Ein Bericht von den Sagen- und Märchentagen Reichelsheim 2017, Thema war "Tischlein Deck Dich! Kulinarisches und Märchenhaftes..."
Oft und von verschiedenen Erzählerinnen und Erzählern wurde das Märchen vom Großvater und seinem Enkel erzählt: als der Großvater alt war und nicht mehr sauber essen konnte, wurde er vom Tisch in die Ecke verbannt, wo er für sich aus einem alten Holztrog essen mußte. Der Enkel begann aus Holz etwas zu basteln und als die Eltern fragten was er da tue, antwortete er "ich baue ein Tröglein, aus dem ihr später essen könnt, wenn ihr alt seid". Einfacher läßt sich die Wertschätzung der Generationen und die soziale Bedeutung der Mahlzeit nicht vermitteln!
Auch bei Dornröschen wird die Märchengeschichte ausgelöst, weil eine Verwandte - die 13. Fee - vom Fest ausgeladen wurde, weil man nur 12 goldene Teller hatte. Oft ist Hunger der Auslöser der Märchenhandlung. Arme Leute aßen Schwarzbrot, Suppe und Kartoffeln ohne Salz, reiche Leute Gesottenes und Gebratenes. Das Märchen Rapunzel heißt nach der Speise wie auch das Mädchen der heißhungrigen Schwangeren später so heißt.
Die Einverleibung von Speisen, Kannibalismus und das Verschlungenwerden
Der Wunsch nach Einverleibung einer Speise ist ein wichtiges Märchenmotiv, oft spielt Essen die Rolle des Handlungsträgers: so auch in Aschenputtel oder Hänsel und Gretel. Etwas makaber ist die Geschichte vom Allerleirauh, in der es um Inzest geht. Das Mädchen verläßt seine weibliche Rolle der Bescheidenheit und nimmt die Handlung selbst in die Hand, indem es heimliche Erkennungszeichen in ihr Essen für den König tut. Auch Aschenputtel wird selbst aktiv. Das Führen des Haushaltes bis zum Schlafen in der Asche war eine Bestrafung für Frauen. Reiche Frauen mußten das nicht tun.
Aber Schneewittchen kocht und putzt freiwillig für die Zwerge. Der vergiftete Apfel ist ein Symbol für Gutgläubigkeit. Märchen vom Essen haben also auch Kannibalismus zum Inhalt: die Angst vor einer übernatürlichen verschlingenden Macht. Die böse Stiefmutter will Schneewittchens Herz essen, die sieben Geißlein oder Rotkäppchen werden vom Wolf verschlungen, die Hexe will Hänsel Gretel mästen und schlachten. Aber sehr wichtig im Märchen ist nach dem Verschlungenwerden das Wieder-zum-Vorscheinkommen!
Kindermärchen mit erzieherischer Absicht für das Biedermeier-Bürgertum
Jakob und Wilhelm Grimm faßten ihre Kinder- und Hausmärchen (KHM) mit dem Zweck einer erzieherischen Aufgabe für bürgerliche Haushalte zusammen. Daher wurden zahlreiche Märchen aus dieser Sammlung verbannt. Der Gestiefelte Kater und andere wurde aus den KHM?herausgenommen, weil sie aus Frankreich stammen und im nationalistischen Zeitalter der Grimms nicht deutsch genug waren. Rotkäppchen dagegen kommt auch aus Frankreich (Perrault), ist aber wohl deutsch genug gewesen.
Wildweibchenpreisträger Hans-Jörg Uther hat eine kostbare Enzyklopädie der Märchen in 15 Bänden erstellt, die jedoch sehr teuer ist. Sie ist auch digital gegen Nutzungsgebühr verfügbar, jedoch kann man sie digital in Universitätsbibliotheken kostenlos nutzen. Das Lebenswerk eines Märchenforschers ist kein Schnäppchen, sondern es muß honoriert werden - auch in einer Zeit, in der moderne Piraten sich über Copyright einfach hinwegsetzen. Wer weiß, wieviel Arbeit in der Forschung und ihrer Dokumentation steckt, wieviel Butterbrote, wieviel Tassen Tee es erfordert diese Arbeit zu tun, der zahlt gerne dafür, von diesem Lebenswerk zu profitieren.
Märchenmotive sind oft universell
Doch zurück zu den Märchen: erstaunlicherweise taucht das gleiche Motiv bei mehreren verschiedenen Sammlern auf! Grimms "Der Geist im Glas" heißt bei Andersen "das blaue Licht" und in Aladins Wunderlampe ist es auch im Orient vertreten. Allerdings merkt Uther hier an, daß der Übersetzer der Märchen aus 1001 Nacht (alf layla wa-layla), Antoine Galland, drei arabische Märchen selbst erfunden hat: Ali Baba, das Zauberpferd und Aladin. Diese sind heute die drei beliebtesten Märchen bei uns, während die ursprünglichen arabischen Märchen von Muhsin Mahdi für unser kulturelles Verständnis oft sperrig wirken.
Und nun zurück zum Thema "Speis und Trank": in Romania und Orientalia sind Festtafeln ausführlich und opulent beschrieben, auch bei Bechstein. Hier ein anekdotisches Volksmärchen aus der Schweiz: die Blümlisalp vergletscherte, weil ihre Bewohner das Essen nicht wertschätzten und Treppen aus Käse bauten. Der Brotfrevel ist ein jahrhundertealtes gesellschaftlich verankertes Motiv, das auch in Märchen eine Rolle spielt.
Die Brüder Grimm schildern Festtafeln und Speisen aber eher abstrakt, wie Stereotypen, die jeder selbst in der Fantasie mit Leben füllen kann. Essen und Tafeln ist funktionsbezogen im Hinblick auf den Erzählfortgang. Nach Uther kann dies daher rühren, daß es bei Grimms zuhause eben auch nicht opulent zuging, sie hatten immer wenig Geld.
Wie kamen die Märchen überhaupt zu den Kindern?
Feenmärchen wurden in Frankreich meist von jungen adligen Frauen für ihresgleichen geschrieben. Nach Deutschland kamen Märchen erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhundert, wurden hier entdeckt und weiterentwickelt. So war Musäus einer der ersten, der Volksmärchen der Deutschen zusammenstellte. Alle deutschen Märchen wurden an die französischen Vorbilder angelehnt.
Dann wurde man sich der Kinder bewußt, einer perfekten Zielgruppe für Märchen! Daher auch der erzieherische Aspekt bei den Grimms.
Allerdings konnten Jakob und Wilhelm Grimm ihre für Kinder aufbereitete Märchensammlung leider nicht "Volksmärchen" nennen, denn dieser Titel war schon besetzt: 1809 brachte Albert Ludwig Grimm, Autor der "malerischen und romantischen Stellen der Bergstraße, des Odenwaldes und er Neckar-Gegenden" seine Märchensammlung unter dem Titel "Volksmärchen" heraus. A.L. Grimm ist übrigens nicht verwandt oder verschwägert mit den Brüdern Grimm.
Und so mußten die Brüder Grimm einen neuen Titel für ihre Sammlung finden: Kinder- und Hausmärchen, ein Erziehungsbuch für Kinder und Erwachsene für das ganze Haus.
Mitte des 19. Jahrhunderts waren Märchen weit verbreitet, Kindertheater entdeckten sie für sich, vor allem Weihnachtsmärchen wie Frau Holle und "Die drei Männlein im Walde" wurden beliebt. Weihnachten war zu jener Zeit - es herrschte Biedermeier! - ein großes Thema in den bürgerlichen Familien. Zu dieser Zeit wurde auch der Tannenbaum eingeführt.
Es etablierten sich weitere Sammlungen nach dem Vorbild der Brüder Grimm, ein Märchenbrei mit immer weiteren Phrasierungen entstand.
Was haben Luther und die Brüder Grimm miteinander zu tun über 300 Jahre hinweg?
Im Lutherjahr 2017 stellte Hans-Jörg Uther natürlich auch die Frage, was Luther und die Brüder Grimm verbindet. Die Grimms waren streng reformiert erzogen, Jakob schrieb einmal: „von Katholiken machte ich mir seltsame Begriffe". Beiden - Luther und Grimms - gemeinsam war die Vorliebe für klare Sprache, unumstößliche Haltung, den Glaube an einen gerechten Gott, die Verwendung von Formeln und Sprichwörtern und der hohen Wertschätzung der Fabel zur ethischen Unterweisung.
Beide wußten aber auch: Geschichten müssen spannend und anekdotisch sein, damit das Volk zuhört. Gelehrte Abhandlungen interessieren niemanden. Luther hatte eine Fabelsammlung und eine Sprichwortsammlung, er war übrigens nicht der erste Bibelübersetzer, aber seine kraftvolle Sprache machte seine Übersetzung so berühmt.
Märchen von Vaganten: hinaus in die weite Welt aus purer Armut und Not
Es gibt im Odenwald ein Dorf, das keines mehr ist. Galmbach war ringsum vom Badischen umgeben, so daß von dort die Flucht für Gauner, Wilderer und fahrendes Volk über die hessische Grenze sehr bequem war. Im "Spitzbubennest" Galmbach fanden sie Zuflucht. Und natürlich taten die Spitzbuben und Lausemädchen das, was man zu zweit so schön tun kann. Die Kinder waren auf hessischem Boden geboren und wurden so erstens seßhaft und mußten zweitens von der Gemeinde Galmbach finanziert werden. Daher waren alle rings um Galmbach herum froh, als der Fürst von Leiningen die Bauern des Dorfes umsiedelte oder ihnen die Auswanderung bezahlte. Nur der Fürst selbst war nicht froh: denn die Besitzlosen mit Heimatrecht in Galmbach lagen ihm auf der Tasche. Deshalb warb er in den Nachbargemeinden, daß er die Galmbacher Spitzbuben verkaufen würde. Gegen fürstliches Geld konnten die Gemeinden dann entweder die Spitzbuben aufnehmen oder ihnen die Überfahrt nach Amerika bezahlen. Der Fürst ließ alle Häuser in Galmbach blitzschnell abreißen, damit nur ja niemand mehr zurückkam.1836 wurde Galmbach von der Hessischen Landesregierung für offiziell aufgelöst erklärt. Diese Geschichte erzählte Rainer Türk.
Weitere spannende Geschichten über Räuber im Odenwald finden Sie hier.
Zurück zu den Reichelsheimer Märchentagen und "Tischlein Deck Dich": Vaganten waren auch die Bremer Stadtmusikanten. Im 16. Jahrhundert wurde das Liber Vagatorum zur Warnung vor bettelnden Vaganten veröffentlicht. Mit vielen Bildern für die Leseunkundigen, ermöglicht durch den Buchdruck. Und mit einem Rotwelsch-Wörterbuch...
Martin Luther konstatierte: du kannst deinen Stand nicht verlassen, weil Gott dich da hinein gesetzt hat. Und so mußten sich die Söhne ins Köhlerhandwerk oder ins Hausierertum fügen, die Mädchen einen guten Mann finden. Und 300 Jahre später parodierte Wilhelm Grimm im KHM 179 "Die Gänsehirtin am Brunnen" daß die gute arbeitsame gehorsame Magd alias Königstochter Perlen weinen konnte: "heutzutage kommt das nicht mehr vor, sonst könnten die Armen bald reich werden". In KHM 180 "Die ungleichen Kinder Evas" wird das Thema weiter ausgearbeitet.
Äsopische Fabeln waren bis Heinrich Steinhöwel unpolitisch, Luther dagegen wollte sie politisch auslegen. Er wurde jedoch mit diesem Projekt nicht fertig, es ist nie veröffentlicht worden.
Französische Fabeln - z. B. von La Fontaine - sind schwungvoller als deutschen, die meist etwas kleinbürgerlich und moralinsauer waren. Hans-Jörg Uther führt als Beispiel den „Froschmäuseler"-Typus an: http://www.zeno.org/Goetzinger-1885/K/goetzi-1885-001-0245ein epischsatirisches Gedicht von Georg Rollenhagen (1542–1609) in Nachahmung Homers, aber lehrhaft und polemisch ausgearbeitet.
Wie alt sind unsere Märchen eigentlich?
Die Märchen, die die Brüder Grimm gesammelt haben, sind uralt und wurden schon immer erzählt? Irrige Annahme! Sie kamen tatsächlich aus Frankreich (Sie erinnern sich, adlige junge Mädchen...) in die gutbürgerlichen Häuser. Doch wurde Ähnliches wie diese Märchen tatsächlich zu allen Zeiten erzählt, vielleicht schon am ersten Feuer der Steinzeit, kurz nachdem die Menschen das Sprechen erlernt hatten.
Die Steinzeitoma - damals vermutlich 30 Jahre alt und auf dem Weg aus dem Produktivstand heraus in Richtung Altenteil - hatte die Zeit dazu, Geschichten zu erzählen. Und sie hatte die Erfahrung, die Lebensweisheit.
So brachte sie ihre Erkenntnisse den Kleinen nahe: Archetypen (C.G. Jung), Allgemeingültiges, Grundlagen des Miteinanderlebens. Bruno Bettelheim, selbst zwar kein Steinzeitmensch, aber einer der noch die Prügelstrafe für Kinder erwog, schrieb: "Kinder brauchen Märchen". Denn um als Kind einen gesellschaftlichen Ethik-Überbau verstehen und verinnerlichen zu können, sind "Einfache Formen" (André Jolles) bestens geeignet. Von einem nahestehenden Menschen erzählt, in einfachen Worten und als einfach verständliche Handlung. Durch Wiederholungen und Formeln werden sie so einprägsam. Wiederholungen und Formeln sind Muster, und Muster sind unsere ganz ursprüngliche Wahrnehmung auf tiefster Ebene, wohl direkt im Kleinhirn. Unser erstes Muster ist der Herzschlag der Mutter oder der eigene - ein Rhythmus! Ein Muster ist etwas, das die Natur so selten schaffen kann, es weist auf eine wie auch immer geartete Beseelung hin im Sinne von Menschengemacht oder "animiert" - was nichts anderes heißt als "beseelt". Märchen sind immer der Raum-Zeit-Dimension entrückt (zu einer längst vergangenen Zeit, an einem fernen fernen Ort), Märchen werden von der Steinzeitoma wie auch vom modernen Märchenonkel mit tiefer, vertrauenerweckender Stimme erzählt - die Schwingungen wirken beruhigend und schaffen Behaglichkeit. Jetzt könnte ich noch das Wort Behaglichkeit erklären, aber das führt zu weit... Ein andermal vielleicht!
Jedenfalls kennen ALLE Menschen Märchen. In allen Sprachen, in allen Kulturen, zu allen Zeiten.
So entstand die Vorstellung vom Archetypus, obwohl das Märchen gar keiner ist. Vielmehr wurde das Märchen wie es seit den Brüdern Grimm das deutsche Bürgertum formt, gezielt umgeformt, damit ein Wertesystem (zehn Gebote, sieben Todsünden etc) unterhaltsam und leicht verständlich an Kinder vermittelt werden konnte, ohne sie zu überfordern. Erwachsene fühlen sich beim Hören dieser Märchen ein zurückversetzt in eine unbeschwerte Kindheit (die es so auch nie gab). Gefühle, Gerüche, Bilder, Geräusche werden dabei erinnert, das kommt direkt aus dem Kleinhirn.
Hier sollten wir eine Schleife zurück zum Großvater und dem Enkel machen: eine gesellschaftliche Utopie. Denn während ich das schreibe und Sie es lesen, haben wir alle Verwandte in Altersheimen, die dort auf ihren Tod warten. Die arbeitsteilige Welt läßt kaum ein Miteinander der Generationen mehr zu, Frauen führen heute nicht mehr "nur" den Haushalt und sorgen für Kinder und hilfsbedürftige Alte. Sie sind einfach für lange Zeit am Tag nicht mehr zuhause. Frauen hatten früher nicht weniger Arbeit als heute, denn während sie Alte und Kleine beaufsichtigten, sorgten sie für eine gute Vorratshaltung und für einen funktionierenden Haushalt - ganz ohne Thermomix und "mothers little helpers". Nur in einem Mehrgenerationenhaushalt mit einer "hauptamtlichen" Haushaltsführung könnte der Großvater dabei sein, ob am gemeinsamen Eßtisch oder in seiner Sabberecke. Warum sollte diese hauptamtliche Haushaltsführung die Frau, Mutter, Tochter übernehmen? Warum nicht jemand anderes? Statt dessen gehen alle Familienmitglieder ihrer Wege: zur Schule, zum Klavierunterricht, zum Sport, zur Arbeit, ins Altersheim...
Und noch eine Schleife zurück zur Formelhaftigkeit der Märchen: wenn eine Formel nicht korrekt ausgesprochen wird, erfolgt keine märchenhafte Zauberaktion! "Töpfchen steh!" und der süße Brei hört auf zu quellen. Aber "Sesam geh auf!" und der Zauberberg bleibt verschlossen. Formeln wollen wohlgeübt sein, damit sie in jeder Situation richtig ausgesprochen werden. Sie finden ihre Fortsetzung in den Konventionen: gelebte Formeln, Regeln zum gesellschaftlichen Zusammenleben.
Und jetzt eine Schleife ganz zurück zu unserem Anfangsthema "Tischlein Deck Dich!": Um Deftiges und Schmackhaftes aus dem Märchentopf" ging es bei Märchenerzählerin Mariele Sylwasschi aus Steinau an der Straße. Sie erzählte ein Märchen aus Posen: wie der erste Kaffee zu uns kam - und wie die Hausfrau aus den Kaffeebohnen, die ihr Mann als Neuheit vom Markt mitgebracht hatte, Bohnensuppe kochen wollte... Und ein hochkompliziertes Märchen aus Italien; drei Söhne sollten Feigen zum König bringen, begegneten aber vier Hexen, die die Feigen an sich nahmen und dafür Brot, Käse, Wein und eine Schalmei schenkten. Nun war aber die Königstochter schwermütig, und alle versuchten sie zum Lachen zu bringen. Der Jüngste Sohn hatte die Schalmei bekommen, und die bewirkte daß alle tanzen müssen. So konnte er die schwermütige Königstochter zum Lachen bringen, weil der ganze Hofstaat wie verrückt tanzen mußte, und bekam sie zur Frau.
Zu guter Letzt erhählte Carola Graf, die mich mit ihrem Projekt des Märchenerzählens für Flüchtlingskinder stark beeindruckt hatte, etwas aus der griechischen Mythologie: ein Brauch besagte, daß das Brautpaar im Hochzeitsgemach als erstes gemeinsam einen Apfel verspeisen mußte.
Äpfel waren das Erkennungszeichen der Hesperiden (hier waren sie golden!), der Erdgöttin Demeter, von Persephone und Hades.