Seit vielen Jahren war ich oft auf einer sehr interessanten Internetseite: ein früherer Pfarrer aus Bensheim betrieb sie. Seine Beiträge halfen mir bei meinen eigenen Texten immer sehr viel. Insbesondere die Rubriken Schrift, Sprachecke, Südhessisch und Siedlungsnamen.
Beispielsweise seine Erläuterung zu den drucktechnischen Ausdrücken „Schusterjunge“ und „Hurenkind“: Sie können die Erklärung zu diesen Begriffen in meinem Jahrbuch 2021 nachlesen! Doch das nur zur Illustration. Worum es mir hier geht, ist die Vergänglichkeit von Texten. Angenommen, der Autor wird seine Seiten nicht mehr weiterbetreiben wollen und keiner seiner Nachkommen hätte ein Interesse daran. Was würde aus seiner Lebensarbeit werden? Dies fragte ich mich schon vor fast 20 Jahren, als seine Seiten online gingen.
Und inzwischen ist es tatsächlich geschehen: im Juli 2022 wurde die Seite abgeschaltet. Die Gründe des Verfassers: zum einen der Energiebedarf für den Betrieb einer Internetseite, zum anderen aber das Loslassen. Der Autor möchte bewußt einen Lebensabschnitt hinter sich lassen. Das muß man respektieren, auch wenn man es nicht richtig findet. Und so möchte er nicht namentlich genannt werden.
Der Gedanke aber sitzt fest: Was wird irgendwann einmal aus meinen Seiten? Werde ich irgendwann mein Hobby „Odenwald-Redaktion“ nicht mehr weiterbetreiben?
Ein Buch, einmal geschrieben, gedruckt und veröffentlicht, bleibt im Regal stehen. Ein Internetbeitrag ist dann verschwunden, wenn die Seite abgeschaltet wird.
Viele Dinge sind irgendwann einfach mal weg!
Im Augenblick befinde ich mich noch im Sammler-Modus, das heißt ich trage Informationen und Dokumente zusammen die ich zu interessanten Beiträgen im Geschichte(n)-Zettelkasten verarbeite. Fast täglich entdecke ich Neues: einen 90jährigen alten Herrn aus Pfungstadt, der eine Bibliothek von 20.000 Bänden sein eigen nennt, einen alten Herrn aus Ernsthofen, der in einem Museum lebt, Menschen die mir ihre Geschichte erzählen. Und jener Herr aus Bensheim, mit dem ich eine angeregte Mailkorrespondenz führte.
Auf der anderen Seite stoße ich an Grenzen: alte Dokumente werden weggeworfen, und niemand hat ein Interesse daran. So kann mir niemand sagen, was aus der umfangreichen Fachbilbiothek der ehemaligen Blaufarbenfabrik Lautern geworden ist. Mehrere Wechsel der Geschäftsführung sorgten für diverse „Abspeckkuren“ alter Bestände. Bei HochTief kann mir niemand etwas über das alte Kupferbergwerk in Reichenbach sagen, da man alle Unterlagen vor 2007 entsorgt hat. Die neueren Dokumente wurden immerhin digitalisiert. Aber da sind viele Dinge, die sind dann einfach mal weg!
Obwohl ich derzeit sammle, versuche ich möglichst viel rein digital zu speichern, da der reale Platz in einem Haus irgendwann voll wäre. Aber werde ich wirklich nein sagen können, wenn mir jemand seine Bibliothek anbietet damit sie der Nachwelt erhalten bleibt?
Was wird meine Nachwelt eines Tages sagen, wenn sie auf ein vollgestopftes Haus stößt, das besser gesprengt als entrümpelt werden sollte?
Hier sind wir an einem Punkt, der Loslassen heißt. Nie konnte ich meine Großmutter verstehen, die eines Tages den gesamten Dachboden entrümpelte, obwohl da sicher (ich war damals erst 12!) unglaublich spannende Sachen gewesen waren. Heute weiß ich: das ist notwendig. „Man muß sich auch mal von was trennen können“, sagte meine Mutter immer - und sie war eine, die sich nie von etwas trennen konnte. Ich weiß es, denn ich habe ihr Haus ausgeräumt. Leider geht es mir ähnlich, und so standen die Nachlässe zuerst in Kisten auf meinem Dachboden. Dort gärte so einiges: bösartige Briefwechsel, garstige Notizen die für niemandes Auge gedacht gewesen waren. Irgendwann mußte ich diese Sachen aussortieren und wegwerfen, denn sie belasteten mich. Meine Wohnung ist immerhin der Ort, an dem ich mich wohlfühlen will.
Loslassen: längst vergangene Begebenheiten „ad acta“ legen können, auch mal was wegwerfen können. Ich nehme an, daß ich es lernen werde - wie zahllose Generationen vor mir auch. Gemessen an dem Unglück der syrischen Flüchtlinge, die 2015/2016 mit nichts als einem Handy voller Fotos ihrer wichtigsten Lebensdokumente nach Deutschland kamen, die ihre gesamte Lebensgeschichte hinter sich lassen mußten, habe ich ein Luxusproblem: was werfe ich weg und was behalte ich?
Noch eine ganze Weile möchte ich sammeln (am liebsten virtuell), aber irgendwann kommt der Zeitpunkt wo ich ganz loslassen muß. Wenn meine Augen die Bildschirmarbeit nicht mehr leisten können, meine Finger nicht mehr tippen können. Oder aber: wenn sich meine Interessenlage auf etwas ganz anderes, neues verschiebt - wer weiß.
Eines Tages werden sämtliche Beiträge auf meinen Online-Seiten einfach verschwunden sein, denn ich werde auf keinen Fall eine gedruckte Bibliothek daraus erstellen können, die meine Nachwelt dann entsorgen muß. Das ist der Lauf der Zeit...
Der kluge Pfarrer im Ruhestand hat Trost: Es ist alles vergänglich. Unsere Vergangenheit wird immer länger und unsere Zukunft immer kürzer. In ein paar Jahren verschwinden individuelle Gegenwart und Zukunft in der Vergangenheit. Von dem vielen, das wir geschaffen haben, ist vieles kaum noch erhalten oder war nur für den Augenblick gedacht.
„Die keltischen Druiden und die jüdischen Gelehrten im Altertum haben nichts aufgeschrieben, sondern ihre Schüler mussten ihre Worte auswendig lernen und verinnerlichen. Buddha und Jesus haben nichts aufgeschrieben und doch Weltreligionen gegründet. Erst ihre Schüler haben ihre Erinnerungen zu Papier gebracht.“
Unsre materiellen und ideellen Überreste zerfallen: dazu bringt er einen jüdischen Spruch: „Wenn wir auf die Welt kommen, sind unsre Hände geschlossen, als wollten wir sagen: Die ganze Welt ist mein. Wenn wir aus der Welt scheiden, sind die Hände offen: Nichts, aber auch gar nichts können wir festhalten.“
Bevor nun allgemeine Melancholie um sich greift, bekommen Sie ein paar Zahlen: Ist das Internet ein Stromfresser?
Die Jugendbewegung „Fridays for Future“ (FfF) hat völlig recht, wenn sie uns unseren Umgang mit der Erde vorwirft.
In diesem Zusammenhang beschäftigt mich zweierlei:
erstens hoffe ich, daß diese Bewegung einen stärkeren Effekt auf künftige Gesellschaftsstrukturen haben wird als die Flower Power Bewegung der 1970er Jahre. Auch damals, vor 50 Jahren: viele neue Ideen, viele sinnvolle Gedanken, viele unerhörte Aktionen. Und dann: der „Marsch durch die Institutionen“ ließ aus den Blumenkindern seriöse Mainstreamer werden...
Zweitens: die Forderung nach mehr Rücksicht auf die Umwelt, nach konkreten Maßnahmen um den weltweiten Ressourcenverbrauch endlich einzudämmen, muß von der aktuellen FfF-Bewegung auch umgesetzt werden: auch sie werden den Marsch durch die Institutionen durchmachen, werden feststellen daß sich mit einem Studium weder ein hydraulischer Abgleich der Heizanlage machen läßt, noch werden Windkraftanlagen, Solaranlagen, Wärmepumpen und Energiespareinrichtungen von ganz alleine vom akademischen Reißbrett in die Landschaft springen. Was jetzt erforderlich ist, das wären die Umsetzer der FfF-Ideen, die Handwerker der nächsten Generation. Der größte Teil der bestehenden Handwerksbetriebe würde liebend gerne Energiespar-Aufträge sofort und zuverlässig erledigen, ist durch Fortbildungen gerüstet und auf dem neuesten Stand. Wenn es denn Menschen gäbe, die eine Ausbildung absolvieren. Von unserer - der älteren Generation - kommt dazu jede erdenkliche Unterstützung, denn kaum einer ist so abgestumpft oder egoistisch, sich keine Gedanken über Ressourcensparen zu machen. Aber mit 70 oder 80 Jahren nochmal eine Ausbildung absolvieren: das geht nicht. Fragen Sie mal Ihre Krankenkasse, was die dazu sagt.
Marieta Hiller, Juli 2022