„Ei wie allerliebst und fein komm ich daher! Eine Elfe vom Hulduvolk auf der Eisinsel hat mich geherzt und geküßt - deshalb ist auch mein hübsches gelbes Kleidchen etwas zerknittert. Aber wer wollte sich schon beschweren, wenn er von einer Elfe geküßt wurde! Seht her, hier habe ich noch eine Prise Elfenstaub - goldgelb rieselte sie auf meinen Rock.“
So wisperte es zart im dichten Grase, für unsere Menschenohren kaum zu vernehmen. Doch wer - wie ich - stille hält und auf das zu lauschen versteht, was sich im letzten Vollmondgespinst vor Sonnenaufgang auf der Zauberwiese, gleich hinter dem Gruselwald am Fuß der Glasberge, so tut...
Da kribbelt und krabbelt es, und wenn sich der blaue Nebel der Mondmilch hebt, wenn die ersten Strahlen der warmen Sonne ihn zerwehen, dann entdeckst du Menschlein, allerlei Wundersames dort! Geflügelte Wesen falten ihre feinen Flatterflügel zusammen und kuscheln sich ins Knospennest, um die durchwachte Nacht im Schlaf zu vergessen. Kein Sonnenstrahl wird sie stören, darüber wacht die Löwenzahnfee.
Ein emsiges Gewimmel herrscht in dieser frühen Stunde: die einen legen sich müde zu Bett, die andern kriechen verschlafen hervor. Und seht nur: unser Islandmohnkind! Wie es sich reckt und streckt, wie es sein gelbes Kleidchen glattstreift und die süßen Träume von der Island-Elfe aus den Augen reibt.
„Du? Allerliebst und fein? Daß ich nicht lache!“ - wer ist das denn? Isafold - denn so heißt unser Islandmohnmädchen - wendet sich erstaunt in alle Himmelrichtungen. „Hier oben, schau mal herauf!“ tönt es da. Und wirklich: über ihrem zerknitterten gelben Kleidchen schwebt eine rote Dame. Knallrot, mit funkelschwarzen Augen. „Wer bist du denn?“ „Ja, kennst du mich denn nicht? Ich bin die Königin der Kornfelder! Ich leuchte aus den reifen Ähren, ich tanze mit den blauen Kornblumen und mit der duftenden Kamille! Ich bin die noble Frau Klatschmohn!“ Und mit einem eleganten Nicken ihres Köpfchens deutet sie eine Verbeugung an. „Warum lachst du mich dann aus? Schau dich an: dein rotes Kleid ist auch ganz zerknittert!“ wispert Isafold schüchtern. Doch Frau Klatschmohn hat sich bereits wichtigeren Dingen zugewendet.
Ein dicker schwerer Brummselkäfer nimmt sich der armen Isafold an, klappt seine vielen Beinchen unter sich, schwänzelt noch einmal mit dem Hinterteil und beginnt dann, sorgfältig seine Fühler zu putzen. Nun ist es aber so, daß dicke schwere Brummselkäfer - anders als viele Menschen - zwei Dinge zugleich tun können. Und so putzt sich der Käfer und spricht auch mit Isafold. „Ärgere dich nicht über sie. Sie ist sehr eitel. Doch alle Eitelkeit ist futsch, sobald die Sonne ihre beste Tageszeit hinter sich hat, glaube mir.“ Die kleine Islandmohnmaid blickt sich verwundert um und beugt sich dann zu dem Brummselkäfer hinunter. Der nämlich hat durch das dauernde Fühlergeputze eine etwas undeutliche Aussprache. „Weißt du,“ nuschelt er weiter, „ihre Verwandschaft ist auch nicht die Beste. Schlafmohn , ts ts...“ „Schlafmohn?“ Wer ist denn das nun schon wieder?“ fragt Isafold. „Ein eitler Bursche, kommt stolz daher in seinem rosa Fummel, und brüstet sich auch noch damit, daß aus ihm Opium gewonnen wird!“
„Opium!“ raunt es da rings um in der Wiese. Isafold und der Brummselkäfer blicken sich um und schauen in ungefähr siebenundsiebzig Augenpaare, die gespannt aufgerissen sind.
„Ich weiß was!“ zirpt es schon aus der dritten Reihe, wo ein Heimchen sitzt und im Zirpen innehält: „Opium, das nehmen die Menschen, und dann geht es ihnen nicht gut! Seltsame Geschöpfe, die Menschen!“
„Mohn macht dumm!“ ruft da eine andere Stimme, die einer uralten Eule gehört, die von all dem Gehusche und Gezirpe nicht schlafen kann. Sie blinzelt schläfrig, fängt aber sogleich an, aus ihrer Jugend zu erzählen. „Seltsam ist gar kein Ausdruck! Die Menschen wissen einfach nicht, was sie wollen. Da nehmen sie Mohn zu sich, und zugleich behaupten sie, er macht dumm... Das hab ich selbst gehört, von einer uralten Menschenfrau, die schon ganz verhutzelt war. Muß gewesen sein, als ich gerade flügge wurde...“ Die Eule verdreht den Kopf einmal rund herum und wieder zurück und murmelt weiter. „Einem Menschenkind, das keine Ruhe gibt, steckten sie damals wohl einen Mohnzuzzel in den Mund!“ „Was ist ein Mohnzuzzel?“ will jetzt aber Isafold wissen, denn sie kommt ja aus Island, wo es so etwas wohl nicht gibt. „Labbeduddel, Mohnpleps, Mohnzuzzel - ich hab früher viel darüber gehört. Aber Mohn macht gar nicht dumm, Mohn macht müde. Und die Menschenkinder nuckelten an ihrem Labbeduddel und wurden ganz schläfrig. So waren sie viel besser zu beaufsichtigen, denn die Menschen müssen ihre Kinder immerzu beaufsichtigen - furchtbar.“ Die Eule schüttelt unwillig ihr Gefieder.
„Übrigens,“ läßt sich da die hochwohlgeborene Stimme von Frau Klatschmohn vernehmen, „übrigens: der, über den ihr hier herzieht, der schickt mir noch heute seine Nichte hierher. Freundliche Umgangsformen und Wiesenkunde und Morgennebeltrinken soll sie bei mir lernen, denn in seinen Kreisen sei es nicht gut Aufwachsen für ein junges Schlafmohnkind. Ich hoffe doch sehr, daß ihr euch zu benehmen wißt!“
„Ui!“ tönt es ringsum. Der Brummselkäfer aber, der schon viel gehört und gesehen hat, zieht ein letztes Mal seine Fühler durchs Maul und nuschelt: „Na dann wollen wir das Tausendschönchen mal begrüßen.“
Da knistert es im hohen Gras, und zwei zarte Ärmchen schieben die Halme auseinander, ein Köpfchen streckt sich hervor und blickt mit fröhlichen Augen um sich. „Hallo! Wer seid ihr denn alle? Ich bin Somnifera!“ ruft das hübsche Kind mit leuchtend rosafarbenem, wenn auch zerknitterten Kleid. Lustig fliegen die beiden hellen Zöpfe um ihren Kopf, als Somnifera höflich vor allen Anwesenden knickst. Sprachlos glotzen, blinzeln, gucken oder lugen siebenundsiebzig Augenpaare und noch das von Isafold und dem Brummselkäfer auf das rosenfarbene Wesen. „Jetzt guckt nicht so. Ihr seid nach dem Aufstehen sicher auch ein bißchen verknittert. Ihr seid halt nur schon länger wach als ich,“ und damit gähnt Somnifera ausgiebig. „Du bist...“ heben gleichzeitig Frau Klatschmohn und Isafold an, und der Brummselkäfer ergänzt „... die Nichte vom Herrn Schlafmohn!“ „Ja, die bin ich. Und ich kann euch sagen, dort wo ich herkomme, dort ist es nicht schön. Den ganzen Tag auf einer Plantage in Reih und Glied stehen und wachsen, wachsen, wachsen. Und wenn wir dann endlich fertig sind mit Wachsen, kommen Menschen und quetschen uns aus. Schlimme Dinge tun sie mit unseren Köpfen: Morphin, Codein, Heroin stellen sie aus uns her, und damit tun sie dann schlimme Dinge mit anderen Menschen! Es ist ganz schrecklich!“ Schon treten helle Tränen aus den Äuglein von Somnifera, und sie weint bitterlich.
„Die Menschen! Hab ichs mir doch gleich gedacht. Unglaublich ist das,“ schimpft die uralte Eule, die natürlich noch immer kein Auge zubekommen hat bei diesem Gezirpe, Gekrabbel und Gejammer.
„Wir sollten ihnen eine Lehre erteilen,“ bestimmt der Brummselkäfer energisch. „Dort wo ich herkomme, aus dem weiten Land jenseits des großen Meeres, am Fuße der blauen Berge, bei den Tsalagi, dort gibt es“ „Wer sind denn die Tsalagi?“ unterbricht Isafold ganz ungeduldig, denn hier wird über ein Land jenseits des großen Meeres gesprochen, wo auch sie einst herkam.
„Wo du herkommst, Isafold, von dort aus ist es noch zweimal so weit bis zu jenem Ort, von dem ich erzählen möchte. Die Tsalagi sind ein sehr kluges Menschenvolk, doch leider leben die Klugen oft nicht lange. Bei den anderen, nicht so klugen Menschen nennt man sie auch Cherokee. Jedenfalls“ „Und die schönen blauen Berge? Sind es Lavahügel und Vulkankegel, aus denen heißer Dampf kommt?“ Isafold hüpft vor Aufregung herum. „Unterbrich mich nicht dauernd,“ grummelt der Brummselkäfer. „Es sind keine Lavahügel, und auch keine Vulkankegel. Sie sind älter als die meisten Gebirge auf diesem Erdball, und - wie gesagt - an ihrem Fuß leben die Cherokee oder Tsalagi. Und die,“ und damit funkelt er die arme Islandmohnblume unwillig an, „die haben eine uralte Geschichte. Der Rat der Tiere beschloß dort nämlich eines Tages, die Menschen zu bestrafen, weil sie nicht mehr im Einklang mit der Natur lebten. Jedes Tier übertrug eine Krankheit auf die Menschen, und fortan mußten die Menschen vielerlei erdulden. Die Pflanzen aber, die davon hörten, fanden das doch gar zu arg. Und so beschlossen sie, den Menschen für jede Krankheit ein Heilmittel zu geben. Eine jede Pflanze gerade so, wie sie es konnte. Nur eine Bedingung war daran geknüpft: weise sollten die Menschen sein, weise in der Anwendung der Heilmittel. Denn was gesund machen kann, das kann geradesogut auch krank machen. Allein in der Menge eines jeden Heilmittels der Pflanzen liegt seither die Macht, zu heilen oder zu schaden. Aber ach, die Menschen waren nicht weise. Man sieht es ja an deiner Sippschaft, liebe Somnifera!“ seufzt der Brummselkäfer nach dieser langen Rede, und nicht einmal die neugierige ungeduldige Isafold hat ihn noch einmal unterbrochen.
„Vielleicht sollten wir so etwas auch auf unserer Seite des großen weiten Meeres einführen,“ murmelt schlaftrunken die uralte Eule, bevor sie endgültig ihren Kopf unter den Flügel steckt und behaglich zu schnarchen beginnt.
„Gleich morgen werden wir sie alle zusammentrommeln,“ ruft die vornehme Frau Klatschmohn, denn wer vornehm ist, der hat auch etwas zu sagen. „Au fein,“ zirpt das Islandmohnkind, „dann wird ja doch noch alles gut für dich!“ und nimmt die arme Somnifera in den Arm, so daß ihr rosenfarbenes Kleidchen noch ein bißchen mehr verknitterte. Somnifera reibt sich die Tränen aus den Augen, schluchzt noch einmal, und seufzt dann „ach das wäre schön!“
Da pufft es, und Isafold blinzelt verwundert ringsumher. Ein milchweißer Nebelhauch zieht noch über die Grashalme, die sie umgeben. Darüber aber scheint schon hell und warm die Sonne, und ihre Strahlen funkeln goldgelb, rosenrot und leuchtendrot in den Tautropfen. „Hab ich sooo lange geschlafen?“ fragt sie sich. Und sie erinnert sich an ihren schönen Traum, und daran daß es höchste Zeit sei, den Rat der Tiere und den Rat der Pflanzen einzuberufen, hier im Land diesseits des großen weiten Meeres, gleich hinter dem Gruselwald, am Fuß der Glasberge.
Ich aber, als heimlicher Gast in ihrem Traum, stehle mich leise davon und schwöre mir, daß es allerhöchste Zeit sei, den großen und kleinen Menschen davon zu erzählen.
Marieta Hiller, geschrieben für die Zeitschrift "Märchenzauber" vor langer langer Zeit...