Wird in einem Märchen ein Kind geboren, dann ist es grad wie im richtigen Leben: die Eltern freuen sich - „es ward ihnen ein Kindlein geboren, und sie hüteten es wie ihren Augapfel...“oder aber die arme alleinstehende junge Mutter weiß nicht, wie sie ihr Kind ernähren soll - „und sie weinte bitterlich und flehte die guten Geister um Hilfe an...“.

Ganz schlimm wird es aber, wenn eine mißgünstige böse Fee über das Neugeborene einen üblen Fluch ausspricht: „es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf...“ Manchen Märcheneltern wird aber auch gar kein Kind geboren, und sie sind traurig - „ach, wenn wir doch ein Kindlein hätten...“, bis ihnen ein Frosch, ein Storch, eine gute Fee die frohe Botschaft bringt, daß sie übers Jahr eine Tochter zur Welt bringen werden.

Wer sich über ein Kindlein freut, der pflanzt ihm ein Apfelbäumchen - das ist uralter Brauch schon seit keltischen Zeiten, und auch in unseren Märchen zu finden. Bis zur Taufe darf ein Kind nicht bei seinem Namen genannt werden, denn das bringt Unglück! Böse Feen lauern allüberall, um sich der Seelen Neugeborener zu bemächtigen. Und so sagte man früher im Odenwald liebevoll „Pannestielsche“ (Pfannenstielchen) zu ungetauften Neugeborenen.

Wer das kleine Wesen jedoch nicht durchfüttern kann oder will, der setzt es in einem gepichten Weidenkörbchen auf dem Wasser aus. Hofft die eine Mutter, daß ihr Kind gefunden wird und in ein gutes Zuhause kommen möge, so ist der anderen Wunsch, es möge ertrinken. Müllersleute fischten die Weidenkörbchen dann aus dem Wasser, denn in früheren Zeiten, zu denen ja die Märchen handeln, da standen noch viele Mühlen an den Bächen, und am Mühlwehr führte der Weg für das ausgesetzte Kind nicht weiter als bis zum Mühlrad.

Und wie es sich im Märchen nun mal zuträgt, so wachsen die Kinder bei den Müllersleuten auf, die einen in einem gutbehüteten Elternhaus mit genug zu Essen, warmer Kleidung und einem hübschen Dach über dem Kopf, die anderen aber müssen ihr Lager mit mißgünstigen Stiefmüttern und deren bösartigen Kindern teilen. Immer aber - und das ist das Schöne im Märchen - immer aber begegnen sie, nachdem sie groß und kräftig sind, ihren leiblichen Eltern. Die haben sich oft jahrelang gegrämt und bitterlich bereut, was sie einst getan haben, und so schließen sich alle in die Arme und leben fortan glücklich und zufrieden.

Manch ein Kind verschlägt es auch erst später in die Fremde: Hänsel und Gretel müssen ihre Eltern verlassen, denn sie sind bitterarm und wissen nicht wie sie die beiden ernähren sollen. Und wie gar oft nimmt ein Kind die Beine in die Hand und wandert in den finsteren Wald hinein, weil es die böse Stiefmutter fürchtet! Auch gibt es Kinder, denen die heißgeliebten Eltern wegsterben, die noch eine letzte Blume aufs Grab pflanzen, bevor sie in der Fremde ihr Glück suchen. Und es gibt so viele Dummlinge, Kinder die in ihren Familien überzählig sind. Auch sie ziehen fröhlich fürbaß, um sich in der Welt zu bewähren.

Aus allen aber - und das ist das Tröstliche im Märchen - wird einmal etwas werden. Groß und stark, dabei gerecht und bescheiden, kommen sie eines Tages des Wegs gewandert, werden von ihren alten Eltern staunend in die Arme geschlossen, oder aber ihre einstigen bösen Widersacher erhalten ihre gerechte Strafe.

Marieta Hiller