Zur Novemberzeit, als böse Winde wehten und kalte Schauer näßten,
da mußte ein armer Köhlersjunge einmal hinunter ins Dorf,
für seine Mutter ein Säcklein Getreide mahlen zu lassen,
das sie im Sommer heimlich vom Felde gelesen hatte.

Auf seinem Weg dorthin mußte er über den Mühlbach vor dem Dorf,
und schon hörte er das mächtige Mühlrad rauschen und ächzen.
Da sprang ein Fischlein aus dem Wasser und rief
„hilf mir! Die Mühle will mich zerhacken!“

Der arme Junge dachte sich: „die Hilfe ist fast geschenkt!“
und fing das Fischlein aus dem Mühlbach.
„Nun setz mich sogleich nebenan im Bache ab,
ich will es dir reichlich lohnen,“ sprach das Fischlein, und so geschah es.

Der Köhlersjunge dachte noch bei sich:
„eigentlich hätte ich das Fischlein auch der Mutter
bringen können für ein Abendmahl, aber ...“
da sah er eine arme kleine Maus, die zitternd vor Angst in einem Astloch hockte. Davor lauerte ein wildes Tier.

„Ach hilf mir doch!“ rief das Mäuslein mit dünner Stimme,
„das wilde Tier will mich fressen!“
Da vertrieb der Junge das wilde Tier und befreite die Maus.
Er dachte noch bei sich: „für den hohlen Zahn
wäre die Maus auch für mich gut gewesen...“,
doch die Maus sprang vergnügt davon und dankte ihm.
Da sah er es zwischen den Steinen des Mühlbaches gülden blinken.
Ein goldenes Schlüsselchen lag dort verborgen.

Er hob es auf und betrachtete es von allen Seiten genau.
Dann dachte er sich: „wo ein Schlüssel ist, dort muß es auch ein Schloß geben!“

Er suchte und suchte, und schließlich entdeckte er
in der Mauer der alten Mühle einen lockeren Stein,
und als er ihn herauszog, so war dahinter ein hölzernes Türchen.

Zuerst sah er kein Schloß, aber er dachte sich wieder:
„wo ein Schlüssel ist, da muß auch ein Schloß sein!“
Und als er das Türchen genauer betrachtete, da sah er,
daß sein goldenes Schlüsselchen genau in dieses Loch paßte!

Er drehte den Schlüssel um, es knarrte und - doch halt!

Wir müssen nun Geduld haben,
bis sich das Türchen in der alten Mühle ganz geöffnet hat
und wir sehen können, was wohl darinnen ist!

Hier beginnt das Märchen

Es lebte einst vor langer Zeit an einem einsamen Ort mitten im Wald ein Müller in seiner Mühle. Das Dorf am Hügel sah man von seiner Mühle nicht. Doch die Vöglein zwitscherten fröhlich und die Rehe auf der Lichtung ästen friedlich.
Ein Bächlein plätscherte über die Wiese, wo der Mühlbach abzweigte. Und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Bei Tag kamen Bauern aus dem Dorf und brachten ihm ihr Getreide zum Mahlen, vergaßen auch niemals das Nachwiegen, und starrten den Müller mit scheelem Blick an.

Die Müllersfrau versorgte den Haushalt mehr schlecht als recht, doch nicht weil sie faul und träge war. Für mehr reichte es eben nicht. Die Bauern aber, die dachten immer, der Müller würde aus ihrem Säckel reich und reicher. So ging das Leben seinen Gang, und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Müller und Müllerin waren zufrieden, freuten sich am grünen Gras, an Reh und Igel und an ihrem Hollerbusch, gleich neben der Mühle. Dort saßen sie oft, wenn das Tagwerk getan war.
Den Müller plagte das Reißen, denn die Abende wurden früh schon kühl und feucht, und des Morgens dauerte es lang, bis die wärmenden Sonnenstrahlen in den Wiesengrund hineinschienen.
Die Müllerin wiederum hätte so gern ein kleines Mädchen gehabt, doch der Wunsch blieb ihr verwehrt.

Beide waren rechtschaffene Leute, mit dem Wenigen das ihre Mühle erbrachte, zufrieden. Eines Nachts im November aber, es schien gerade der volle Mond, da dauerte den Müller seine Frau gar sehr. Und er rief in die Mondnacht hinaus: „oh wenn uns doch ein Hausgeist helfen würde!“
Die Nacht blieb still, nur das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte. Am nächsten Morgen sprach die Müllerin: „mir war so seltsam in der Nacht, da war ein Raunen und Flüstern im Gebälk!“ Doch weil ihr nichts fehlte und sie wie zuvor zufrieden war, dachte sich der Müller nichts dabei.
Und als es Sommer war, und die Sonne selbst die Mühle in ihrem kühlen Wiesengrund erwärmte, als die Sonntagsglocken aus dem Dorf herüberklangen, da brachte die Müllerin ein kleines Mädchen zur Welt.

Bevor aber noch das Mädchen getauft werden konnte, lag die Müllerin im Sterben. Nur einen Tag und eine Nacht konnte sie ihre Tochter im Arm halten. Am Morgen war sie tot. Da klopfte es an der Tür der Mühle, und als der Müller auftat, stand ein Hutzelweib davor. Ganz grau und faltig sah es aus, doch hatte es blitzende blaue Augen. „Ein Schatz wurde euch geschenkt, bewahrt ihn wohl,“ hub das Weiblein sogleich an zu sprechen, mit leiser Stimme. Der Müller aber schüttelte nur traurig den Kopf und schickte sie ihres Weges.

Übers Jahr nahm sich der Müller wieder eine Frau, denn der Haushalt brauchte eine tüchtige Hand, und das Töchterlein - Julchen hatte er es genannt nach dem Monat ihrer Geburt - wurde kräftig und brauchte Fürsorge und Erziehung. Er aber mußte die Mühle in Betrieb halten. Denn das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.
Die neue Müllerin war selbst eine Witwe und froh, mit ihren beiden Töchtern wieder in einer Familie zu leben. Sorgsam ging sie mit Julchen um, und es war ihr fast so lieb wie ihre eigenen Mädchen.

Da klopfte es abermals an der Tür, und wieder - auf den Tag genau wie im Jahr zuvor - stand das Hutzelweiblein davor. „Ein Schatz wurde euch geschenkt, bewahrt ihn wohl,“ sprach es wieder. Der Müller dachte sich, nun müsse er doch erfahren, was es mit der Alten auf sich habe, und bat sie herein in die Stube. Die beiden älteren Mädchen spielten in der Ecke mit Julchen, und die Müllerin knetete einen dicken Brotteig.
„Du kannst ein wenig Glück und Gesundheit brauchen, deshalb will ich dir soviel davon geben, wie du notwendig hast,“ nun flüsterte die Alte, kaum daß ein Laut ihre Lippen verließ. „Steck vom Liebsten was du hast, zu jedem Vollmond gerade das in ein Kästchen aus Ebenholz, was dir als erstes an dem, was dir am Liebsten ist, auffällt. Das Kästchen aber vermauere gut in das Fundament deiner Mühle, und verwahre den Schlüssel gut.“
Und damit steckte die Alte dem Müller ein Kästchen aus jenem eibenen Holz und ein winziges goldenes Schlüsselchen zu. Das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte, und die Alte war - hast du nicht gesehen! - fort. Die beiden älteren Töchter aber hatten die Ohren gespitzt und waren neugierig.

„Fort mit euch, das ist eine Sache die nur mich etwas angeht!“ sprach der Müller und verbarg Kästchen und Schlüsselchen gut.
In der Nacht, als alles schlief, da schlich sich der Müller hinaus und mauerte das Kästchen ins Fundament der alten Mühle. Einen Wackerstein steckte er vor das Loch, und als er sich sein Werk besah, dachte er, es sei kaum mehr zu entdecken. „Ach,“ dachte er bei sich, „der Hollerbusch wird sicher bald alles verdeckt haben.“

Und als der Mond voll wurde, da nahm er eine große Schere und schnitt seinem Julchen eine goldglänzende Locke aus dem Haar, schlich sich zum Hollerbusch und legte die Locke ganz heimlich in das Kästchen. So ging es Mond um Mond, Jahr um Jahr. Aus Julchen war ein hübsches Kind geworden, und in dem geheimen Kästchen lagen versammelt: ein Strümpflein, ein Milchzahn, ein getrockneter Blumenstrauß, eine Feder und ein Moospolster, und noch viele kleine Dinge, deren Wert nur der Müller kannte.

Der Hollerbusch war groß geworden und verdeckte die Mauer der Mühle, und das Mühlrad rauschte und die Mühle rumpelte.

Julchen saß auf der Bank unter dem Hollerbusch und schrieb in ihr Schulheft, denn sie sollte einen Aufsatz erdenken.
Die älteren Schwestern aber strichen ums Haus, guckten in jenen Winkel und spähten über diesen Sims. Was sie suchten, das wollten sie dem Julchen nicht verraten. Doch wie es gar so arg bat, da entfuhr es der Zweitältesten: „wir suchen das eibene Kästchen, das der Vater einst in die Mühle vermauerte.“ - „Ja!“ fiel da die Älteste ein, „denn es soll einen großen Schatz enthalten! Das haben wir selbst gehört.“
Die Zweite sprach: „wir dürfen aber nicht danach suchen, der Vater hats verboten!“ Aber Julchen war sehr neugierig und half beim Suchen. Und weil sie ja ein gülden Sonntagskind war, so hatte sie eine besondere Gabe, was das Schatzheben anging. Bald entdeckte sie den grauen Wackerstein, der nur lose und ohne Mörtel in seinem Loch hockte, zog ihn heraus und blickte mit staunenden Augen auf das Kästchen aus Ebenholz.

Im gleichen Augenblick erfaßte die Mühle den Müller, zog ihn Zahn um Zahn tiefer in ihr geheimnisvolles Innere, und nur ein Fleck so rot wie Blut blieb im weißen Mehl von ihm übrig.
Und das Mühlrad rauschte nicht mehr, die Mühle rumpelte nicht mehr. Da war große Trauer in der Mühle, und es ging auch nicht mehr auf mit Glück und Gesundheit. Niemand brachte der Müllerswitwe Getreide zum Mahlen, nur die Pfarrersfrau steckte den Mädchen hin und wieder heimlich etwas zu. Die Dorfbauern aber schauten mit scheelem Blick auf die schwarze Müllerin und ihre Töchter. Nur Julchen mochten sie leiden.

Und Julchen war so hübsch geworden, daß manche ein Bursche aus dem Dorf wohl gerne Müller geworden wäre auf der Mühle, mit dem blonden Julchen an seiner Seite. Doch ach, da waren erst die beiden Älteren. Die mußten geheiratet werden, erst dann konnte Julchen in die Brautschuhe schlüpfen.
Mond für Mond ging ins Land, und niemand mehr legte etwas vom Liebsten in das eibene Kästchen hinein. Die Schwestern, hager und armselig, wollte niemand zur Frau.

„Das goldene Schlüsselchen brauchen wir!“ raunten sich die beiden zu. Das Schlüsselchen aber blieb verborgen, und so sehr sie auch danach suchten, sie fanden es nicht.

Die Zeit verging, die Müllerin verzagte, und eines Nachts im November, der Mond schien voll, da starb sie. Die älteste Tochter folgte ihr bald darauf, und im selben Winter erschlugen Räuber die Zweite. Julchen, das sich im geheimnisvollen Gebälk der stillen Mühle versteckt hatte, entdeckten sie nicht.

Als aber noch mehr Zeit vergangen war, da begab es sich, daß unser Köhlersjunge sich auf den Weg aus dem tiefen Wald hinunter ins Dorf machte. Und ihr wißt es ja schon: er entdeckte das goldene Schlüsselchen im Mühlbach unter einem grauen Stein, und das Julchen schaute gerade aus der Mühle heraus. Da fiel es ihm ein, daß hinter dem Hollerbusch ein lockerer Wackerstein im Mauerwerk steckte, dahinter sich das eibene Kästchen verbarg.

Der Köhlersjunge nahm sein Schlüsselchen, und Julchen zog den Stein heraus. Gespannt waren beide nun, ob das Schlüsselchen wohl paßte, und was soll ich euch sagen: er tat es!

Der Junge drehte den Schlüssel um, es knarrte und - das Mühlrad rauschte wieder, und die Mühle rumpelte wie einst. Unter dem Hollerbusch aber sah Julchen etwas gülden blinken, just in dem Augenblick, als ein Mäuslein darunter hervorhuschte.
Flugs hob sie es auf, und es war ein Golddukaten! Den brachten die beiden zum Pfarrer, bestellten ihr Aufgebot, und bald wurde vergnügt die Hochzeit gefeiert.
Und bestimmt lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage, und immer wenn ein altes Hutzelweib an der Türe klopft, so bitten sie es herein, mit ihnen zu essen und zu trinken und seine müden Beine auszuruhen. Das Mühlrad rauschte fortwährend, und die Mühle rumpelte ohne Unterlaß. Und wenn ihr einmal dort vorbeikommt, im kühlen Wiesengrund, dann haltet Ausschau, ob ihr nicht auch so ein goldenes Schlüsselchen und ein ebenhölzernes Kästchen entdecken könnt!

Marieta Hiller, 28. November 2012