caritasverband Darmstadt auf der Seite verschickungskind.de* zu finden ist“, berichtet Caritasdirektor Winfried Hoffmann. Verschickungskinder waren in den 50er bis 90er Jahren Kinder, die allein, ohne Eltern, in Kinderkuren, Kindererholungsheime und Kinderheilstätten verschickt wurden. Kinderkuren waren ein Massenphänomen dieser Zeit. Mehrere Millionen Kinder wurden zu meist mehrwöchigen Aufenthalten zur Erholung in Kureinrichtungen geschickt, häufig an die See, ins Mittelgebirge oder in die Alpen - aber auch nach Bensheim. Denn dort war nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Schloss, in dem die Caritas seit 1968 eine Fachklinik für suchtkranke Männer betreibt, ein „Flüchtlingskinderheim“ unter der Trägerschaft des Caritasverbandes Darmstadt eingerichtet worden. Zwanzig Jahre, bis 1966, wurde dies als „Kindererholungsheim“ für Jungen und Mädchen genutzt. „Über diese Zeit war uns, die wir seit 2017 und 2021 als Vorstand tätig sind, wenig bekannt“, so Vorstandskollegin Stefanie Rhein. „Als sich herausstellte, dass insgesamt kaum Informationen zur Geschichte dieser Einrichtung im Verband vorlagen, entschieden wir uns dafür, die Geschichte von Schloss Falkenhof in den Blick zu nehmen. Wir wollten, dass jemand genau hinschaut, recherchiert und Dinge hinterfragt. Wichtig war uns nichts zu vertuschen oder schönzureden, unabhängig davon, was die Recherche hervorbringen sollte.“
* Anm. d. Red.: Die Seite https://verschickungskind.de/ ist derzeit nicht freigeschaltet, aber Informationen zum Thema gibt es hier: https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/nachkriegszeit/verschickungskinder-104.html oder bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Verschickungskinder
Beauftragt wurde das Büro der Erinnerungskultur mit einer professionellen Recherche. Nun geben eine Broschüre und elf Tafeln an den Hauswänden und in den Innenräumen des Gebäudes Einblicke in die Ergebnisse der umfassenden Arbeit. Historiker Holger Köhn bestätigt die freie Hand in der Recherche. Der ursprüngliche Auftrag die Geschichte des Kindererholungsheimes zu recherchieren sei noch um die Vorgeschichte erweitert worden. Diese war in den vergangene 125 Jahren sehr wechselvoll: Die Geschichte der repräsentativen Villa sei stark geprägt von Heinrich Ritter von Marx, der „Schloss Falkenhof“ zum Ende des 19. Jahrhunderts als Sommerresidenz erbauen ließ, ein topmoderner Bau mit Heizung, Warmwasser und Telefon. 1938 musste er sein Eigentum jedoch wegen Geldnot an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt verkaufen. Bis 1945 war Schloss Falkenhof nun „NSV-Müttererholungsheim“, Geburtenklinik, Lazarett und Offiziers-Casino. Die Quellen seien spärlich zu dieser Zeit, eine bessere Quellenlage habe es nach 1945 gegeben, als das Gebäude als Kindererholungsheim des Caritasverbandes Darmstadt genutzt wurde. Aus ganz Deutschland seien die Kinder auf Schloss Falkenhof gekommen, die meisten aus dem Ruhrgebiet, oftmals mit dem Ziel der Gewichtszunahme. Mit über einem Dutzend Zeitzeuginnen und Zeitzeugen konnten der Historiker Dr. Holger Köhn und der Journalist Christian Hahn nach einem Zeitzeugenaufruf persönlich oder am Telefon über die Zeit auf Schloss Falkenhof sprechen.
Zeitzeug*innen berichten über positive wie negative Erinnerungen
Dabei haben sie in den Gesprächen von positiven wie negativen Erinnerungen erfahren. Die beiden Leiterinnen Frl. Winter und Frl. Hardering hätten 20 Jahre ein strenges Regiment geführt. Viele Kinder litten unter Heimweh. „Manche Kinder von einst erinnern sich an Strenge und demütigende Strafen. Sie wurden gezwungen, ihre Teller leer zu essen – teilweise auch dazu, Erbrochenes erneut zu essen“, berichtet Holger Köhn von den Gesprächsinhalten. „Auch die Einhaltung der Ruhezeiten wurde streng kontrolliert, wer hier unangenehm auffiel, musste „in der Ecke stehen“. Andere Formen körperlicher Gewalt sind offensichtlich nicht an der Tagesordnung gewesen. Eine Erzieherin, die ein Kind geschlagen hatte, sei laut einer Zeitzeugin umgehend entlassen worden. Es gibt keine Hinweise auf Formen sexualisierter Gewalt auf Schloss Falkenhof, wie sie sich für andere Kindererholungsheime dokumentiert findet.“
Foto: Klinikleitung Sven Krone, Caritasdirektorin Stefanie Rhein, Klinikleitung Markus Reichel und Caritasdirektor Winfried Hoffmann.
Nachzulesen gibt es all dies in einer 40-seitigen Broschüre. Dort finden sich neben den Texten zu den unterschiedlichen Nutzungen auch viele Fotos, die zum Teil auch von den Zeitzeug*innen mitgebracht wurden. Auch dank der Recherche in zahlreichen Archiven konnten viele Inhalte zusammengetragen werden. Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden: https://www.klinik-falkenhof.de/falkenhof/historie/geschichte-des-schlosses
Vortragsabend am 27. Juli 2023
Neben der Broschüre erzählen auch Zeittafeln auf dem Gelände des Falkenhofs von seiner außergewöhnlichen Geschichte. „Auch wir haben viel dazu gelernt und sind sehr froh, diesen Weg mit Experten an unserer Seite gegangen zu sein“, sagt Winfried Hoffmann. Am 27. Juli lädt der Caritasverband Darmstadt um 18:30 Uhr die Bevölkerung zum Vortragsabend und anschließender Schlossbesichtigung ein. Dr. Holger Köhn wird über das Forschungsprojekt berichten und Interessierte können die Broschüre erhalten. Da die Platzzahl begrenzt ist, braucht es eine vorherige Anmeldung unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Anmeldungen sind ab sofort möglich.
Bericht: Caritasverband Darmstadt e.V., Claudia Betzholz www.caritas-darmstadt.de
Kontakt Büro für Erinnerungskultur, Dr. Holger Köhn www.erinnerungskultur.de
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März 2022: Forschungsprojekt zur Geschichte von „Schloß Falkenhof“: Caritasverband Darmstadt sucht Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Der Caritasverband Darmstadt e. V. feiert 2022 sein 100-jähriges Bestehen. Angeregt durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beschloss der Vorstand des Caritasverbands Darmstadt, die Geschichte von „Schloß Falkenhof“ bei Bensheim aufarbeiten zu lassen.
Im Zentrum der historischen Recherche stehen zwei frühere Nutzungen des Gebäudes: „Schloß Falkenhof“ diente während der NS-Zeit als „Mütterheim“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1966 als Kinderheim der Caritas. Ursprünglich eingerichtet als Flüchtlingskinderheim, beherbergte es Waisenkinder und wurde als „Erholungs- und Freizeitheim“ für Kinder genutzt. Zahlreiche Waisenkinder besuchten in den 1950er Jahren die Volksschule im nahe gelegenen Schönberg. Seit 1968 werden auf „Schloß Falkenhof“ unter dem Dach der Caritas Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen behandelt.
Beauftragt mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung ist das Büro für Erinnerungskultur aus Babenhausen. Im Rahmen der Recherche sucht der Caritasverband Darmstadt nach Personen, die über Informationen zur Geschichte von „Schloß Falkenhof“ bzw. über Erinnerungen an die genannten Einrichtungen verfügen. Wer hatte Kontakt zum Schloss bis 1966, etwa als Kind oder Angehöriger, als Arbeitskraft oder Praktikantin, als Besucher oder als Mitschülerin etc.? Explizit wendet sich der Caritasverband Darmstadt auch an Betroffene, die möglicherweise negative Erfahrungen mit der Zeit im Kinderheim verbinden.
Erinnerungen an „Schloß Falkenhof“
- Wer hat Erinnerungen an das „Mütterheim“ während der NS-Zeit oder an das Kinderheim der Caritas?
- Wer hatte Kontakt etwa als Kind oder Angehöriger, als Arbeitskraft oder Praktikantin, als Besucher oder als Mitschülerin?
- Auch Betroffene mit negativen Erfahrungen können sich vertrauensvoll an den Caritasverband Darmstadt wenden!
Kontakt: Bastian Ripper (Caritasverband Darmstadt) Tel.: 06151-999133 Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Zur wechselvollen Geschichte von „Schloß Falkenhof“ gehört auch die Nutzung als Waisenheim und Kindererholungsheim. Hier ein Blick in ein Schlafzimmer und spielende Kinder im Hof, 1948.